Syrien – Souveränität ohne Gewähr
Wie geht es nach dem Sturz des Assad-Regimes weiter? Die neuen De-facto-Herrscher haben eine neue Verfassung angekündigt und auch freie Wahlen – allerdings erst in vier Jahren. Ob die Bevölkerung ihre Zukunft selbst bestimmen kann, hängt aber auch von den ausländischen Mächten ab, die im neuen Syrien mitmischen.
von Akram Belkaïd
Gelobt sei Gott, der Tyrann ist abgehauen!“ Das Gerücht verbreitete sich in der Nacht zum 8. Dezember über die sozialen Netzwerke in den arabischen Ländern, noch bevor die Information in Syrien offiziell bestätigt worden war. Präsident Baschar al-Assad hatte das Land mit unbekanntem Ziel verlassen. Wie sich herausstellte, war er nach Moskau geflohen.
Kurze Zeit wurde die Euphorie noch durch Vorsicht und Skepsis gebremst, obwohl bereits Bilder zirkulierten, die den triumphalen Einzug von Kämpfern der Syrischen Nationalen Armee (SNA) in die Vororte der Hauptstadt zeigten. Neben Hai’at Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung der Levante, HTS) war die SNA der Hauptakteur beim Sturz von Assad. Die Ungewissheit war bald vorbei: Nach 24 Jahren erbarmungsloser Herrschaft war Baschar al-Assad – Nachfolger seines Vaters Hafis, Präsident von 1971 bis 2000 – ganz unerwartet getürmt.
Um die möglichen geopolitischen Auswirkungen von Assads Sturz zu ermessen, muss man sich die Gründe für den Zusammenbruch des Regimes vor Augen führen, der ein neues Kapitel in der bewegten Geschichte des Nahen Ostens einleitet. Wobei das letzte Kapitel bestimmt war von dem Gemetzel und dem Zerstörungsfeldzug der israelischen Armee in Gaza und im Libanon, von den Niederlagen von Hisbollah und Hamas und vom israelisch-iranischen Schlagabtausch mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Aber auch von einem Faktor wie dem im November erlassenen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinen früheren Verteidigungsminister Joav Galant wegen der in Gaza begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Zerfall eines durch und durch korrupten Regimes
Ein Hauptgrund für Assads Sturz ist der seit langem andauernde Verfall der Staatlichkeit Syriens. Nachdem der Ex-Präsident den Volksaufstand von 2011 blutig niedergeschlagen hatte, musste er die Souveränität über sein Land großenteils an ausländische Mächte abtreten: an Alliierte wie Russland, Iran und die Hisbollah oder an Rivalen und Gegner wie die USA, die Türkei und Israel.1 Auch parastaatliche Kräfte kontrollierten seitdem große Gebiete: die Kurden im Norden, der IS im Osten und die dschihadistische Koalition in der Enklave Idlib im Nordwesten.
Die Schwächung des Staats bedeutete auch die unaufhörliche Erosion des syrischen Verwaltungs- und Militärapparats. Die Korruption war immer und überall. Selbst für banalste Alltagsdinge wie die Einschulung eines Kindes war Schmiergeld fällig. Schlecht bezahlte Offiziere betrieben Schwarzmarktgeschäfte, verscherbelten sogar ihre Ausrüstung und das Benzin für die Militärfahrzeuge. Die Korruption bedeutete eine nachhaltige Schwächung der Staatsmacht, die der Bevölkerung auch kein einigendes Projekt mehr anzubieten hatte – außer der rein hypothetischen Wiedergewinnung des gesamten nationalen Territoriums.
Als im Frühjahr 2011 im Gefolge der Revolutionen in Tunesien und Ägypten auch in Syrien eine friedliche Protestbewegung entstand, hätte Assad einen anderen Weg gehen können, doch er wählte die Gewalt. Der Bürgerkrieg forderte eine halbe Million Tote, trieb 6 Millionen Menschen ins Exil und machte weitere 7 Millionen zu Binnenflüchtlingen (bei einer Bevölkerung von 23 Millionen).
