13.02.2025

Südkorea – Anatomie eines Putschversuchs

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Südkorea – Anatomie eines Putschversuchs

Südkoreas Demokratie sei stabil, hieß es nach der Rücknahme des Kriegsrechts und der Verhaftung von Präsident Yoon am 15. Januar. Doch nach und nach zeigt sich, dass die Aktion von langer Hand und einer großen Gruppe geplant war. Sogar ein militärischer Konflikt mit Nordkorea wurde anscheinend in Kauf genommen.

von Renaud Lambert

Seoul, 25. Januar: Metallarbeitergewerkschaft gegen Yoon CHRIS JUNG/picture alliance/nurphoto
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Seoul am 3. Dezember 2024. Der Präsident verlässt plötzlich und ohne Erklärung die Sitzung des Ministerrats. Warum er das tut, wird den meisten Regierungsmitgliedern erst klar, als sie hören, wie Yoon Suk Yeol im Nebenraum eine Fernsehansprache hält, in der er das Kriegsrecht ausruft. Seit Gründung der Republik Korea im August 1948 ist das 17-mal geschehen. Aber dieses Mal war der Spuk schneller zu Ende als je zuvor.

In der Gedankenwelt von Yoon war die Sache klar: Wenn eine von der Opposition dominierte Nationalversammlung sich dem Präsidenten widersetzt, etwa den Haushaltsplan der Regierung ablehnt, verhöhnt sie den Wählerwillen und missachtet die Verfassung.

Es scherte den Präsidenten nicht, dass auch die Abgeordneten gewählt sind und die Opposition ihre Macht in der Nationalversammlung vornehmlich der Tatsache verdankt, dass der Präsident in der Bevölkerung verhasst ist. In Yoons Welt kuscht das Parlament, oder es wird gefeuert.

Es ist eine Logik, die auch für andere Staatschefs – nicht nur in Asien – verlockend klingen könnte: Der konservative Präsident schimpfte über die „Diktatur der Legislative“, orchestriert von der Opposition, die den Staat angeblich lähme. Er sprach von „einer Rebellion, die die demokratische Ordnung mit Füßen tritt“ und „den legitimen, auf Verfassung und Gesetz gegründeten Institutionen im Wege steht“.

Südkorea befindet sich nach dem Waffenstillstand von 1953 formal immer noch im Krieg mit Nordkorea. Zweifellos hält Yoon die widerspenstigen Abgeordneten für kommunistische Agenten, die versuchen, „unser liberales demokratisches System zu stürzen“, um das Land dem Feind auszuliefern. Tatsächlich steht die stärkste Kraft im Parlament – die Demokratische Partei des Miteinanders (Deo-Minju) – so weit rechts, dass europäische konservative Kräfte im Vergleich dazu als geradezu linksradikal durchgehen würden. Die Deo-Minju hat noch immer die Interessen der herrschenden Klasse vertreten.

In Yoons Welt kuscht das Parlament oder es wird gefeuert

Da Yoon die Demokratie für bedroht hielt, beschloss er, sie abzuschaffen. Er rief also am 3. Dezember das Kriegsrecht aus, „um die Republik Korea vor der Bedrohung durch nordkoreanische kommunistische Kräfte zu schützen, um die skrupellosen pronordkoreanischen antistaatlichen Kräfte, die die Freiheit und das Glück unseres Volkes zerstören, unverzüglich zu vernichten und die verfassungsmäßige Ordnung der Freiheit zu schützen“.

Seit der Revision der südkoreanischen Verfassung von 1987 hat die Nationalversammlung das Recht, die Verhängung des Kriegsrechts durch ihr Veto zu verhindern. Damit wollte man den Rückfall in Militärdiktaturen unterbinden, die die ersten Jahrzehnte der Republik geprägt haben.

Um ein solches Veto der Abgeordneten zu verhindern, wurde das Parlamentsgebäude unmittelbar nach Yoons Regierungserklärung von einigen hundert Soldaten gestürmt, die auch die Räume der Wahlkommission besetzten. Der Präsident war – ähnlich wie Donald Trump – der Überzeugung, dass die Niederlage seiner Partei bei den Parlamentswahlen im April 2024 durch einen – natürlich von Nordkorea inszenierten – Wahlbetrug zustande gekommen sei. Und er setzte darauf, dass die Soldaten einen Beweis dafür finden würden.

