Recht versus Rache
von Razmig Keucheyan

Berlin, 15. März 1921. Der Mann mit dem Spazierstock sackt plötzlich zusammen. Der andere, der ihm von seiner Wohnung in Charlottenburg aus gefolgt war, hat ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Er lässt die Pistole fallen und will fliehen, wird aber von Passanten gestellt.
Der Täter ist Soghomon Tehlirian, 24 Jahre alt. Der Niedergeschossene ist Mehmet Talât alias Talât Pascha, bis 1917 Innenminister, dann Großwesir des Osmanischen Reichs – und Chefplaner des Genozids an den Armeniern, der 1915 begann. Talât Pascha und andere Mitglieder der jungtürkischen Regierung, die im Ersten Weltkrieg mit Deutschland verbündet war, hatten nach der Niederlage in Berlin Zuflucht gefunden.
Schon zehn Wochen später, am 2. Juni 1921 beginnt der Prozess gegen Tehlirian. Hatte der seine Tat vorab geplant? Der Attentäter hat 85 Mitglieder seiner erweiterten Familie verloren. Er leidet an einer psychischen Störung. Er sagt, der Leichnam seiner Mutter habe ihm befohlen, Talât zu töten.

Der Tyrannenmord ist zugleich Teil einer präzise geplanten Unternehmung der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF). Die „Operation Nemesis“, benannt nach der griechischen Rachegöttin, hat zum Ziel, die für den Genozid Verantwortlichen zu liquidieren; einen nach dem anderen, vorneweg die „Nummer eins“, Talât Pascha.
Zwei Jahre zuvor hatte Tehlirian einen armenischen Spitzel getötet, der den osmanischen Behörden Listen der zu verhaftenden Armenier übergeben hatte.
Vor Gericht treten reihenweise Zeugen auf, die zugunsten von Tehlirian aussagen, darunter der Theologe Johannes Lepsius, Autor des ersten Berichts über den Völkermord an den Armeniern. Der Angeklagte und seine Unterstützer erreichen ihr Ziel: Der Prozess wird zu einem Fanal gegen die Jungtürken und den Massenmord am armenischen Volk.
In der deutschen Presse wird Tehlirian mit Wilhelm Tell verglichen, dem legendären Schweizer Freiheitshelden, der 1307 mit seiner Armbrust den Habsburger Landvogt seiner Heimat Uri erschossen haben soll. Das Schwurgericht spricht Tehlirian mit der Begründung frei, zum Zeitpunkt der Tat sei seine Willensfreiheit wegen des Massakers an seiner Familie eingeschränkt gewesen.
Racheakte werden im politischen Denken der Moderne im Allgemeinen negativ bewertet. Thomas Hobbes rechnet sie in seinem staatstheoretischen Werk „Leviathan“ von 1651 der vorgesellschaftlichen Daseinsform zu, in der „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ sei, die Individuen also Selbstjustiz üben. Wird dieser Zustand verlassen, geht laut Hobbes die Bestrafung – das Urteil und seine Vollstreckung – auf den Leviathan über: den Staat und seinen Justizapparat.
Fortan verliert die „Selbstjustiz“ ihre Legitimität. Schon das Wort ist eine contradictio in adjecto, denn die Gerechtigkeit ist ihrer Definition nach öffentlich. Dennoch hat diese Form der privaten Rechtsdurchsetzung in allen Gesellschaften überlebt, bis in unser modernes Zeitalter.
Die gesamte zeitgenössische Moralphilosophie setzt den Gegensatz zwischen rechtmäßiger Strafe und Rache voraus. Der Rechtsphilosoph Robert Nozick sieht den entscheidenden Unterschied zwischen Rache und richterlicher Strafe darin, dass Letztere unpersönlich sei: Sie wird nicht von dem vollzogen, dem Unrecht getan wurde.
Erst das macht es möglich, dass die Reaktion auf das Unrecht frei von Emotionen ist, dass sie vielmehr proportional und universal ausfällt. Dass also das Ausmaß der Rache das erlittene Unrecht nicht übertrifft und dass das Urteil allgemeine Gültigkeit hat, also dem Prinzip „gleiche Strafe für gleiches Unrecht“ entspricht.
Doch zwischen Rache und Strafe tut sich eine riesige Grauzone auf. Steht das Strafmaß immer in einem angemessenen Verhältnis zur Tat? Spielen Gefühle bei einem Urteil nie eine Rolle?
Der Soziologe Didier Fassin äußert die Vermutung, dass die Unterscheidung zwischen Rache und Strafe eine ideologische Funktion erfüllt: Sie erhebt die „Zivilisierten“, deren Verhalten vom Recht bestimmt ist, über die „Barbaren“, die vormoderne Normen befolgen.1
Damit die Strafe an die Stelle der Rache tritt, braucht es einen Justizapparat, unterhalten von einem Staat, der den Vollzug der Strafe sicherstellt. Das aber ist in der modernen Welt nicht immer gegeben. Darauf verweist Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963), in dem sie auch auf den Tehlirian-Prozess eingeht.