Im Grunde hatte Assad schon am 30. März 2011 in einer Rede vor dem Parlament die kommende Gewaltwelle und das Chaos angekündigt. Er drohte den „ Unruhestiftern“ und beschwor eine „Verschwörung“ des Auslands – unter dem Applaus der Abgeordneten, die „ihr Blut und ihre Seele“ zu opfern schworen, um „den geliebten Baschar“ zu retten (also nicht das Land).
Zusätzlich ausgehöhlt wurde das Assad-Regime durch die Vetternwirtschaft, die Plünderung öffentlicher Güter durch den Klüngel um den Präsidenten, die Aneignung von Hab und Gut der Geflüchteten, die Erpressung und Nötigung zur Denunziation durch Funktionäre oder Geheimdienstler. Zudem war Assad, anders als man weithin
glaubte, durch seine Unterwerfung unter Russland und Iran intern nicht etwa gestärkt, sondern geschwächt. So musste er sich ehrgeiziger Familienmitglieder erwehren, etwa seines jüngeren Bruders Maher oder seiner Cousins mütterlicherseits aus dem sehr reichen Machluf-Clan.
Schon zu Beginn der 1990er Jahre hatte Assads Vater Hafis in Syrien rund ein Dutzend nicht unbedingt koordinierter Sicherheitsdienste aufgebaut. 30 Jahre später waren es doppelt so viele. Und jede Fraktion, jeder „starke Mann“ innerhalb des Regimes unterhielt eigene bewaffnete Kräfte.
Diese mehr oder minder offiziellen Einheiten kidnappten persönliche Gegner oder kämpften mit rivalisierenden Fraktionen, wobei es zumeist um materielle Pfründen ging.
Das ist auch der Hintergrund der Vielzahl von Produktionsstätten für Captagon in Syrien. Der Verkauf dieser euphorisierenden Droge, die den gesamten Nahen Osten einschließlich der Arabischen Halbinsel überschwemmt hat2 , diente der persönlichen Bereicherung oder dem Erwerb von Waffen. Doch die Droge erwies sich am Ende auch als Gift für das System, das dazu beitrug, den Zusammenhalt des Regimes zu untergraben, das so lange als unzerstörbar galt.
Angesichts der totalen Desorganisation der angeblich loyalen Streitkräfte war die Eroberung von Aleppo am 27. November durch höchstens dreihundert Dschihadisten kein Wunder. Ein weiterer Grund für den damit besiegelten Fall des Regimes war, dass es von seinen Verbündeten schlichtweg im Stich gelassen wurde.
Bis kurz vor seinem Sturz war Assad überzeugt, dass er die Krise durchstanden hätte, zumal das Regime im Begriff war, seine internationale Reputation wieder aufzubessern. Im Mai 2023 war Syrien nach zwölfjährigem Ausschluss wieder in die Arabische Liga aufgenommen worden. Der Präsident fühlte sich fest im Sattel sitzend, wobei er vor allem von den Golfstaaten unterstützt wurde, die den Wiederaufbau des Landes finanzieren sollten. Zudem hatten Italien und andere westliche Staaten die Wiedereröffnung ihrer Botschaften in Damaskus angekündigt. Was nicht zuletzt dem Zweck dienen sollte, mit Assad eine zügige Rückführung der syrischen Geflüchteten auszuhandeln.
Selbst der türkische Präsident Erdoğan, einer der heftigsten Kritiker des syrischen Regimes, schien sich mit dem Verbleib Assads abgefunden zu haben und erklärte sich mehrfach zu einem Treffen mit dem syrischen Machthaber bereit. Doch der ließ mit der ihm eigenen Überheblichkeit wissen, ein Gespräch sei nicht möglich, solange türkische Truppen auf syrischem Boden stünden.
Was das Verhältnis zu Teheran betrifft, so ließen die durch den Krieg in Gaza und im Libanon ausgelösten Erschütterungen erwarten, dass die Islamische Republik ihren Verbündeten in Damaskus unbedingt stützen würde. Das nahm man auch für Russland an, denn schließlich gewährte das Assad-Regime der russischen Marine mit dem Hafen von Tartus einen ständigen Zugang zum Mittelmeer und mit dem Militärflugplatz Hmeimim einen Brückenkopf für Luftoperationen in der Nahostregion.