Es war Pech für Yoon, dass sich Teile der Bevölkerung noch sehr gut an die Kämpfe gegen die Diktatoren erinnern, die das Land vom Ende der japanischen Okkupation 1945 bis 1987 fast ununterbrochen regiert haben. Viele haben noch den 17. Mai 1980 erlebt, als Diktator Chun Doo Hwan (1980–1988) zum letzten Mal das Kriegsrecht verhängte. Damals war ein Aufstand der Bevölkerung in der Stadt Gwangju von der Armee und mit Unterstützung der USA niedergeschlagen worden. Die offizielle Bilanz geht von 160 Toten aus, in Wahrheit waren es wohl mehr. Viele kamen in Umerziehungslager, in denen sie Chuns Folterknechten ausgeliefert waren. Die meisten galten als Kriminelle mit kommunistischen Neigungen.

Daran erinnerten sich die älteren Demonstrierenden, als sie zum Parlament zogen, um den Abgeordneten der

Opposition zu helfen, in das Gebäude zu gelangen, bevor sie von Soldaten daran gehindert wurden. Aber es schlossen sich auch viele Jüngere an, die nach dem demokratischen Übergang von 1987 geboren sind und an die koreanische Demokratie glauben, in der die finsteren Jahre ein für alle Mal Vergangenheit sind.

Angesichts der ständig wachsenden Menschenmenge waren die Soldaten vor dem Parlament verunsichert. Währenddessen stimmten im belagerten Gebäude die Abgeordneten einhellig für die Aufhebung des Kriegsrechts. Wenige Tage später beschlossen sie die Amtsenthebung des Möchtegern-Diktators.

Die Medien lieben Geschichten, die gut enden. Der britische Economist feierte die „Resilienz“ der südkoreanischen Demokratie1 , und das Wall Street Journal befand in seinem Leitartikel vom 3. Dezember, Südkorea habe „den größten Test seit Jahrzehnten bestanden“.2 Das Kriegsrecht war aufgehoben, damit war ja alles in Ordnung. Das Land blieb weiterhin „champion of democracy for the world“, wie US-Außenminister Antony Blinken das Land noch im März 2024 beim dritten „Summit of Democracy“ in Seoul genannt hatte.

Doch dann kam im Zuge der parlamentarischen Untersuchung nach und nach eine andere Geschichte zum Vorschein. Aus Dokumenten, die die Demokratische Partei am 10. Dezember 2024 veröffentlichte, ging Folgendes hervor: Der Verteidigungsminister Kim Yong Hyun habe, als er seinem Präsidenten die Verhängung des Kriegsrechts vorschlug, gleich die passende Rechtfertigung mitgeplant. Er habe „einen militärischen Konflikt mit Nordkorea vom Zaun brechen“ und die Ab­schuss­orte der von Norden nach Süden geschickten Müllballons angreifen wollen.3

Erhärtet wurde diese Informa­tion, als Notizen seines Vertrauten Noh Sang Won, des ehemaligen Chef des militärischen Geheimdienstes, zum Vorschein kamen.

Auf der Halbinsel war bereits allgemein bekannt, dass südkoreanische Drohnen mehrfach Pjöngjang überflogen hatten; nicht unmittelbar vor Yoons versuchtem Staatsstreich, sondern fast zwei Monate zuvor, im Oktober, und zwar dreimal innerhalb einer Woche. Die südkoreanische Regierung hatte diese Aktivitäten einer antikommunistischen Organisation zugeschrieben, die seit Langem immer wieder Ballons mit Propagandaflugblättern in den Norden schickt.

Diese Gruppe hätte nur ihre Methoden geändert, erklärte man in ­Seoul und erweckte den Eindruck, dass die Regierung solche Aktionen missbillige. Sehr überzeugend war das nicht.

