09.01.2025

Französisches Omelette

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Französisches Omelette

Macron und die verzweifelte Suche nach der Mitte

von Serge Halimi

Castelnaudary, 13. Dezember „Die Zukunft nach Macron“ MARIE HUBERT PSAILA/picture alliance/abaca
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Anlässlich seiner Rede vor dem Conseil d’État (Staatsrat) am 11. September 2024 erinnerte Emmanuel Macron an ein politisches Prinzip: „Das Volk, der Souverän unserer Zeit, artikuliert sich durch Wahlen, die immer zu berücksichtigen sind, weil das die Grundlage jeder Demokratie ist.“ Zwei Monate zuvor war der Präsident bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen – für das Europaparlament und die Nationalversammlung – von den Französinnen und Franzosen massiv abgestraft worden. Wollte er ihnen nun versprechen, er werde seine Lehren daraus ziehen?

Nachdem Macrons Handlanger Michel Barnier nach nur drei Monaten im Amt als Premierminister gescheitert war, ernannte der Präsident am 13. Dezember François Bayrou zum neuen Regierungschef. Bayrou hat mit seiner Partei Mouvement Démo­crate (MoDem) sämtliche Reformen des Präsidenten mitgetragen, auch die so verhasste Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre.

Das Ergebnis: Alles bewegt sich, aber nichts ändert sich. Die Fünfte Republik ist so verfasst, dass auch ein äußerst unpopulärer Präsident – und der aktuelle ist es – zwei Asse in der Hand hat: die Ernennung des Premierministers und die Auflösung der Nationalversammlung. Macron nutzt und missbraucht diese Macht. Er versucht auf diese Weise, die beiden Elemente seiner bisherigen Erfolgsbilanz zu retten, auf die er besonders stolz zu sein scheint: seine neoliberale Angebotspolitik mit Steuersenkungen für Unternehmen und sein Marsch in Richtung eines militarisierten Europas.

Da seine Partei in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr hat, kann er diese Pläne nur weiterverfolgen, wenn es ihm gelingt, entweder die extreme Rechte oder die Mitte-links-Parteien auf seine Seite zu ziehen. Der Köder für die Rechtsextremen sind strengere Sicherheits- und Einwanderungsgesetze und für den Mitte-links-Block das Versprechen einer künftigen Verhältniswahl und der mögliche Verzicht auf Artikel 49 Absatz 3 der französischen Verfassung. Der erlaubt es nämlich, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament durchzubringen – wie es bei der Rentenreform der Fall war.1

Beide Varianten würden es dem Präsidenten ermöglichen, den Zentrumsblock aus Renaissance und Républicains an der Macht zu halten – also die beiden Parteien, die von den Wäh­le­r:in­nen so deutlich abgestraft wurden. Bei der Europawahl waren die Macronisten von 22,4 auf 14,6 Prozent abgerutscht, bei der Parlamentswahl von 246 auf 168 Sitze (von insgesamt 577). Ähnlich erging es den Républicains, die nur noch 46 Sitze innehaben. Bayrous Partei MoDem, die zur Koalition des Präsidenten gehört, stellt 36 Abgeordnete. Zur Vorgeschichte der beiden Parteien gehört ein spezielles demokratisches Kunststück: Zusammen mit den Sozialisten brachten sie es fertig, dass das Parlament einen europäischen Verfassungsvertrag ratifizierte, der fast identisch mit dem Vertrag war, den die Wählerschaft zuvor in einem Referendum abgelehnt hatte.

Mit der Ernennung des Zentristen und Pro-Europäers Bayrou hofft Macron anscheinend auf eine Wieder­auf­erstehung dieses Bündnisses, dessen Wählerschaft bürgerlich, gebildet und fortgeschrittenen Alters ist. Der ehemalige Premierminister Alain Juppé veranschaulichte diese politische Vision 2015 am Beispiel eines Omeletts, dessen Enden man rechts und links abschneiden müsse, damit nur noch die Mitte, also die vernünftigen Leute, übrig und die Extremisten außen vor blieben.2

Da die Mitte des Omeletts in den letzten zehn Jahren immer weniger appetitlich geworden ist, haben die „vernünftigen Leute“ nun Mühe, damit eine parlamentarische Mehrheit zu ernähren. So kommt es zu Misstrauensvoten wie am 3. Dezember, als die Regierung Barnier zum Rücktritt gezwungen wurde. Obwohl der Sturz eines Premierministers durch das Parlament so demokratisch ist wie die Republik selbst, sprach Macron, der keinen Widerspruch erträgt, von einer „antirepublikanischen Front“ gegen ihn.