Adolf Eichmann wurde, nachdem der Mossad ihn in Argentinien aufgespürt hatte, im zwölf Jahre zuvor gegründeten Staat Israel vor Gericht gestellt und verurteilt. Im Fall des armenischen Genozids bestand diese Möglichkeit nicht. Zum Zeitpunkt der Ermordung von Talât Pascha war Armenien Teil der Sowjetunion. Im konkreten Fall stellt sich also die Frage, ob die Voraussetzungen gegeben waren, um Gerechtigkeit – statt des Racheprinzips – walten zu lassen.
Arendt verweist auf diese Frage auch, um die politische Strategie Tehlirians und seiner Hintermänner zu erklären, die den Prozess zur Bühne für die armenische Sache machen wollten. Mittels eines Gerichtsverfahrens auf die öffentliche Meinung einzuwirken, ist eine Taktik, die im 20. Jahrhundert auch von anderen unterdrückten Minderheiten angewandt wurde, jedenfalls in den wenigen Fällen, da totgeschwiegene Verbrechen vor einem Gericht zur Sprache kamen.
In dieser Hinsicht ist der Fall Talât durchaus einzigartig. Denn auf Druck der siegreichen Entente-Mächte wurde dem Großwesir, zusammen mit vier seiner Minister, 1919 vor einem osmanischen Gericht wegen der Massaker der Prozess gemacht. Talât Pascha und die anderen wurden in Abwesenheit zum Tod verurteilt.
So gesehen hat Tehlirian lediglich ein gerichtlich verhängtes Urteil vollstreckt. Aber das war für seinen Berliner Freispruch unerheblich; auch die öffentliche Beurteilung seiner Tat wäre seinerzeit nicht anders ausgefallen, hätte man Talât in seinem Land nicht zum Tode verurteilt.
Im Übrigen lässt sich auch ein Staat, der über ein Justizsystem verfügt, nicht davon abhalten, auf das Prinzip Rache zu setzen, wie es etwa die politische Führung Israels mit den „außergerichtlichen Hinrichtungen“ ihrer Feinde tut.
Historisch hat es nur wenig Fälle von Racheakten im Gefolge eines Genozids gegeben. Tatsächlich läuft das Opfer Gefahr, wenn es „außergerichtlich“ agiert, sich dem Täter anzuverwandeln und damit seinen Opferstatus ganz oder teilweise einzubüßen.
Im Fall der Judenvernichtung durch die Nazis oder des Völkermords an den Tutsi in Ruanda hat die Justiz einige der Schuldigen verhaftet und verurteilt. Auch wenn die verschiedenen Gerichtsverfahren nicht immer perfekt rechtsstaatlich abliefen, vermittelten sie den Opfern dennoch das Gefühl, dass ihr Leiden irgendwie anerkannt wurde. In anderen Fällen, so auch beim armenischen Genozid, hat sich der Leviathan um die Opfer wenig geschert.
Welchen politischen Nutzen kann sich der Rächer versprechen? Mit der Ausschaltung derer, die für ein Massenverbrechen verantwortlich sind, sollen manchmal weitere Verbrechen verhindert werden. Das war eines der Ziele der „Operation Nemesis“. Doch auch damit war nicht zu verhindern, dass der Genozid in den 1920er Jahren „zu Ende gebracht“ wurde. Und auch nicht, dass hundert Jahre später die armenische Bevölkerung von Bergkarabach Opfer einer „ethnischen Säuberung“ wurde, die Aserbaidschan mit türkischer Unterstützung vollzog.
Eine weitere Funktion von Rache kann darin bestehen, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. „Die Gewalt des Kolonisierten […] eint das Volk“, lautet ein viel diskutierter Satz von Frantz Fanon.2 Der Rächer signalisiert mit seiner Tat, dass die Massenmörder mit ihrem Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen, gescheitert sind. In diesem Sinne hat einer der Nemesis-Organisatoren angeregt, Tehlirian solle nach seiner Tat den Fuß auf die Leiche Talât Paschas setzen und sich in dieser Pose verhaften lassen.
Soghomon Tehlirian wird seit 1921 von armenischen Gemeinden in aller Welt als Held gefeiert. Als einer, der mit seiner Tat bezeugt hat, dass sein Volk nicht in den Tod gehen wird. Im März 2024, über ein Jahrhundert nach dem Berliner Attentat, wurde in Marseille eine Tehlirian-Büste enthüllt; bei der Feier waren neben Repräsentanten der armenischen Gemeinde mehrere Bürgermeister, Abgeordnete und Senatoren anwesend.
Frantz Fanon hat allerdings auch geschrieben: „Der Hass kann nicht als Programm herhalten.“ Gerechtigkeit erfordere auch eine Aussicht auf Frieden und Versöhnung, beides sei durch Rache nicht zu erreichen.