Am 20. Oktober fragte der Nordkorea-Spezialist Kim Jong Dae in der Zeitung Hankyoreh: „Welche private Gruppe könnte eine Operation mit Fluggeräten in großer Höhe über Pjöngjang durchführen, ohne dass das süd­ko­rea­nische Militär das Überfliegen der strengstens überwachten Militärischen Demarkationslinie duldet oder sogar aktiv lenkt?“ Für Kim stand fest, „dass eine neue Form hybrider Kriegsführung gegen Nordkorea begonnen hat, bei der die Regierung nicht selbst agiert, sondern es privaten Gruppen überlässt, stellvertretend zu operieren“.4

Fünf Tage nach dem gescheiterten Staatsstreich brach in der Kommandozentrale, die die Drohnenoperationen von Südkorea aus überwacht, am 8. Dezember ein Feuer aus. Die Armee behauptete, das Feuer sei durch einen Stromschlag ausgelöst, die Opposi­tion dagegen äußerte den Verdacht, das Verteidigungsminister habe versucht, Beweise im Zusammenhang mit den Drohnen über Pjöngjang im Oktober zu zerstören.

Es mehren sich die Indizien, dass der Eindruck von Hektik und Improvisation, den die Bilder eines verstörten (vielleicht sogar angetrunkenen) Präsidenten und von Soldaten, die nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, hervorgerufen hatte, allmählich korrigiert werden muss. Es sieht viel eher so aus, als hätten die Putschisten ihr Vorgehen schon seit mehreren Monaten geplant.

Womöglich hatten die Demokraten gar nicht unrecht, als sie die Regierungspartei PPP (Macht der Staatsbürger) schon im September 2024 fragten, wieso der Präsident mit Kim Yong Hyun einen Verteidigungsminister ernannt habe, der politisch zum rechten Rand der ohnehin stramm rechten PPP gehört. „Bereitet Sie die Ausrufung des Kriegsrechts vor?“, hatte Lee Jae ­Myung, der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Anfang September in der Nationalversammlung gefragt und damit große Empörung bei der Regierungspartei ausgelöst.5

Geheimdienstler in nordkoreanischer Uniform

Weit gravierender ist, dass inzwischen deutlich wurde, wie bedenkenlos Yoon und seine Vertrauten offenbar bereit waren, einen Konflikt mit der Atommacht Nordkorea zu provozieren. In diesem Zusammenhang ist übrigens interessant, wie Seoul im Oktober 2024 auf die Meldungen reagiert hat, dass nordkoreanische Truppen an der Front in der Ukraine im Einsatz seien. Die Information kam vom ukrainischen Geheimdienst und war von der Presse in Kyjiw verbreitet worden. Der südkoreanische Verteidigungsminister Kim Yong Hyun bestätigte die ersten Meldungen mit auffälliger Eile. Womöglich passte sie ausgezeichnet in seinen Plan, die nordkoreanische Bedrohung zu beschwören, um das Kriegsrecht ausrufen zu können.

Im Oktober hatte sich Pjöngjang trotz der Drohnenflüge nicht provozieren lassen, sondern „strategische Geduld“ an den Tag gelegt. So sieht es Stephen Cho von der World Anti-Imperialist Platform (WAP): „Als südkoreanische Drohnen mehrfach in den Luftraum über Pjöngjang eingedrungen sind, um Flugblätter abzuwerfen, hat die Demokratische Volksrepublik Korea lediglich mit einer Warnung reagiert.“ Damit habe Pjöngjang den Putschisten den gewünschten Vorwand einer angeblichen nordkoreanischen Aggression genommen. Diese hätten, so Cho, für die Begründung des ­Kriegsrechts neue Ideen entwickeln müssen, und das habe sie unvorsichtig gemacht.