Als er anschließend im Élysée-Palast alle Parteichefs mit Ausnahme von Jordan Bardella (Rassemblement Na­tio­nal, RN) und Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise, LFI) empfing, lobte er die „Einigkeit der politischen Kräfte, ohne vom Rassemblement National abhängig zu sein“. Dabei hatte eine seiner Regierungen ein paar Monate zuvor mit den Stimmen des RN ein Gesetz gegen Einwanderung verabschiedet. Und er selbst hatte sich bei den Rechtsextremen vergewissert, dass die Regierung Bayrou nicht gleich gestürzt werden würde. Die Brandmauer gegen radikale Parteien ändert ihre Höhe und Form, wie es gerade zur Korrektur von ­Macrons missglückten Manövern taugt.

Macrons Bannstrahl traf das RN, nachdem es den Misstrauensantrag der linken Neuen Volksfront (NFP) unterstützt hatte. Die Rechtspartei werde es nicht wagen, glaubte der „bürgerliche Block“. Doch das tat sie, und die Regierung Barnier stürzte. Das Bündnis der extremen Gegensätze galt sowohl im eher linksliberalen öffentlichen Rundfunk (etwa France Inter) als auch in den Zeitungen des Dassault-Konzerns (wie Le Figaro) sowie in den Sendern der Bolloré-Gruppe (CNews, Europe 1) als Vorzeichen einer politischen, finanziellen und moralischen Katastrophe.

Eine banale Szene versetzte die Gemüter dementsprechend in Aufruhr: Als während der Debatte um das Misstrauensvotum der LFI-Chef Mélenchon auch Marine Le Pen sein Ohr lieh, bauschte BFM TV den Moment zu einem regelrechten Thriller auf und im CNews-Interview nach dem Sturz der Regierung dramatisierte ein Minister der Rechten: „Viele von uns haben noch dieses Bild von Jean-Luc Mélenchon vor Augen, wie er über dem Plenarsaal steht und sein Werk betrachtet.“

Auf France Inter erklärte die Leitartiklerin von Le Monde zum wiederholten Mal, dass es im Grunde ein Verrat an der Demokratie sei, LFI durch die Neue Volksfront den Rücken zu stärken. Es sei zwar kompliziert, sich von dieser Partei loszusagen, aber die So­zia­listen müssten diesen Schritt vollziehen und sich der Mitte anschließen. Das vom RN enttäuschte Figaro Magazine hielt wiederum den Rechtsextremen vor, dass noch nie zuvor eine Regierung ihnen so entgegengekommen sei wie diese – womit es vor allem das Einwanderungsgesetz meinte. Umso mehr bedaure man, dass sich der RN-Vorsitzende „für eine Politik der Eskalation entschieden habe“.3

Dabei waren doch alle vor den Folgen gewarnt worden. Macrons Ex-Premier Élisabeth Borne hatte vor der Abstimmung tatsächlich behauptet: „Wenn der Haushaltsentwurf der Sozialversicherung abgelehnt wird, bedeutet das, dass am 1. Januar Ihre Krankenversicherungskarte nicht mehr funktioniert. Es bedeutet, dass die Renten nicht mehr ausgezahlt werden. Es bedeutet, dass die Beamten schon bald ihr Gehalt nicht mehr bekommen.“ Am 1. Januar funktioniert die Krankenversicherungskarte immer noch, und auch die Renten werden ausgezahlt. Diese Desinformation kann Borne weder Elon Musk noch Russland in die Schuhe schieben. Jetzt ist sie Bildungsministerin in der Regierung Bayrou.

Ein weiterer Anlass zur Panikmache war die drohende Finanzkrise. Doch während französische Kommentatoren den (leichten) Rückgang des Eurokurses dem Sturz der Regierung Barnier zuschrieben, führte das Wall Street Journal dies auf Donald Trumps angekündigte protektionistische Maßnahmen zurück.

Die Parteien der Mitte, die zwischen „Konfrontationskultur“ (schlecht) und „Kompromissbereitschaft“ (gut) zu unterscheiden pflegen, beabsichtigen schon länger, dass die Sozialisten und möglichst auch die Grünen sich mit den LFI-Linken überwerfen und sich den Macronisten annähern. Eine solche Neuaufteilung des parlamentarischen „Omeletts“ würde die Volksfront auseinanderbrechen lassen. Schon jetzt haben die Parteien praktisch ausgeschlossen, dass sie sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl einigen könnten. So verfolgt eine jede ihre eigene Strategie, ohne groß Rücksicht auf die anderen zu nehmen.

Die bisherigen „roten Linien“ des Linksbündnisses werden immer blasser. Der sozialistische Parteichef Olivier Faure ist längst von seinen Forderungen vom letzten Sommer abgerückt. Er ist überzeugt, dass sein Pragmatismus wirksamer ist als die Machtspiele seines (ehemaligen?) Partners LFI: „Wenn wir 30 Prozent unseres Programms durchbekommen, ist das schon gut“, erklärte er am 12. Dezember gegenüber dem Wochenmagazin Nouvel Obs. Offensichtlich sind weder die Rücknahme der Rentenreform noch die Wiedereinführung der Vermögensteuer in seinem knappen Drittel der aufrechterhaltenen Forderungen enthalten.

