09.01.2025

Kampf um Industrienormen

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Kampf um Industrienormen

von Benjamin Bürbaumer

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Jegliche Infrastruktur verändert den Raum, und zwar nachhaltig. Dies gilt sowohl für physische In­fra­strukturen wie Staudämme und Straßen als auch für ihre weniger sichtbaren Verwandten, die technischen Infrastrukturen.

Technische Normen und Vorschriften sorgen für reibungslose internationale Geschäfte und helfen, den grenzüberschreitenden Handel zu steuern. In Deutschland werden sie vom Deutschen Institut für Normung (DIN) erarbeitet, in Europa unter der Schirmherrschaft des Europäischen Komitees für Normung (CEN). Auf internationaler Ebene sind es die Internationale Organisation für Normung (ISO), die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) und die Internationale Fernmeldeunion (ITU).

In einer Wirtschaft, die in globalen Wertschöpfungsketten organisiert ist, können die marktführenden Unternehmen durch das Festlegen von Normen Einfluss auf ihre Zulieferer nehmen. „Wer die Norm macht, hat den Markt“, bemerkte dazu bereits Werner von Siemens im 19. Jahrhundert. Der weltweite Erfolg seines Unternehmens gab dem Großindustriellen recht. Dasselbe gilt heute für China, das in seinem 13. Fünfjahresplan von 2016 erstmals seinen Führungsanspruch bei der Erarbeitung internationaler Normen formuliert hat.

Um zu verstehen, welche Bedeutung die Normierung hat, muss zunächst eines klargestellt werden: Eine Ware ist nicht von Natur aus handelbar. Jeder zum Verkauf bestimmte Gegenstand muss von den Marktteilnehmern erst einmal identifizierbar und qualifizierbar gemacht werden. Genau dies geschieht durch die technische Norm. Sie definiert die Kriterien, die ein Gegenstand für seine Vermarktung erfüllen muss, und trägt so zur Vertrauensbildung zwischen den Marktteilnehmern bei.

Wie die technische Infrastruktur in einem bestimmten Gebiet beschaffen ist, wird durch die Gesamtheit der dort geltenden technischen Normen und Vorschriften bestimmt. Unternehmen müssen diese Normen und Vorschriften bereits bei der Entwicklung ihrer Produkte berücksichtigen.

Die Marktführer entwickeln ihre Produkte nicht nur entsprechend den Normen, sie versuchen auch, diese Normen so mitzugestalten, dass sie möglichst gut zu ihren Produkten passen. So beginnt der Wettbewerb nicht erst bei der Markteinführung, sondern bereits im Vorfeld, wenn Firmen an Standardisierungsprozessen mitwirken. Will ein Unternehmen eine Norm durchsetzen, ist Verhandlungsgeschick in den Normierungsorganisationen gefragt. Ob ein Unternehmen seine Ziele erreichen kann, hängt von seinen finanziellen Mitteln und von den technischen Fähigkeiten seiner Ex­per­t:in­nen ab.

Ähnlich wichtig ist, welche Kontrolle ein Hersteller über den ­Entwurfsprozess hat, ob er etwa den Normantrag eingereicht oder gar den Vorsitz im zuständigen technischen Ausschuss der Normierungsorganisation innehat.

Wer zu spät einsteigt oder sich nicht am Prozess beteiligt, trägt die Folgen: Er muss unter Umständen sein Produktdesign überarbeiten, die Kosten für die Anpassung tragen, schlimmstenfalls sogar einen Markt aufgeben. Umgekehrt verschafft sich jedes Unternehmen, das frühzeitig auf den Inhalt einer Norm einwirken kann, womöglich einen maßgeschneiderten Marktzugang und somit einen enormen Wettbewerbsvorteil. Das erklärt, warum multinationale Unternehmen dieses Feld so aktiv beackern.

Zwar hat jedes Land eine eigene Normierungsorganisation. Die internationalen Organisationen werden aber immer wichtiger – vor allem die ISO als größte unter ihnen; und die Globalisierung potenziert die Wirkung von Wettbewerbsvorteilen. Daher schreitet die Entwicklung neuer internationaler Normen rapide voran.1 In der Vergangenheit haben Vertreter von Großunternehmen aus einem kleinen Kreis westlicher Länder – namentlich aus Deutschland, den USA, Frankreich und Großbritannien – die meisten technischen Ausschüsse der ISO geleitet und so entscheidenden Einfluss auf die Ausarbeitung von Normen ausgeübt.

China hat diese Normen im Zuge seiner Integration in die Weltwirtschaft zumindest bis Mitte der 2000er Jahre weitgehend übernommen.2 Während die genannten vier westlichen Länder 2004 noch 60 Prozent der technischen Ausschüsse und Unterausschüsse der ISO geleitet hatten, sank dieser Anteil bis 2019 auf 52 Prozent.3 Gleichzeitig stieg Chinas Anteil von 1 auf über 10 Prozent.4 Ein ähnlicher Trend ist bei der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC) zu beobachten.