Am 19. Dezember berichtete der demokratische Abgeordnete Kim Byung Joo, ein ehemaliger Viersternegeneral, vor der Nationalversammlung über Informationen, die er über die Pläne der HID (Headquarter intelligence detachment) erhalten hatte. Diese Spe­zial­einheit ist für die Infiltration in Nordkorea ausgebildet, im Konfliktfall soll sie die dortige Führung beseitigen. Mitglieder des HID sollen am Abend des Staatsstreichs bereitgestanden haben, um Abgeordnete, die Widerstand ­leisten sollten, zu verhaften oder zu ­töten.6

Der Journalist Kim Eo Jun hatte bereits am 13. Dezember berichtet, dass ihm Zeugenaussagen vorlägen, wonach die Putschisten planten, mehrere führende Politiker (namentlich wurde der PPP-Vorsitzende Han Dong Hoon genannt) durch Mitglieder von Spezialkräften in nordkoreanischen Uniformen umbringen zu lassen. Also eine Operation unter falscher Flagge.

Am Tag vor der Aussage des Abgeordneten Kim Byung Joo, also am 18. Dezember, war bereits in der Presse zu lesen gewesen, dass eine Einheit der südkoreanischen Armee 200 Uniformen bestellt habe, die wie nordkoreanische aussahen. Kim Byung Joo sah den „Zusammenhang mit dem Kriegsrecht bestätigt“.7

Dieses Szenario wirft natürlich die Frage auf, warum Yoon entschlossen war, mit dem nuklearen Feuer zu spielen, von dem der nordkoreanische Führer Kim Jong Un wiederholt erklärt hat, er werde es ohne Zögern einsetzen, wenn sein Land bedroht sei.

Yoon Suk Yeol, der im März 2022 mit äußerst knapper Mehrheit die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, repräsentiert den äußersten rechten Flügel der PPP. Außerhalb ultrarechter Kreise wurde er schon vor dem Putschversuch allgemein verachtet. Nach einer Gallup-Umfrage vom 8. November 2024 waren nur 17 Prozent der Wahlbevölkerung mit seiner Präsidentschaft zufrieden.

Angesichts der geopolitischen Kalamität des Landes, das ökonomisch von China abhängig, aber militärisch ein Mündel der USA ist, war der Präsident außenpolitisch voll auf Washington orientiert, während er innenpolitisch darauf aus war, die Profite der Jaebeol, der koreanischen Großkonzerne, zulasten der Bevölkerung weiter zu steigern.

Bislang hatten alle Regierungen – quer durch das politische Spektrum – eine Politik verfolgt, die Arbeiter und Angestellte, dauerhaft und prekär Beschäftigte, Junge und Alte gegeneinander ausspielte. Yoon hat es dagegen geschafft, praktisch die gesamte Bevölkerung geschlossen gegen sich aufzubringen, indem er die zulässige Wochenarbeitszeit von 52 auf 69 Stunden erhöhen wollte – wobei die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden in Südkorea ohnehin zu den höchsten unter allen Industrieländern gehört.8

Als die Gewerkschaften ihren Widerstand ankündigten, warf ihnen der Präsident vor, das Festhalten an etablierten Arbeiterrechten sei „eine Form von Plünderung“, die den jungen Leuten „die Hoffnung nehme“.

Das ging sogar der eher konservativen Gewerkschaft Federation of Korean Trade Unions (FKTU) zu weit. Im Juni 2023 erklärte sie der „arbeiterfeindlichen“ Regierung Yoons den Krieg.9 Auch der Ärzteverband stimmte in den Chor der Unzufriedenen ein, als der Präsident ankündigte, die Zulassungszahlen für das Medizinstudium zu erhöhen, ohne die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem zu verbessern. Seit Februar 2024 beteiligten sich 90 Prozent der südkoreanischen Ärz­t:in­nen an Streikaktionen.10

Yoon hatte im Wahlkampf 2022 gegen einen „überzogenen“ Feminismus gewettert – und das in einem Land mit extrem patriarchalischen Strukturen und Gebräuchen. Kaum gewählt, setzte er sein Versprechen um, das Ministerium für Gleichstellung von Mann und Frau und für Familie abzuschaffen. Mit der Begründung, es gebe in Korea „keinerlei strukturelle Geschlechterdiskriminierung“, wurden auch die Erwähnung von Frauen und der Begriff „geschlechtliche Gleichstellung“ aus den Texten aller neuen Gesetze entfernt. Zudem wurden die Staatsgelder für den Kampf gegen sexualisierte Gewalt gestrichen.