Warum also wurde das Assad-Regime nicht – wie noch 2013 – von Teheran und der Hisbollah gerettet? Und warum schickte Putin nicht seine Luftwaffe wie noch 2015 und 2016 bei der blutigen Rückeroberung von Aleppo? Die Antwort liegt im Ergebnis dreier Faktoren: globaler Kontext, politischer Wille und verfügbare Mittel.
Seit Februar 2022 mobilisiert Moskau für den Abnutzungskrieg in der Ukraine fast alle Soldaten und konventionellen Waffen. Einen Teil der russischen Armee nach Syrien zu entsenden hätte diese in einem Moment geschwächt, da der Westen und Kyjiw bemüht sind, das Kräfteverhältnis zu verändern, bevor der neue US-Präsident Donald Trump die Kriegsparteien zu Verhandlungen zwingen könnte.
Außerdem klagten die Russen seit mindestens zwei Jahren über die Unfähigkeit Assads, sein Land zu stabilisieren und vor allem echte Verhandlungen sowohl mit der Dschihadisten-Koalition in Idlib als auch mit den Kurden in Rojava zu führen. Das alles sprach trotz der verzweifelten Bitten des syrischen Präsidenten gegen eine Intervention.
In den meisten internationalen Medien ist zwar von einer klaren Niederlage Moskaus die Rede, aber offenbar konnte Putin in Verhandlungen mit der Türkei – als der Schutzmacht der SNA – den Schaden für Russland begrenzen. Interessanterweise wurde in dem Freudentaumel nach der Befreiung von Damaskus die russische Botschaft, im Gegensatz zur iranischen, nicht angegriffen. Und HTS-Führer Ahmed al-Scharaa (Kampfname Abu Muhammad al-Jolani), der neue syrische Machthaber, hat es bislang sorgsam vermieden, sich mit dem Moskauer Paten des gestürzten Diktators anzulegen, und zeigt sich sogar bereit, Abgesandte Putins zu empfangen.
Die Zukunft wird zeigen, ob die Stützpunkte in Tartus und Hmeimim in russischer Hand bleiben. Sicher ist allerdings, dass Putin für die Durchsetzung seiner Interessen in Syrien mehr denn je von Ankara abhängig ist.
Die iranische Regierung sparte ebenfalls nicht mit ihrer Kritik an Assad. Schon im Dezember 2018 gab es Informationen, wonach Teheran einen Wechsel an der Spitze des syrischen Regimes wünschte. Iran war auch ein wichtiger finanzieller Unterstützer Syriens – mit geschätzten jährlichen Hilfsgeldern von 5 Milliarden US-Dollar seit 2012. Im Februar 2019 war Assad zum ersten Mal seit 2010 nach Teheran gereist, um seine Macht zu retten, wobei er dem Obersten Führer Ajatollah Chamenei große Versprechungen machte.
Zwar hätten die Iraner eine Politur von Assads Image wohl lieber gesehen als die Vertreibung ihres alawitischen Verbündeten, doch als dann dessen Ende kam, haben sie den Regimewechsel schnell anerkannt.
Im Übrigen konnte Teheran auch nicht die Hisbollah für das syrische Regime aktivieren, denn ihre libanesische Stellvertretertruppe war von der israelische Armee praktisch neutralisiert. Selbst wenn die „Partei Gottes“ genügend Kämpfer und Waffen gehabt hätte, wäre sie Assad nicht zu Hilfe gekommen. Das hätte sie niemals rechtfertigen können angesichts der vielen getöteten Anführer und Kämpfer und der durch die israelischen Angriffe traumatisierten libanesischen Bevölkerung. Teheran hätte höchstens eigene Kräfte mobilisieren können. Doch die iranische Luftwaffe ist viel zu schwach, und ohne sie war der Vormarsch der Aufständischen auf Homs und Damaskus nicht aufzuhalten.