Die Affäre Tehlirian war auch von zentraler Bedeutung für die Überlegungen des jüdisch-polnischen Juristen Raphael Lemkin, der 1944 den Begriff „Genozid“ prägte. Schon der Student Lemkin stellte seinem Professor anlässlich des Berliner Prozesses gegen Tehlirian die Frage: „Warum ist der Mord an Millionen Menschen ein geringeres Verbrechen als der an einem einzelnen?“3
Lemkin konnte sich mit zwei Dingen nicht abfinden: Zum einen, dass eine Person allein die Bürde auf sich genommen hat, für Gerechtigkeit zu sorgen; zum anderen, dass das deutsche Gericht befunden habe, dass er unzurechnungsfähig, also für seine Tat nicht verantwortlich sei. Für ihn war Tehlirian voll und ganz verantwortlich, mehr als irgendwer und mehr als die internationale Gemeinschaft. Denn die habe sich als unzurechnungsfähig erwiesen, indem sie es zuließ, dass sich Menschen, die so schwere Verbrechen begangen hatten, der Justiz entziehen konnten.
Gleichwohl durfte es für Lemkin keine Selbstjustiz geben. Deshalb kam er auf die Idee, eine Konzeption zu entwickeln, die das Dilemma des Berliner Prozesses aufzulösen vermochte. Mit dem Begriff Genozid wollte er eine der „unausgesprochenen Normen“ kodifizieren, auf die sich Tehlirian bei seiner Tat hätte berufen können.4 Lemkin sah seine Aufgabe darin, solche Normen auszuformulieren und in der Rechtspraxis anzuwenden.
Wo stehen wir ein Jahrhundert nach der Affäre Tehlirian? Im Fall Gaza findet die Einschätzung, dass Israels Zerstörungsstrategie als Völkermord einzustufen sei, immer mehr Zustimmung. Und wenn sich der „Pulverdampf des Krieges“ einmal verzogen hat, werden die Historiker noch sehr viel mehr Beweise finden, die diese Einschätzung stützen.
Der Internationale Strafgerichtshofs (IStGH) hat am 21. November 2024 Haftbefehle gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu und dessen ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant erlassen. Der IStGH befand, es gebe „hinreichende Gründe“ für die Annahme, dass diese „die strafrechtliche Verantwortung für folgende Handlungen tragen, die sie als Mittäter zusammen mit anderen begangen haben: das Kriegsverbrechen des Aushungerns als Mittel der Kriegsführung und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen“.5
Wie hätte sich Tehlirian zu den Haftbefehlen des IStGH verhalten? Hätte er seine Tat begangen, wenn es damals bereits einen Internationalen Strafgerichtshof gegeben hätte? Die Entscheidung des IStGH dient unter anderem einem der Ziele, auf die politische Racheakte aus sind: dass Kriegsverbrechen zumindest von einem Teil der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannt werden.
Tatsächlich haben die Haftbefehle aus Den Haag einiges bewirkt, und das selbst in Ländern, die Israel bis dahin bedingungslos unterstützt haben. In Deutschland zum Beispiel wird jetzt selbst in überregionalen Leitmedien die Forderung laut, das Bekenntnis zur Existenz Israels von der Unterstützung für die Netanjahu-Regierung abzukoppeln.
Um die rechtliche Anerkennung von Verbrechen geht es auch im – anders gelagerten – Fall Syrien. Schon vor dem Sturz von Assad ermittelte das in Berlin ansässige Syrische Zentrum für juristische Studien und Forschung gegen die Folterer des Regimes, von denen sich einige nach Europa abgesetzt haben. Ziel der unabhängigen Juristenkommission ist es, die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ans Licht und die Täter vor Gericht zu bringen.
Da der IStGH jedoch nicht über eigene Polizeikräfte verfügt, werden die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant sicher nie vollstreckt werden. Der israelische Regierungschef wird sich lediglich bei Auslandsreisen vorsehen müssen – wie es zum Beispiel auch für Wladimir Putin oder den ehemaligen sudanesischen Diktator Omar al-Bashir gilt.
Lemkins Ziel einer internationalen Rechtsordnung, die von möglichen Racheakten abhält, hat sich bis heute nicht erfüllt. Es wäre an der Zeit, das wölfische Prinzip der Selbstjustiz hinter uns zu lassen.
1 Didier Fassin, „Der Wille zum Strafen“, Berlin (Suhrkamp) 2018.
2 Frantz Fanon, „Die Verdammten dieser Erde“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2015.
3 Siehe Lemkins Autobiografie: „Ohne Auftrag“, Eschenlohe (Buxus Stiftung) 2020.
5 „Situation in the State of Palestine“, Pressemitteilung des IStGH, 21. November 2024.
Aus dem Französischen von Christian Hansen
Ramzig Keucheyan ist Soziologe an der Universität Paris-Cité.