Unter den Demonstrierenden, die zwei Jahre später die Amtsenthebung Yoons forderten, machten Frauen zwischen 20 und 40 Jahren ein Drittel aus. Die antifeministische Politik des Präsidenten habe sie schon immer erbost, meinte eine Teilnehmerin, aber „als er das Kriegsrecht ausrief, habe ich mir gesagt, jetzt ist Schluss“.11

Noch verhasster als Yoon ist seine Frau. Kim Keon Hee steht unter mehrfacher Anklage: wegen Steuerbetrug, Insiderhandel, Rechtsbeugung und Bestechung bei der Nominierung von PPP-Parlamentskandidaten. Sie wäre vielleicht schon im Gefängnis, hätte nicht ihr Mann, der früher Staatsanwalt war, die Gerichte und die Nationalversammlung an der Strafverfolgung gehindert.

Yoon ist auch in seiner eigenen Partei isoliert, weil ein wachsender Teil erkennt, dass der Untergang des Präsidenten sie alle gefährdet. Auf die traditionelle antikommunistische Indoktrinierung der Bevölkerung bauend, stellte er seine Gegner stets als Unterstützer Pjöngjangs dar.12

Und mit Hilfe des 1948 vom Diktator Rhee Syngman erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit war es ihm möglich, alle einzuschüchtern, zu verfolgen und auch zu verhaften, die er in die Nähe Nordkoreas rückte. Zum Beispiel ließ er im August 2024 die Räume der Partei der Volksdemokratie besetzen; den Parteikadern wurde – ohne irgendwelche Beweise – strafrechtliche Verfolgung angedroht. Selbst nach diesem Vorfall wartete man vergebens auf einen Aufschrei in westlichen Me­dien, die sich ansonsten gern als große Freunde der Demokratie gerieren.

Zur Groteske wurde Yoons Kampagne allerdings, als Lee Jae Myung, der Vorsitzende der Demokratischen Partei und unerschütterliche Unterstützer der Jaebeol-Konzerne, ebenfalls mit dem Vorwurf behelligt wurde, er habe Geld in den Norden verschoben.

Mit seiner Strategie ist der Präsident nun krachend gescheitert. Sein Verfassungsputsch endete mit einem Amtsenthebungsverfahren und strafrechtlicher Verfolgung. Er, der Staatschef eines Landes, dessen wirtschaftliches Modell durch den Konflikt zwischen den USA und China bedroht ist, hat sich selbst diskreditiert. Nachdem die Opposition aus den Parlamentswahlen im April 2024 gestärkt hervorgegangen war, suchte Yoon sein Heil in einem übersteigerten Autoritarismus, selbst um den Preis eines ­Konflikts mit dem Nachbarn im Norden.

Das ist schiefgegangen, aber ist es auch das Ende der Geschichte? Vielleicht doch nicht ganz. Die Armeen Südkoreas und der USA sind historisch enge Verbündete im Konflikt mit Nordkorea. In strategischer Hinsicht ist der Süden eher eine Kolonie der USA als ein souveräner Staat. Auf seinem Territorium befindet sich die größte Militärbasis der USA im Ausland, dazu ein Kontingent von fast 30 000 US-Soldaten. Die südkoreanischen Streitkräfte werden von US-Beratern ausgebildet und koordiniert. Zweifellos unterliegen sie auch der geheimdienstlichen Aufsicht des großen Alliierten, der im Fall eines offenen Konflikts automatisch die Kontrolle übernimmt.

Bei diesen Machtverhältnissen ist es kaum vorstellbar, dass man in Washington nichts von der „Opera­tion Kriegsrecht“ wusste, die mindestens seit Juli vorbereitet wurde. Das heißt aber nicht gleich zwingend, dass die USA grünes Licht für das Vorgehen des Präsidenten gegeben haben. In dem oben zitierten Artikel im Wall Street Journal wird angedeutet, dass die Bi­den-­­Regierung „Yoon nachdrücklich auf die Gefahren der Erklärung, die er abgeben wollte, hingewiesen habe“.