Die kriegslüsternen Leitartikel der konservativen Teheraner Presse reflektieren die Einschätzung des Regimes, dass Netanjahu es schaffen werde, Trump von der Notwendigkeit eines Angriffs auf die iranischen Atomanlagen zu überzeugen oder gar für einen Krieg mit dem Ziel des Regimewechsels zu gewinnen. Diese Angst ist in Teheran nichts Neues und füttert die iranische Verteidigungsdoktrin seit den ersten Monaten nach dem Sturz des Schahs 1979. Vor diesem Hintergrund erschien es dem Regime unklug, einen Teil seiner Ressourcen darauf zu verschwenden, einen Alliierten zu unterstützen, der selbst wenig getan hat, um seine Situation zu verbessern.
Allerdings bedeutet Assads Fall für die Islamische Republik eindeutig eine Niederlage. Sie hat sehr viel Geld ausgegeben, um den Diktator zu halten, für dessen Verteidigung tausende Kämpfer der Revolutionsgarde und der schiitischen Milizen ihr Leben gelassen haben. Und in Syrien liegt die Macht jetzt in den Händen von Sunniten.
Zwar sind die syrischen Schiiten, die in Damaskus und im Norden Aleppos konzentriert sind, im Land geblieben, ebenso die Alawiten an der Mittelmeerküste und in der Hauptstadt. Doch der „schiitische Halbmond“, der Iran über den Irak und Syrien mit dem Libanon verband, existiert nicht mehr. Und für viele radikale Sunniten ist der Kampf gegen schiitische Ketzer vordringlicher als selbst der gegen Israel. Al-Scharaa versichert zwar der ausländischen Presse, er wolle keinen Krieg, doch er muss auch seine Partner davon abhalten, sich mit Teheran anzulegen.
Potenzielle Streitpunkte sind nicht nur die Staatsschulden – Syrien schuldet Iran rund 50 Milliarden US-Dollar vor allem für Öl- und Waffenlieferungen –, sondern auch private Wirtschaftsinteressen. Zum Beispiel werden die Geschäfte im Suk von Damaskus von iranischen Händlern dominiert. Die Bevölkerung der Hauptstadt, die weitgehend an der Seite der neuen Machthaber steht, hat bereits lautstark antiiranische Gefühle bekundet. Vor diesem Hintergrund kann es zwischen den beiden Ländern in nächster Zeit durchaus zu Konflikten kommen.
Das hat Folgen für den Irak. Denn durch den Regimewechsel in Syrien wird der Nachbarstaat im Osten de facto zur vordersten iranischen Verteidigungslinie. Teheran wird daher versuchen, seinen ohnehin beträchtlichen Einfluss im Irak noch weiter auszubauen. Die USA hatten die Zentralregierung in Bagdad im Januar 2024 vor dem wachsenden Einfluss der proiranischen Milizen gewarnt, die versuchen, einen Staat im Staate zu bilden.3 Teherans neuer Fokus auf den Irak dürfte zu neuen Spannungen führen. Zum Beispiel könnten die schiitischen Milizen, die 2014 in Reaktion auf die Offensive des IS entstanden sind, an der syrisch-irakischen Grenze in Aktion treten, um eine eventuelle dschihadistische Infiltration zu verhindern.
Der große Profiteur des Machtwechsels in Damaskus ist eindeutig die Türkei. 2020 konnte Ankara in Verhandlungen mit Russland eine totale Vernichtung der HTS-Truppen verhindern, die sich in die Enklave Idlib gerettet hatten. Damals glaubte Assad, mit diesen letzten Aufständischen gegen sein Regime rasch fertigzuwerden. Aber genau diese Kräfte haben jetzt in Damaskus die Macht übernommen, auch wenn sie sich mit anderen Gruppierungen verständigen müssen.
Die Türkei hat also den Vorteil, mit einem Partner in Damaskus zu verhandeln, der in ihrer Schuld steht. Zu den wichtigsten Anliegen Ankaras gehört die Lösung der Frage der syrischen Geflüchteten in der Türkei. Die 3 Millionen Exilsyrer sind für Erdoğan ein großes innenpolitisches Problem, weshalb er will, dass sie schnell in ihre Heimat zurückkehren. Schon am 9. Dezember öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Syrien, und nach Angaben des türkischen Innenministeriums sind bis Jahresende bereits mehr als 35 000 Syrer:innen zurückgekehrt.
