09.01.2025

Europa inkompetent, China erfolgreich

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Europa inkompetent, China erfolgreich

Geopolitik aus der Sicht Singapurs

von Kishore Mahbubani

Maja Behrmann, stages, Ausstellungsansicht, 2023, Galaxie neuer Künste, Halle (Saale) Studio kela-mo
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Eine Nachricht vom 10. März 2023 sorgte in politischen Kreisen des Westens für Erstaunen: China hatte Iran und Saudi-Arabien dazu gebracht, ein Abkommen zur Normalisierung ihrer seit 2016 ausgesetzten diplomatischen Beziehungen zu unterzeichnen.

Auch von den etablierten westlichen Medien wurde dieser Coup allgemein als historisches Ereignis gewertet. Die New York Times schrieb, dass das Abkommen „die Diplomatie im Nahen Osten umwälzt und die USA herausfordert“,1 während die Washington Post einräumte: „Nach Jahrzehnten des Versagens der USA in der Region wird China zur dominierenden Macht im Nahen Osten.“2

Einen zweiten diplomatischen Durchbruch erzielte China, indem es 14 palästinensische Gruppierungen, darunter die Fatah und die Hamas, vom 21. bis 23. Juli 2024 zu Verhandlungen in Peking an einen Tisch brachte. Sie unterzeichneten eine Einigung zur Bildung einer „Einheitsregierung“ in Gaza nach Beendigung des Kriegs – ein echtes Kunststück angesichts der großen Differenzen zwischen den rivalisierenden Gruppen.

Die Arabische Liga begrüßte die Nachricht und lobte „die Bemühungen und Initiativen der chinesischen Führung und ihr fortgesetztes Engagement zur Unterstützung der Rechte des palästinensischen Volkes, seiner Einheit sowie seines gerechten und legitimen Kampfes zur Beendigung der israelischen Besatzung und zur Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates“.3

Von europäischen Regierungen mit wenig Einblick wird immer wieder die „Unterstützung“ Pekings für Moskaus Invasion in der Ukraine angeprangert. Tatsächlich zeigen alle seriösen Analysen, dass die chinesische Führung von der militärischen Entscheidung Russlands enttäuscht war, was sie im nicht-öffentlichen Rahmen auch deutlich gemacht hat.

Denn erstens sind kriegsbedingte Instabilität und allgemeines Chaos nicht im Interesse Chinas. Und zweitens hatte Peking angesichts der Spannungen zwischen China und den USA darauf gehofft, dass sich die EU strategisch unabhängig machen würde. Stattdessen hat sie ihre geopolitische Autonomie durch den Krieg in der Ukraine vollständig eingebüßt.

Seit Moskaus Invasion stieg das Handelsvolumen zwischen China und Russland von 142 Mil­liar­den US-Dollar im Jahr 2021 auf 240 Mil­liar­den im Jahr 2023. Noch viel stärker wurde indes der Handel zwischen Russland und Indien angekurbelt, dessen Volumen im selben Zeitraum von 13 auf 65 Milliarden US-Dollar zulegte.4

Außerdem nahmen die russischen Exporte in die Länder des Globalen Südens erheblich zu. Und dass das Erdöl, das Europa Indien abkauft, ursprünglich aus Russland stammt, dürfte inzwischen auch allgemein bekannt sein. Wegen dieser Maskerade spricht der Rest der Welt oft von Heuchelei, wenn China vom Alten Kontinent lautstark kritisiert wird, während er gegenüber anderen Ländern Nachsicht walten lässt.

Die europäischen Regierungen haben große geopolitische Inkompetenz an den Tag gelegt, als sie eines nicht bedachten: 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die keine Sank­tio­nen gegen Russland verhängt haben. Indem die EU China in diesem spezifischen Punkt kritisiert, entfremdet sie sich also von den meisten Ländern der Welt.

Chinas diplomatischer und wirtschaftlicher Einfluss übersteigt mittlerweile den der Europäischen Union, obwohl die Beziehungen der EU zum Globalen Süden deutlich früher geknüpft wurden. Chinas große Initiativen, darunter die Belt and Road Initiative (BRI, auch „Neue Seidenstraße“ genannt) sowie die Gründung der Asiatischen In­fra­struktur-Investitionsbank (AIIB) und der Neuen Entwicklungsbank (NBD) wurden dort mit Begeisterung aufgenommen.

Theoretisch könnte die Europäische Union, die – wirtschaftlich betrachtet – ähnlich bedeutsam wie China ist, ebenso einflussreich sein. Was hindert sie daran, als kluger und besonnener geopolitischer Akteur aufzutreten?