Allerdings muss man es zumindest erstaunlich finden, dass man in Washington außerstande gewesen sein soll, die Regierung eines bis dahin ausgesprochen folgsamen Verbündeten zu bremsen. Doch zweifellos hat die Entwicklung in Seoul in Washington erhebliche Unruhe ausgelöst.

Am 14. Dezember stimmte das südkoreanische Parlament im zweiten Anlauf dem Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon mit der nötigen Zweidrittelmehrheit zu. Am 31. Dezember erfolgte sogar ein gerichtlicher Haftbefehl gegen den suspendierten Präsidenten, weil dieser den Vorladungen der Staatsanwaltschaft nicht Folge geleistet hatte.

Der Vollzug des Haftbefehls wurde zwar ausgesetzt, aber die Rückkehr der Demokratischen Partei an die Macht scheint unaufhaltsam. Das ist für die USA eine sehr schlechte Nachricht, denn Yoon galt in Washington als wichtiger strategischer Partner. Die Unterzeichnung eines trilateralen Militär­abkommens mit Japan und Südkorea im August 2023 wurde dort als großer Erfolg gefeiert. Der aber wäre ohne Yoon Suk Yeol nicht möglich gewesen, schrieb die Financial Times: „Der treue Anhänger der USA hat die Annäherung an Japan vollzogen und gegenüber China und Nordkorea eine militantere Position bezogen als seine linken Vor­gänger.“13

Tatsächlich verfolgt Lee Jae Myung, Vorsitzender und Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei, eine gemäßigte Linie gegenüber Nord­korea – ganz im Sinne der südkoreanischen Jaebeol, die von den gut ausgebildeten, billigen und Koreanisch sprechenden Arbeitskräften des Nordens träumen. Bereits zuvor hatte er bekundet, dass er die „Japan-Politik“ seines Vorgängers infrage stellen will. Das wäre ein schmerzhafter Rückschlag für die USA.

„Washington könnte keinen besseren Verbündeten und Partner verlangen als die Yoon-Regierung“, urteilt die Asien-Expertin Kim Duyeon. Die USA hätten mit Yoon einen „Schlüsselpartner“ verloren, dessen persönliche Überzeugungen „mit den Werten und Einstellungen übereinstimmen, die Washington zu regionalen und globalen Problemen hat, insbesondere gegenüber autoritären Staaten“.14

Damit stellt sich die interessante Frage, ob den Vereinigten Staaten eine Rettungsaktion für Yoon die Tolerierung des Kriegsrechts in Südkorea wert war. In der Vergangenheit wurde eine derartige Frage mehrmals mit „ja“ beantwortet. Aber das muss nicht heißen, dass es auch diesmal so war.

Für Song Dae Han vom International Strategy Center in Seoul ist die Reaktion der USA „selten lasch“ ausgefallen. Tatsächlich hat sich Außenminister Blinken erst am 6. Januar 2025 geäußert. Auf die Frage nach dem Staatsstreich begnügte er sich mit der Antwort: „Die von Präsident Yoon ergriffenen Maßnahmen werfen in unseren Augen schwerwiegende Fragen auf.“ Man hat eine US-Regierung schon entschlossener erlebt.

Mutmaßliche Mitwisser in Washington

Bleibt die Frage, ob tatsächlich ein Konflikt mit Nordkorea drohte. Da die Koreanische Halbinsel zu den am meisten überwachten Regionen der Welt gehört, haben die USA die südkoreanischen Drohnen über Nordkorea im Oktober zweifellos registriert. Und da die Drohnen in kurzen Abständen dreimal eingesetzt wurden, liegt der Schluss nahe, dass die Amerikaner dieser Provokation gegen Nordkorea zumindest nicht widersprochen haben.