Die wachsende Bedeutung Chinas zeigt sich übrigens nicht nur in der Leitung von Ausschüssen, sondern auch in der Arbeit der technischen Ausschüsse. China bringt sich dort heute aktiver ein als jedes andere Land. Normungsgremien zu nutzen, um Technologien chinesischen Ursprungs weltweit zum Standard zu machen, entspricht den Vorgaben des 13. Fünfjahresplans. In den Programmen „Made in China 2025“ und „China Standards 2035“ wurde diese Agenda im Detail ausgearbeitet.

China leitet bezeichnenderweise nicht nur einige der bestehenden Ausschüsse, sondern arbeitet vor allem auf die Einrichtung neuer Ausschüsse im Bereich der Spitzentechnologien hin. Pekings Ziele sind im 2017 veröffentlichten „Entwicklungsplan für künstliche Intelligenz“ nachzulesen, den die chinesische Regierung gemeinsam mit chinesischen Tech-Giganten verfasst hat.

Demnach strebt Peking an, bis 2030 weltweit die Führungsrolle bei der Normierung von Zukunftstechnologien zu übernehmen. Entscheidenden Einfluss übt China etwa auf den Telekommunikationssektor aus. So wurden 35 Prozent der Dokumente in der 5G-Arbeits­gruppe der ISO von chinesischen Ex­per­t:in­nen eingereicht, während europäische beziehungsweise US-Unternehmen 32 beziehungsweise 16 Prozent beigesteuert haben.5

Dabei ist es den chinesischen Playern und insbesondere Huawei – ebenso wie einigen ihrer US-amerikanischen, europäischen und japanischen Konkurrenten – gelungen, die Nutzung ihrer eigenen Patente in die 5G-Normen aufzunehmen. Die Unternehmen beeinflussen also nicht nur den Marktzugang zu ihren Gunsten, sondern erzielen auf diese Weise zusätzlich Patenteinnahmen.

Die internationalen Gremien sind aber nicht das einzige Instrument, das China zur Verbreitung seiner technischen Normen über das eigene Staatsgebiet hinaus einsetzt. Peking verfolgt die Doppelstrategie, einerseits die internationalen Normen nach den chinesischen Interessen zu formen und andererseits diese Normen zu umgehen, wenn sie ihnen nicht passen.

So werden etwa die mehr als 150 Partnerländer der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI) zur Übernahme chinesischer Normen gedrängt. Mit 52 Staaten und Regionen hat China bereits Normungsvereinbarungen getroffen.6 Die Internationalisierung der chinesischen Normen schreitet auch durch die Macht des Faktischen voran. So tragen die tausende Eisenbahnkilometer, die im Rahmen der Neuen Seidenstraße weltweit verlegt wurden und werden, zur Verbreitung chinesischer Standards im Eisenbahnsektor bei.

Sind diese Normen einmal durchgesetzt, schaffen sie dauerhafte Abhängigkeiten. Man denke nur an die Wartungs- oder Modernisierungsarbeiten an Infrastrukturen, die nach chinesischen Spezifikationen gebaut wurden: Potenzielle Ersatzteilhersteller, die diese Normen nicht einhalten, sind von vornherein ausgeschlossen.

So dienen Peking die Normen zur Marktabschottung – und nicht selten auch dazu, politische Allianzen zu schmieden. Denn welche Regierung kann sich einen Konflikt mit der Macht leisten, die das Umfeld für einen Aufschwung des eigenen Handels schaffen kann?

Obwohl China in den letzten 15 Jahren deutlich an Einfluss gewonnen hat, haben die Vereinigten Staaten und ihre westeuropäischen Partner die technische Infrastruktur der Welt noch immer fest im Griff. Peking setzt darauf, eine neue Infrastruktur zu schaffen, die sich der Kontrolle der USA entzieht. Bei den neuen Technologien, die schon ihrer Neuartigkeit wegen weniger von der westlichen Allianz beherrscht werden, hat China bereits eine zentrale Posi­tion inne.

Beim Blick auf die Neuen Seidenstraße sollte deshalb die Frage der politischen Kontrolle über den interna­tio­nalen Handel nicht außer Acht gelassen werden. Denn für die chinesischen Entscheider ist sie von zentraler Bedeutung.⇥Benjamin Bürbaumer

1 „TNC competitiveness in the formation of the single market: The role of European business revisited“, in: New Political Economy, Nr. 26, Bd. 4, 2021.

2 You-hong Yang, Ping Gao und Haimei Zhou, „Understanding the evolution of China’s standardization policy system“, in: Telecommunications Policy, Nr. 47, Bd. 2, März 2023.

3 „L’économie politique de l’accès technique au marché: Le cas du TAFTA“, in: Revue de la régulation, Bd. 30, Paris, 2021.

4 Daniel Fuchs und Sarah Eaton, „Diffusion of Practice: The curious case of the sino-german technical standardisation partnership“, in: New Political Economy, Nr. 27, Bd. 6, 2022.

5 Tim Nicholas Rühlig und Tobias ten Brink, „The externalization of China’s technical standardization approach“, in: Development and Change, Nr. 52, Bd. 5, 2021.

6 Tim Rühlig, „Chinese influence through technical standardization power“, in: Journal of Contemporary China, Nr. 32, Bd. 139, 2023.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Benjamin Bürbaumer ist Autor des Buches „Chine/États-Unis, le capitalisme contre la mondialisation“ (La Découverte) 2024, dem dieser Text entnommen ist.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Benjamin Bürbaumer