Bekommen hat er allerdings nichts – im Gegensatz zu Marine Le Pen, der Bayrou den Gefallen tat, den Konkurrenten, der sie bei den Regionalwahlen deutlich geschlagen hatte, nicht zum Justizminister zu ernennen. Es ergibt sich eine paradoxe Situation: Diejenigen der Linken, die versucht sind, sich Macron anzunähern, weil sie seinen Rücktritt verhindern und Chaos vermeiden wollen, gehen auf den Verursacher des Chaos zu, der sie dann auch noch immer wieder zurückweist.

Die Parlamentspräsidentin Yaël Braun-Pivet hat eine Rechnung aufgestellt: „Wenn man diejenigen mit einer gemeinsamen Basis zusammenzählt – Ensemble pour la République, MoDem, Horizons, die Republikanische Rechte, LIOT [eine Gruppe unabhängiger Abgeordneter] und die Sozialisten –, kommt man auf 299 Abgeordnete, also eine Mehrheit.“ Ihre Rechnung schließt die Kommunisten, die Grünen und LFI aus, aber sie entspricht in etwa der Gruppe der französischen Europaabgeordneten, die im Juli Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission wiedergewählt haben.

Die Vierte Republik (1946–1958) wurde einige Jahre von der sogenannten Dritten Kraft regiert, einer Koalition aus Rechtsliberalen, Christdemokraten und Sozialisten unter Ausschluss der kommunistischen und gaullistischen Enden des Omeletts. Diese wenig stabile Koalition war 1947 ein Ergebnis der Westbindung im Kalten Krieg.

Auf sie bezog sich unlängst Jean-Louis Bourlanges, MoDem-Mitglied und ehemaliger Vorsitzender des Parlamentsausschusses für auswärtige Angelegenheiten, als er ein Koalitionsmodell vorschlug, durch das die politische Landschaft neu gestaltet würde. Das Ziel: die „Unterwerfung unter Putin“ zu bekämpfen, zu der sich viele europäische Staaten verleiten ließen.

„Wenn wir Putin gegenüber Nachgiebigkeit zeigen und eine Vertiefung der europäischen Integration ablehnen, kippt das geopolitische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent“, warnte er am 6. Dezember auf France Inter. „Die entscheidende Variable dabei sind die Sozialisten. Sie müssen die richtige Wahl treffen. Sie haben es in der Vergangenheit getan. Sie haben sich auf die Seite des Westens gestellt.“ Aber, so seine Sorge, „ein Teil von ihnen tendiert heute dazu, sich der Haltung von LFI anzuschließen. Wenn aber die Sozialisten auf die falsche Seite kippen, werden wir alle kippen.“

Macron, der sich immer mehr für die Ukraine engagiert, mag hoffen, dass es zu einer Koalition mit den stärksten atlantisch orientierten Sozialisten kommt. Das wird diesmal nicht geschehen, aber eine Vertiefung der europäischen Integration würde nur RN und LFI ausschließen, die an einer Aufrüstung Europas und der Gegnerschaft zu Russland weniger interessiert sein dürften. Eine solche Politik ist vor allem kostspielig angesichts Trumps Plan, die USA aus dem Konflikt abzuziehen, während sie mit ihren Rüstungslieferungen nach Europa weiterhin Profit machen. „Mehr für die Verteidigung auszugeben bedeutet, weniger für andere Prioritäten auszugeben“, stellte Nato-Generalsekretär Mark Rutte bereits fest und verwies insbesondere auf die „Renten-, Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme“.4

Weniger für Renten und Gesundheit ausgeben und mehr für das Militär? Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass es die Ablehnung des Sozialversicherungshaushalts war, die im Dezember – und das zum ersten Mal seit 1962 – zum Sturz der Regierung geführt hat. Sie hat sich nur drei Monate gehalten. Da es François Bayrou bisher nicht gelungen ist, seine Koalition zu erweitern, wird er vielleicht schon im Sommer nicht mehr Premierminister sein.

1 Vgl. Lauréline Fontaine, „Befangene Verfassungsrichter“, LMd, April 2023.

2 Le Point, 1. Januar 2015.

3 Guillaume Roquette, „Le choix du pire“, Le Figaro Magazine, 6. Dezember 2024.

4 Siehe Philippe Jacqué, „Mark Rutte presse les Européens d’accroître leur budget militaire“, Le Monde, 14. Dezember 2024.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Serge Halimi