Nach Einschätzung von Song Dae Han ist den meisten westlichen Beobachtern nicht klar, wie maßvoll und vernünftig Pjöngjang sich außenpolitisch im Ernstfall verhält. „Tatsächlich konnte man sich durchaus vorstellen, dass Nordkorea reagiert, allerdings ohne atomare Sprengköpfe nach Seoul zu schicken. Dass man also einen begrenzten Krieg einkalkuliert hat.“

Der südkoreanische Experte sieht ein mögliches Motiv für diese riskante Taktik Seouls: „Man will China, das einen Beistandsvertrag mit Nordkorea geschlossen hat, in militärische Verwicklungen hineinziehen, um es zu schwächen.“

Was Präsident Yoon betrifft, so bleibt er im Amt, solange das Verfassungsgericht seine Absetzung durch die Nationalversammlung nicht bestätigt hat. Seine Anhänger haben sich um seine Residenz versammelt und zeigen ihre Auffassung von nationaler Souveränität, indem sie US-Fahnen schwenken und Washington bitten, den gerechten Kampf ihres Helden gegen Pjöngjang und die Kommunistische Partei Chinas zu unterstützen.

Yoon wiederum veröffentlichte am 1. Januar einen offenen Brief. Er begann mit den Worten: „Liebe patriotische Bürger, die ihr die Freiheit und die Demokratie liebt, ich verfolge eure wunderbare Arbeit auf Youtube.“ Weiter schreibt er von „staatsfeindlichen Kräften, die im Auftrag Pjöngjangs versuchen, unsere Souveränität zu untergraben“. Am Ende gelobt der Präsident, dem wegen des versuchen Umsturzes die Todesstrafe droht: „Ich werde bis zum Ende kämpfen, um mit euch dieses Land zu schützen.“

Die „Yoon-Clique“ geht also wieder in die Offensive, unterstützt von den mächtigen Medien der extremen Rechten, vor allem in den sozialen Netzwerken. Ministerpräsident Han Duck Soo, der nach dem Absetzungsbeschluss der Nationalversammlung gegen Yoon zum Interimspräsidenten ernannt worden war, hat den Prozess gegen den Präsidenten nach Kräften gebremst und die Justiz behindert. Daraufhin hat die Nationalversammlung auch ihn am 27. Dezember 2024 abgesetzt. An seine Stelle trat der frühere Wirtschafts- und Finanzminister Choi Sang Mok, der die Obstruktionstaktik seines Vorgängers fortsetzt.

Ihren früheren Vorsitzenden Han Dong Hoon, der als zu nachgiebig galt, hat die PPP durch Kweon Seong Dong ersetzt, der seinen Anhängern auf X erklärt: „Wir müssen ein dickes Fell haben und durchhalten.“15

Ganz auf der Linie ihres traditionellen Antikommunismus fordert die Präsidentenpartei nunmehr, das Verfassungsgericht zu „stürzen“, weil dessen Entscheidung, die Verhandlung über die Absetzung von Yoon zu beginnen, „politisch motiviert“ sei. Verrückt? Nach einer Umfrage von Anfang Ja­nuar ist die Zustimmungsrate für den Putschisten Yoon wieder auf 40 Prozent gestiegen, nachdem sie gleich nach dem Putschversuch auf 11 Prozent abgestürzt war.16

Yoon hat sich dreimal geweigert, der Vorladung der Justiz Folge zu leisten. Am 3. Januar stieß eine kleine Gruppe von Polizisten, die ihn festnehmen sollten, auf eine Truppe von etwa 200 Bewaffneten des präsidialen Sicherheitsdienstes. Dieser großzügig finanzierte Dienst, ebenfalls ein Erbe der Chun-Diktatur, agiert de facto als Privat­armee des Präsidenten. „Wenn die Justiz beschließt, Gewerkschaftsräume zu durchsuchen, schickt sie hunderte bewaffnete Polizisten. Und hier kommt sie so schüchtern daher, dass sich die Anhänger Yoons ­er­mutigt ­fühlen müssen“, spottet Song Dae Han vom International Strategy Center.

Die geradezu inzestuöse Verflechtung der Eliten, die in Südkorea groteske Dimensionen angenommen hat, ist nicht dazu angetan, die Justiz zu ermuntern, einen Mächtigen genauso zu behandeln wie einen gewöhnlichen Gewerkschafter.

