09.01.2025

Die Fehler der Sinn Féin

zurück

Die Fehler der Sinn Féin

Warum Irlands Links-Progressive bei den letzten Wahlen nicht gewinnen konnten

von Daniel Finn

Dublin Docklands, 2020 ARTUR WIDAK/picture alliance/NurPhoto
Audio: Artikel vorlesen lassen

Im Februar 2015 bejubelte Declan Kear­ney, der Vorsitzende von Sinn Féin, die Regierungsübernahme von Syriza in Griechenland und den Stimmenzuwachs von Podemos in Spanien. Sie seien Ausdruck eines „ideologischen Kampfes, der überall in Westeuropa und Amerika ausgetragen wird und auch die irische Gesellschaft mitreißt“.1

Fünf Jahre später war Syriza schon wieder abgewählt, ohne dass es der Partei gelungen war, die rigiden und verheerenden Sparprogramme in Griechenland zu kippen. Und Podemos musste die Hoffnung begraben, zur dominanten linken Kraft in Spanien zu werden; stattdessen ging sie als Juniorpartner in eine Koalition mit der Sozialistischen Partei (PSOE) von Pedro Sánchez.

Der Sinn Féin dagegen stand ihr größter Wahlerfolg damals noch bevor. Bei den irischen Parlamentswahlen im Februar 2020 wurde sie stärkste Kraft, holte fast ein Viertel der Stimmen und ließ ihre konservativen Rivalen Fianna Fáil und Fine Gael hinter sich. Regieren konnte Sinn Féin trotzdem nicht, weil Fianna Fáil und Fine Gael mit den Grünen koalierten, um genau dies zu verhindern.

2022 und 2023 war Sinn Féin durchgehend die beliebteste Partei in der Republik Irland und lag in den Umfragen im Schnitt bei 33 Prozent. Kurzum: Anders als seine Verbündeten in Griechenland und Spanien schien Sinn Féin im Aufwind.

Doch als am 29. November 2024 gewählt wurde, gewann die Partei zwar zwei Sitze hinzu, holte aber 5,5 Prozentpunkte weniger Erstpräferenzstimmen als 2020.2 Fianna Fáil und ­Fine Gael mussten nur leichte Verluste hinnehmen und können wahrscheinlich mit Unterstützung unabhängiger rechter Abgeordneter eine neue Regierung bilden.

Um zu verstehen, warum Sinn ­Féin so rapide an Rückhalt verloren hat, lohnt ein näherer Blick auf Dublin Central, den Wahlkreis von Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald. Sie wurde in diesem innerstädtischen Wahlkreis mit vier zu vergebenden Sitzen zwar wiedergewählt, allerdings verlor Sinn Féin gegenüber 2020 mehr als 10 Prozentpunkte.

Zu McDonalds Lokalrivalen zählten bei dieser Wahl Paschal Donohoe von Fine Gael und der bekannte Gangsterboss Gerry Hutch, der als parteiloser Kandidat antrat. Donohoe konnte mehr Erstpräferenzstimmen als 2020 verbuchen und wurde ebenfalls wiedergewählt, während Hutch zum Entsetzen der irischen Medien den letzten der vier in diesem Wahlkreis zu vergebenden Sitze nur knapp verfehlte.

Donohoes politische Laufbahn steht sinnbildlich für die Erfolgsgeschichte von Irlands wirtschaftlichem Comeback nach der Wirtschaftskrise von 2008/09, die das politische Establishment im Landes gern erzählt. Hutch hingegen fand bei denen Zuspruch, die das Gefühl haben, außen vor zu bleiben – Sinn Féin fiel es schwer, sich zwischen diesen beiden Narrativen zu positionieren.

In den frühen 2010er Jahren belebte Irland seine Wirtschaft, indem es sich als Steuerparadies attraktiv machte. Der Steuersatz für Unternehmen liegt bei 12,5 Prozent, doch in Wirklichkeit zahlen sie noch weniger. Außerdem ist es Unternehmen erlaubt, Gewinne, die sie in anderen Ländern erzielt haben, in Irland zu versteuern. Dadurch wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – der Gesamtwert der von Irland gemeldeten Produktion – viel schneller als das Bruttonationaleinkommen (BNE): das Einkommen, das von Inländern erwirtschaftet wird.

So entwickelte sich eine Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten. Auf der einen Seite stehen die Manager, die bei den großen internationalen Unternehmen beschäftigt sind, insbesondere in den überdimensionierten Finanzabteilungen; sie sind besonders gut bezahlt und treiben die Immobilienpreise in die Höhe. Auf der anderen Seite stehen Arbeitnehmer:innen, für sie gibt es kein Steuerparadies, für sie gleicht das Leben eher dem irischen Himmel, der zwischen Hell- und Dunkelgrau changiert.

