09.01.2025

Genozid-Vorwürfe mehren sich

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Genozid-Vorwürfe mehren sich

von Akram Belkaïd

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Die Tage vergehen und das Leid der Menschen in Gaza dauert an, trotz der fortgesetzten Waffenstillstandsverhandlungen in Doha (Katar). Angesichts der methodischen Verwüstung der Enklave und des täglichen Mordens – nach Hamas-Angaben zählt man mittlerweile 45 000 Tote – verwenden zahlreiche internationale Organisationen inzwischen das symbolisch hoch aufgeladene Wort „Völkermord“ oder „Genozid“, um die militärischen Angriffe Israels zu bezeichnen (siehe auch den Artikel von Philippe Descamps auf Seite 7).

Human Rights Watch (HRW) schreibt in einer Presseerklärung zu ihrem neuesten Gaza-Bericht: „Die israelischen Behörden haben gezielt Lebensbedingungen geschaffen, die auf die Zerstörung der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen abzielen, indem sie dieser vorsätzlich den Zugang zu sauberem Wasser verwehrt haben, was höchstwahrscheinlich zu tausenden Todesfällen führte. Damit haben sich die israelischen Behörden des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der Ausrottung sowie der Völkermordhandlungen schuldig gemacht.“1

HRW ruft Regierungen und internationale Organisationen dazu auf, „alle Maßnahmen [zu] ergreifen, um einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern, einschließlich der Einstellung aller Militärhilfen, der Prüfung bilateraler Abkommen und diplomatischer Beziehungen sowie der Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer Bemühungen um Rechenschaftspflicht.“

Wenige Tage zuvor erhob Amnesty International die gleichen Anschuldigungen, untermauert von einem über 300 Seiten starken Bericht.2 In diesem Dokument, das auf Untersuchungen der letzten neun Monate beruht (Gespräche mit Ein­woh­ne­r:in­nen Gazas, Interviews mit Verantwortlichen für die Gesundheitsversorgung, Sichtung von Videos), kommt die Menschenrechtsorganisation zu dem Schluss, dass Israel Gaza mit Absicht verwüstet.

Amnesty zufolge erfüllt die Militär­operation der israelischen Regierung gegen Gaza drei der fünf Tatbestände, die gemäß der Völkermord-Konvention von 1948 verboten sind: „Tötung“, „Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden“ und „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“.

Amnesty stellte zudem fest, dass Israel die juristisch verpflichtenden Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von Ende Januar 2024 nicht zur Kenntnis genommen habe. Nachdem Südafrika die höchste juristische Instanz der Vereinten Na­tio­nen angerufen hatte, ordnete diese eine Reihe von Sicherungs- und Vorsorgemaßnahmen an, die Israel treffen sollte.3

Insgesamt verwenden inzwischen mindestens fünf internationale Organisationen den Begriff „Genozid“ oder verweisen auf „genozidale Handlungen“; dazu zählen auch die Internationale Liga für Menschenrechte (ILMR), Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas, und der UN-Sonderausschuss zur Untersuchung israelischer Praktiken in den besetzten Gebieten.

Auch Ärzte ohne Grenzen (MSF) spricht von „ethnischen Säuberungen“. Die Organisation schreibt von „14 Monaten ständiger Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten, der Zerstörung der essenziellen zivilen Infrastruktur, inklusive der Gesundheitsversorgung, und der systematischen Verweigerung humanitärer Hilfe“. MSF kommt zu dem Schluss, dass die israelische Kriegsführung darauf abziele, „sämtliche Grundlagen gesellschaftlichen Lebens in Gaza zu vernichten“.5

Die israelische Regierung hat all diese Anschuldigungen zurückgewiesen und spricht von „Lügenberichten“ und „Verleumdungen“. Doch selbst der konservative frühere israelische Verteidigungsminister Mosche Jaalon führt ähnliche Worte im Mund: „Der Weg, auf den sie uns führen, ist Besetzung, Annexion und ethnische Säuberung“, sagte er in einem Interview mit dem israelischen Sender DemocratTV am 30. November 2024. ⇥Akram Belkaïd

1 „Israels Verbrechen in Gaza: Ausrottung und Völkermordhandlungen“, Human Rights Watch, 19. Dezember 2024.

2 „‚You Feel Like You Are Subhuman‘: Israel’s Genocide Against Palestinians in Gaza“, Amnesty International, 5. Dezember 2024.

3 Siehe Anne-Cécile Robert, „Südafrika klagt an“, LMd, Februar 2024.

4 „Gaza: Life in a death trap“, Ärzte ohne Grenzen, 19. Dezember 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Akram Belkaïd