Aber es gibt noch einen weiteren Faktor. Viele befürchten, die Armee, die bislang stillgehalten hat, könnte sich der extremen Rechten anschließen, die ihre Reihen fest um Yoon geschlossen hat. Es ist also durchaus möglich, dass erneut das Kriegsrecht verhängt wird, bevor das Verfassungsgericht sein Urteil gefällt hat.

Derweil gehen die Demonstrationen in den Straßen von Seoul weiter. Unter dem Druck dieser ständigen Proteste wurde Yoon schließlich am 15. Januar festgenommen. Dabei beteuerte er inmitten einer Armee von Anwälten seine Unschuld mit den Worten: „Das Ausrufen des Kriegsrechts ist kein Verbrechen, es ist das Recht des Präsidenten.“17 Trotzdem: Dieser Präsident befindet sich seit dem 19. Januar in Untersuchungshaft. Das politische Kräftemessen ist offensichtlich in vollem Gange.

Zeugen die Ereignisse seit dem 3. Dezember tatsächlich von der Reife der südkoreanischen Demokratie, wie viele hoffen? Hier ist Skepsis angebracht. Es könnte sein, dass sie eher von den umfassenden Fehlentwicklungen in einem Land zeugen, das sich seit 1953 immer noch im Krieg befindet und das weitgehend den strategischen Prioritäten Washingtons unterworfen ist. Ein Land, wo ein wahnhafter Anti­kommunismus weiterhin eine Rolle spielt, die mit den Anforderungen der Demokratie nicht vereinbar ist.

Vielleicht haben sich in dieser Krise viel eher nur die Risse im Lack des sogenannten koreanischen Wunders bemerkbar gemacht.

1 Wi Sung-lac, „South Korea’s crisis highlights both fragility and resilience“, The Economist, London, 11. Dezember 2024.

2 „ A brief martial law in South Korea “, The Wall Street Journal, New York, 3. Dezember 2024.

3 Kwon Hyuk-chul, „Ex-defense chief suspected of plotting war with North Korea to justify martial law“, Hankyoreh, Seoul, 10. Dezember 2024.

4 Kim Jong-dae, „What the drones over Pyongyang real­ly signify“, Hankyoreh, 20. Oktober 2024.

5 Cho Mung-kyu, Han Dong-hoon, „Lee Jae-myung muss Beweise für das Kriegsrecht vorlegen … oder er rüttelt an den Grundfesten des Landes“ (auf Koreanisch), The JoonAng, Seoul, 2. September 2024.

6 „We need to reveal martial law plot that even mobilizes HID agents“, The Kyunghyang Shinmun, Seoul, 23. Dezember 2024.

7 „Ein Geheimdienstunternehmen bestellt im Juli 200 Uniformen der Volksarmee. Kim Byung-joo: ‚Die Verbindung zum Kriegsrecht ist offensichtlich‘ “(auf Koreanisch), 18. Dezember 2024, ohmynews.com.

8 OECD-Statistik „hours worked“ (2022).

9 No Kyung-min, „What’s really driving Yoon’s war on unions?“, The Korea Herald, Seoul, 12. Juni 2023.

10 „Explainer: Why are South Korean trainee doctors on strike“, Reuters, 21. Februar 2024.

11 Lee Hae-rin, „Where were young men in impeachment rallies?“, The Korea Times, Seoul, 17. Dezember 2024.

12 Siehe Renaud Lambert „Südkoreanische Szenen“, LMd, Juli 2023.

13 „South Korean upheaval rattles US plan to counter China“, Financial Times, 11. Dezember 2024.

14 Zitiert nach: Choe Sang-hun, „Impeachment in ­South Korea has cost Washington a staunch ally“, The New York Times, 16. Dezember 2024.

15 „South Korea’s insurrection isn’t over yet“, Han­kyo­reh, 27. Dezember 2024.

16 Siehe Jung Min-ho, „Why is Yoon’s approval rating rebounding?“, The Korea Times, Seoul, 6. Januar 2025.

17 Siehe Christian Davies und Song Jung-a, „South Korea’s President Yoon Suk Yeol arrested after stand-off with police“, Financial Times, 15. Januar 2025.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 13.02.2025, von Renaud Lambert