Paschal Donohoe war von 2017 bis 2022 Finanzminister, seit 2022 leitet er das Ministerium für öffentliche Ausgaben und Reformen. Als Vorsitzender der Euro-Gruppe machte er sich eine Zeit lang Hoffnungen, Präsident des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu werden; bis sich im April 2024 die Bulgarin Kristalina Georgiewa eine zweite Amtszeit sicherte.

Steuerparadies unter grauem Himmel

Trotz dieser internationalen Ambitionen fuhr Donohoes Regierung im Streit mit der EU-Kommission über Irlands Körperschaftssteuer einen harten Kurs. 2016 stufte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager die Steuerdeals von Apple mit Irland als rechtswidrige staatliche Beihilfe ein und ordnete an, dass der Konzern 13 Milliarden Euro Steuern nachzahlen muss. Fast zehn Jahre lang kämpften die irischen Behörden gegen diese Entscheidung, bis der Europäische Gerichtshof (EuGH) im September 2024 Vestagers Beschluss bestätigte.

Donohoes Regierung war entschlossen, die EU-Entscheidung so lange wie möglich anzufechten, um die multinationalen Konzerne zu beruhigen. Im Übrigen hatten die irischen Behörden bereits 2015 mit den Capital Allowances for Intangible Assets (Caia) eine juristisch weniger angreifbare neue Regelung geschaffen. Sie ist Unternehmen wie Apple auf den Leib geschneidert und ermöglicht ihnen etwa großzügige Abschreibungsregeln für immaterielle Vermögenswerte.

Das Instrument führte zu einem starken Anstieg der in der Republik Irland versteuerten Gewinne. Die irischen Finanzbehörden nahmen nach eigenen Angaben 2015 knapp 7 Mil­liar­den Euro an Körperschaftssteuer ein; 2023 waren es beinahe 24 Milliarden Euro. Der Wirtschaftswissenschaftler Brian O’Boyle betont im Hinblick auf das EuGH-Urteil: „Eine Schlacht haben Apple und Irland vielleicht verloren, aber im Krieg gegen eine rechtmäßige Besteuerung sind sie nach wie vor auf der Siegerstraße.“3

Nach ihrem Wahlsieg von 2020 ließ Sinn Féin die in Irland ansässigen Multis umgehend wissen, dass sie an deren geschäftlichen Rahmenbedingungen keine drastischen Veränderungen vornehmen würde. Nach mehreren Treffen von Mary Lou McDonald und dem finanzpolitischen Sprecher von Sinn Féin, Pearse Doherty, mit Firmenchefs und Wirtschaftslobbyisten zog ein Teilnehmer eine erste positive Bilanz für Sinn Féin.

Viele in der Wirtschaft hätten sie zunächst für eine „Horde Barbaren“ gehalten. Aber dann habe man erkannt, dass es sich um „vernünftige, pragmatische Realisten“ handele, „die verstanden haben, was die Wirtschaft braucht“.4

Sinn Féin wollte am bisherigen Wirtschaftsmodell festhalten und einen Teil des dadurch generierten Steueraufkommens für Investitionen in den staatlichen Wohnungsbau und das irische Gesundheitssystem nutzen – ein sozialdemokratisches Programm für ein Land, in dem noch nie etwas Vergleichbares versucht wurde.

Der Schauplatz des irischen Steuerkriegs ist das Zentrum von Dublin, denn hier liegen das Hightech-Zentrum „Silicon Docks“ und das International Financial Services Centre (IFSC). Aber hier spielt sich noch ein weiterer Konflikt ab: der Bandenkrieg zwischen den zwei Familienclans der Hutchs und der Kinahans.

Ende 2022 musste Gerry Hutch sich erstmals vor dem Special Criminal Court in Dublin Central verantworten. Ihm wurde die Beteiligung an einem spektakulären Angriff auf Mitglieder der Kinahan-Gang im Regency Hotel im Norden Dublins zur Last gelegt. Die Richter befanden Hutch schließlich für nicht schuldig. Sie sahen zwar als erwiesen an, dass seine Organisation für den Angriff im Regency verantwortlich war, dass Hutch selbst geschossen hatte, blieb aber fraglich.

Zum Zeitpunkt des Prozesses war Hutch in Irland seit Jahrzehnten eine Berühmtheit und den Lesern der Boulevardpresse als „The Monk“ bekannt. Für die irische Polizei war der vielfach verurteilte Straftäter ein Hauptverdächtiger bei zwei der größten bewaffneten Raubüberfälle im Land, auch wenn er für keine der beiden Taten je vor Gericht gestellt wurde.