Während die europäischen Mächte im 19. Jahrhundert China problemlos in die Knie zwingen konnten – wie bei der symbolträchtigen Erstürmung des Pekinger Sommerpalastes durch die Briten und Franzosen 1860 –, haben sich die Rollen 165 Jahre später umgekehrt: Europa ist wirtschaftlich zwar immer noch ein Riese, geopolitisch aber unbedeutend geworden.

Anstatt aus den Erfolgen Chinas ihre Lehren zu ziehen, sehen führende europäische Politiker die Volksrepublik als Bedrohung für die Weltwirtschaft und zunehmend auch für den Weltfrieden. Der ehemalige britische Premier Rishi Sunak erklärte am 25. März 2024 auf BBC: „China verhält sich im Ausland immer rigider und im Inland immer autoritärer. Es stellt die größte Herausforderung unserer Zeit sowie die größte staatliche Bedrohung für unsere wirtschaftliche Sicherheit dar.“5

In ihren politischen Leitlinien für den Zeitraum 2024–2029 schreibt die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen: „Die aggressivere Haltung und der unfaire wirtschaftliche Wettbewerb vonseiten Chinas und dessen ‚grenzenlose‘ Freundschaft zu Russland – sowie die Dynamik der Beziehungen zu Europa – zeugen davon, dass statt Zusammenarbeit nun Konkurrenz angesagt ist. Alle Politikbereiche – von Energie über Migration bis hin zum Klima – werden als Waffe eingesetzt. Dies schadet unserer regelbasierten internationalen Ordnung, und unsere globalen Institutionen haben an Wirksamkeit eingebüßt.“6

Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wurde am 7. Juli 2024 auf CBS noch deutlicher: „China ist der Hauptunterstützer von Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine. Die Präsidenten Xi und Putin wollen, dass die Nato und die USA in der Ukraine scheitern, und wenn Putin in der Ukraine gewinnt, wird das nicht nur Präsident Putin ermutigen, sondern auch Präsident Xi begeistern. Das, was heute in der Ukraine geschieht, kann morgen in Asien passieren.“7

Abgesehen von einigen Scharmützeln haben die chinesischen Streitkräfte seit 1979, als es einen kurzen Konflikt mit Vietnam gab, keinen größeren Krieg mehr geführt. Allerdings bestand mehrfach die Gefahr, dass kleinere Zwischenfälle in einen bewaffneten Konflikt – etwa zwischen China und den USA – münden könnten.

Spannungen gab es immer wieder, etwa 1995 und 1996, als US-Präsident Clinton Flugzeugträger in die Straße von Taiwan schickte. Oder 1999, als die US-Luftwaffe die chinesische Botschaft in Belgrad bombardierte und dabei drei chinesische Journalisten tötete. Kritisch war auch eine Situation im April 2001, als ein US-amerikanisches Spionageflugzeug nach einem Zusammenstoß mit einem chinesischen Kampfflugzeug auf der Insel Hainan landen musste.

Jedes Mal war es knapp. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger zitiert in seinem Buch über China einen berühmten Satz des legendären chinesischen Kriegsstrategen Sun Tsu: „In all deinen Schlachten zu kämpfen und zu siegen, ist nicht die größte Leistung. Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“8

Die Frage ist, wie die europäischen Regierungen bezüglich China derart auf Abwege geraten konnten. Die Antwort scheint simpel zu sein: Die Me­dien lügen über China. Diese Behauptung ist umso provokanter, als sich die westliche Presse doch ihrer Ehrlichkeit, Objektivität und Sachlichkeit rühmt.

Eine immer wieder hervorgeholte Dummheit besagt, Präsident Xi Jinping sei hinterlistig und unehrlich gewesen, als er 2015 auf einer Pressekonferenz mit US-Präsident Obama erklärte, China habe „keine Absicht, das Südchinesische Meer zu militarisieren“, um kurz darauf dessen Militarisierung voranzutreiben.

Kein einziges angelsächsisches Medium hat diese Geschichte je infrage gestellt, obwohl sie falsch ist, wie ich in meinem Buch „Has China Won?“ (2020) belegt habe. Die Wahrheit erfuhr ich vom ehemaligen US-Botschafter Stapleton Roy. Er wurde in Nanjing geboren, spricht fließend Mandarin und ist nach wie vor ausgezeichnet über die Beziehungen zwischen den beiden Ländern informiert: „Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Obama am 25. September 2015 machte Xi Jinping einen vernünftigen Vorschlag im Hinblick auf die Situa­tion im Südchinesischen Meer: Er trat für die vollständige und effektive Umsetzung der Erklärung von 2002 über Verhaltensregeln der Parteien im Südchinesischen Meer ein, die von China und den Asean-Staaten unterzeichnet worden war. Und er fügte hinzu, dass China nicht die Absicht habe, die Spratly-Inseln zu militarisieren, wo es massive Baumaßnahmen zur Landgewinnung an den von ihm besetzten Riffen und Untiefen durchgeführt hat.“

Roy zufolge hat Obama die Gelegenheit verpasst, auf diesen sinnvollen Vorschlag einzugehen. Stattdessen intensivierte die US-Marine ihre Meerespatrouillen. China reagierte darauf mit der Militarisierung des betreffenden Seegebiets.