Die territorialen Dispute zwischen der Türkei und Syrien dürften schwerer zu lösen sein, zumindest wenn al-Scharaa nicht als Marionette Ankaras dastehen will. Die türkische Armee hält nicht nur einen Teil des syrischen Territoriums besetzt, sondern steht auch aufmarschbereit, um die quasiautonome Region Rojava anzugreifen. Aus der sollen die kurdischen Kräfte der Volksverteidigungseinheiten (YPG) vertrieben werden, die Ankara als Ableger der PKK betrachtet. Die YPG sollen „entweder ihre Waffen abgeben, oder sie werden zusammen mit ihren Waffen auf syrischem Boden begraben“, tönte Erdoĝan in einer Rede vor Parteianhängern am 25. Dezember.
Al-Scharaas ideologische Wandlung
Wie wird die neue Regierung in Damaskus agieren, nachdem sich al-Scharaa verpflichtet hat, friedlich mit den nach Autonomie strebenden Kurden zu verhandeln? Und wie verhält sich die neue Trump-Regierung gegenüber den kurdischen Verbündeten der USA im Kampf gegen den IS? Trump hatte während seiner ersten Amtszeit die Verpflichtungen gegenüber den YPG nicht sehr ernst genommen und im Oktober 2019 fälschlicherweise behauptet, die Kurden hätten „den USA im Zweiten Weltkrieg nicht geholfen“.
Mit ihren knapp 2000 Soldaten, die im Nordosten Syriens stationiert sind, hindern die USA die Türkei vorerst daran, die Kurden in Rojava anzugreifen. Aber Erdoğan könnte angesichts der neuen Situation in Syrien durchaus versucht sein, genau dies zu tun.
Viele Entwicklungen im neuen Syrien werden von der Frage abhängen, wer die neuen Machthaber in Damaskus tatsächlich sind und was sie letztlich wollen. Die Mitglieder der HTS gehörten lange zur dschihadistischen Bewegung, waren also Glaubenskrieger, die für die Schaffung eines Kalifats kämpften ohne große Rücksicht auf nationale Grenzen und andere politische Kräfte. Heute bekennen sie sich zu einer „nationalistisch-religiösen“ Haltung und zum endgültigen Bruch mit Organisationen wie al-Qaida oder dem IS. Zwar berufen sie sich immer noch auf die Scharia, aber al-Scharaa will sich ausschließlich um Syrien kümmern.
Diese ideologische wie auch theologische Neuorientierung der HTS ist unter den Islamexperten ein heiß diskutiertes Thema. Soll man dem HTS-Führer glauben, wenn er verspricht, die Rechte der religiösen Minderheiten zu respektieren – vor allem der syrischen Christen, deren Bevölkerungsanteil in den letzten zehn Jahren von 8 auf 2 Prozent gesunken ist? Soll man ihm glauben, wenn er versichert, er habe nichts am Hut mit einem weltweiten Dschihad, auf den sich die Urheber von Attentaten in vielen Ländern berufen?
Die Verwaltung der Enklave Idlib, wo verschiedene religiöse Strömungen koexistieren, hat al-Scharaa auf jeden Fall gelehrt, mehr Pragmatismus zu entwickeln im Sinne einer gewissen Deradikalisierung und „Entsalafisierung“.4 Ob sich diese Erfahrung auf die nationale Ebene übertragen lässt, wird die Zukunft zeigen. Derzeit sind die westlichen Mächte offensichtlich auch deshalb geneigt, der HTS zu vertrauen, weil dessen Führer sich in ihren Äußerungen zu Israel zurückhalten, das ja – wie die Türkei – syrisches Territorium besetzt und immer wieder syrische Ziele bombardiert
Letztlich stellt sich auch in Syrien die Frage, ob eine islamistische Bewegung imstande ist, ein Land zu regieren und dabei demokratische Prinzipien und individuelle Freiheiten zu respektieren. Sehr oft wurden solche Gruppierungen selbst dann wieder von der Macht verdrängt, wenn sie die Hoffnungen einer Mehrheit der Bevölkerung verkörperten. Wie es etwa in Algerien (1992), Ägypten (2013) oder Tunesien (2021) geschehen ist.