Ein Gangsterboss als Gegenkandidat

Dieser biografische Hintergrund mag für einen Wahlkandidaten ungewöhnlich sein, zumal wenn er den Einzug ins Parlament nur um wenige hundert Stimmen verfehlt. Allerdings hatte Hutch schon lange vor dem Regency-Prozess mit großem Einsatz an einem positiven Image in Dublins Innenstadtbezirk gearbeitet, wo er zum Beispiel einen Boxclub finanziert.

Nach der Schießerei im Regency geriet die Fehde zwischen den beiden Gangs verstärkt zu einem einseitigen Mordfeldzug. Die Kinahans ließen Killer auf Hutchs Angehörige und Geschäftspartner los, woraufhin Hutch sich und seine Familie als Opfer darstellen konnte.5

Im Zuge seiner PR-Offensive verbreitete Hutch die Botschaft, er habe nichts mit dem Drogenhandel zu tun – im Gegensatz zur Kinahan-Gang, deren Chefs einen großen internationalen Drogenring aufgezogen haben. Ob diese Version der Wahrheit entsprach oder nicht – Hutch inszenierte sie so wirkungsvoll, dass sie zum hilfreichen Sprungbrett für seinen Einstieg in die Politik wurde.

Im Wahlkampf kam ihm außerdem sein Promi-Status zugute: Ein dreiteiliges Interview auf Youtube, das die Kriminalreporterin Nicola Tallant mit Hutch führte, wurde im Vorfeld der Wahlen hunderttausendfach geklickt.

Hutch hatte kein wirkliches Wahlprogramm und seine Anhängerschaft offensichtlich nicht die Erwartung, dass er wie ein herkömmlicher Politiker agieren werde. Hutch bedient sich einer Anti-Establishment-Rhetorik, die auch in Irland immer mehr Menschen anzusprechen scheint. Einer seiner Wähler sagte der Irish Times: „Er hätte den Laden wenigstens ein bisschen aufgemischt und die Dinge mit anderen Augen gesehen.“6

Lange Zeit verstand sich auch Sinn Féin als Anti-Establishment-Partei, was sie bei den ärmeren Teilen der Arbeiterschicht beliebt machte. Doch je mehr die Macht in Reichweite rückte, umso mehr meinte die Parteiführung, sich einen zahmeren Anstrich verleihen zu müssen. Das entstandene Vakuum wurde von anderen gefüllt.

Ende 2022 wurden Zuwanderungen zum zentralen Thema, nachdem Rechtsextreme gegen die Unterbringung von Geflüchteten protestiert hatten. Die Proteste richteten sich besonders gegen Sinn Féin, obwohl sie gar nicht an der Regierung beteiligt war; McDonald und andere führende Ver­tre­te­r wurden als „Verräter“ beschimpft.

Der Wahlausgang im November kam dann nicht wirklich überraschend. Ihr Bemühen, die Kluft zwischen den „zwei Welten“ in Dublin Central zu überwinden, die Lage für die arbeitende Bevölkerung zu verbessern, ohne die internationalen Unternehmen zu verprellen, ist fürs Erste gescheitert. Sinn Féin wird für eine weitere Legislaturperiode Gelegenheit haben, sich auf der Oppositionsbank über die eigene politische Strategie Gedanken zu machen.

1 Declan Kearney, „The tipping point to secure political power for change“, An Phoblacht, 2. Februar 2015.

2 Die Wahl zum irischen Unterhaus (Dáil Éireann) findet nach dem Prinzip der übertragbaren Einzelstimmgebung statt, wobei in den einzelnen Wahlbezirken jeweils mehrere Sitze zu vergeben sind. Erreicht eine Kandidatin oder ein Kandidat aufgrund der Erstpräferenz die für den Parlamentseinzug notwendige Stimmenzahl, werden die überschüssigen Stimmen auf den Kandidaten oder die Kandidatin verteilt, der oder die als Zweitpräferenz angegeben ist.

3 Brian O’Boyle, „Apple lost a tax-dodging battle, but it’s winning the war“, Jacobin, 2. Oktober 2024.

4 Joe Brennan, „Sinn Féin’s high-wire act: courting big business und those ‚left behind‘ “, The Irish Times, 14. April 2023.

5 Conor Gallagher, „Inside the Gerard Hutch PR machine:,Whether it was intentional or not, he did very well at marketing himself’“, The Irish Times, 21. April 2023.

6 Colin Gleeson, „‚Better the devil you know‘: Inner-city Dubliners explain rationale for Gerry Hutch vote“, The Irish Times, 2. Dezember 2024.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin und Autor von „One Man’s Terrorist: A Political History of the IRA“, London (Verso) 2019.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Daniel Finn