Das heißt natürlich nicht, dass Pekings diplomatische Bilanz makellos wäre. Wie jeder andere Staat hat auch China Fehler begangen, insbesondere im Südchinesischen Meer. So hat es sich ein großes Problem mit der Veröffentlichung einer Karte des Südchinesischen Meers mit der sogenannten Neun-Striche-Linie eingehandelt. Niemand weiß genau, wie diese Linie zu verstehen ist. Viele interpretieren sie so, dass China das gesamte Meeresgebiet innerhalb dieser Umgrenzung für sich beansprucht. Dann dürfte Peking allerdings nicht zulassen, dass ausländische Schiffe dieses Gebiet ungehindert passieren, was jedoch nicht der Fall ist.

Sollten sich andere Länder daran ein Beispiel nehmen und willkürlich Linien durch Meeresgebiete ziehen, die heute als „Hohe See“ gelten und somit für alle frei zu durchfahren sind, würde China zu den größten Verlierern ge­hören. Denn das Land ist mittlerweile die zweitgrößte Seemacht und sein Handel wird weitgehend per Schiff abgewickelt.

Einen weiteren Fehler in Sachen Südchinesisches Meer hat Peking begangen, als es meinte, Druck auf die Asean-Mitglieder ausüben zu müssen, damit diese bei ihrem jährlichen Außenministertreffen im Juli 2012 keine Erklärung zu diesem Thema verabschieden. Sicher hat China auf einige seiner Nachbarstaaten in dieser Frage auf jede erdenkliche Weise eingewirkt. Die englische Sprache unterscheidet allerdings zwischen „assertive“, was in diesem Kontext mit durchsetzungsfähig übersetzt werden könnte, und „aggressive“ (aggressiv).

Im Zuge seines Aufstiegs zur Großmacht hat sich China zunehmend durchsetzungsfähig gezeigt, aber nicht aggressiv. Es hielt sich an Sun Tsus Gebote und versuchte die Oberhand zu gewinnen, ohne Krieg zu führen. Der Welt ginge es besser, würden andere Mächte diesem Beispiel folgen, allen voran die USA und Russland.

Peking weiß genau, dass es seine Strategie an sich ändernde Umstände anpassen muss. Als 1990 Chinas Staatschef Deng Xiaoping sagte, „Wir sollten unsere Fähigkeiten verstecken und auf unsere Zeit warten“, betrug das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein Fünfzehntel desjenigen der Europäischen Union mit damals 12 Staaten.

Heute entspricht Chinas BIP ungefähr dem der EU. China kann sich nicht mehr „verstecken und abwarten“, ist aber auch nicht aggressiv geworden. Die EU sollte von diesem Aufstieg lernen – wobei die Herausforderung für Europa nicht in der Organisation eines Aufstiegs, sondern in der Bewältigung seines Niedergangs besteht.

1 Peter Baker, „Chinese-brokered deal upends mideast diplomacy and challenges U.S.“, The New York Times, 11. März 2023.

2 Yasmeen Abutaleb, John Hudson und Dan Lamothe, „China brokers Iran-Saudi Arabia detente, raising eye­brows in Washington“, The Washington Post, 10. März 2023.

3 „Arab League Welcomes Beijing Declaration to End Division, Enhance Palestinian National Unity“, Kommuniqué der Arabischen Liga, Saudi Press Agency, 24. Juli 2024.

4 Siehe Samrat Choudhury, „Russisches Öl für In­dien“, LMd, Juni 2024.

5 „China is ‚greatest threat to UK’s economic security‘ – Sunak“, BBC, 25. März 2024.

6 Ursula von der Leyen, „Europa hat die Wahl. Politische Leitlinien für die nächste europäische Kommission 2024–2029“, 18. Juli 2024.

7 „Transcript: NATO Secretary General Jens Stoltenberg on ‚Face the Nation‘ “, CBS, 7. Juli 2024.

8 Henry Kissinger, „China. Zwischen Tradition und Herausforderung“, deutsch von Helmut Dierlamm u. a., München (Pantheon) 2019, 3. Aufl., S. 41.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Kishore Mahbubani ist der ehemalige UN-Botschafter Singapurs und Autor von: „Has China Won?“, New York (Public Affairs) 2020.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Kishore Mahbubani