Wer aber könnte al-Scharaa und seine Bewegung von der Macht verdrängen? Vonseiten der Armee ist die Gefahr eines Staatsstreichs gering. Sie wird sich der Leute entledigen, die durch ihre Assad-Treue am stärksten kompromittiert sind, neue Strukturen aufbauen und die siegreichen Milizen wie die HTS-Kämpfer integrieren.
Auf der politischen Ebene haben die HTS und ihre Bündnispartner außer bei den Islamisten kaum Rivalen. Die früher allmächtige säkular-nationalistische Baath-Partei ist nur noch eine leere Hülle mit dem Stigma der Assad-Diktatur und eines Panarabismus, an den niemand mehr glaubt.
Die einzige echte Gefahr wäre ein islamistischer Überbietungswettbewerb. In Teilen Ostsyriens ist der IS nach wie vor aktiv. Er stellt weiterhin eine Bedrohung dar – als Anziehungspunkt für die radikalsten Kräfte, die den Pragmatismus der HTS ablehnen.
Syrien wird zu einem Experimentierfeld werden, und das in mehrerer Hinsicht: für den Wiederaufbau eines Staats; für die Schaffung einer neuen Armee; und für die Machtübernahme von Islamisten, die bis vor kurzem auf den internationalen Fahndungslisten für Dschihadisten standen. Für Leute also, die in den westlichen Staaten und in ihren Medien wohl immer noch in Acht und Bann wären, hätten sie nicht in einem wichtigen Staat des Nahen Ostens die Macht ergriffen.
1 Siehe Jean Michel Morel, „Gnadenlos und unerschüttert“, LMd, März 2023.
2 Siehe Clément Gibon, „Verbotene Pille“, LMd, Juli 2023.
3 Siehe Adel Bakawan, „Die Macht des Haschd“, LMd, Oktober 2023.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Wirtschaft am Boden
Der Meltdown der syrischen Wirtschaft hat den Sturz Baschar al-Assads beschleunigt. Der wirtschaftliche Wiederaufbau ist also eines der wichtigsten Anliegen der neuen Machthaber. „Wir übernehmen ein Land, das in allen Bereichen in Trümmern liegt: Industrie, Handel, Armee, Verwaltung“, sagte Ahmed al-Scharaa im Sender France24 am 17. Dezember. Die Aufgabe ist gewaltig. 13 Jahre Bürgerkrieg haben die Produktionskapazitäten weitgehend zerstört und zum Verfall der syrischen Lira und einer anhaltenden Inflation geführt. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leben in Armut.
Die harten internationalen Sanktionen und die Vergiftung des Geschäftsklimas durch eines der korruptesten Regime der Welt haben bewirkt, dass heute alle wesentlichen wirtschaftlichen Aktivitäten im informellen Sektor stattfinden. Im Frühjahr 2024 schätzte die Weltbank, dass das Bruttoinlandsprodukt, das bereits zwischen 2010 und 2023 um 84 Prozent geschrumpft war, nur noch 6,2 Milliarden US-Dollar beträgt. Dabei werden die Kosten für den Wiederaufbau des Landes von Fachleuten auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar geschätzt.
Die kargen Zahlen der regulären Wirtschaftstätigkeit muss man auch im Verhältnis zu den fast 2 Milliarden US-Dollar sehen, die das Assad-Regime jedes Jahr mit dem Schmuggel von Captagon eingenommen hat. Ahmed al-Scharaa hat versprochen, die Produktion dieser synthetischen Droge einzudämmen.
Eine weitere vordringliche Aufgabe für die neuen Machthaber ist der Wiederaufbau der Ölindustrie. Zuletzt war Syrien von iranischen Importen abhängig, doch nun hat Teheran den Hahn zugedreht. Neben der Sicherung der syrischen Förderanlagen wären für eine Sanierung beträchtliche Investitionen notwendig, die allerdings kaum für größere Geldeinnahmen sorgen würden. Vor dem Aufstand 2010 wurden durchschnittlich 385 000 Barrel Rohöl pro Tag gefördert (heute noch rund 80 000 Barrel). Das entspricht 0,5 Prozent der globalen Fördermenge. Und die nachgewiesenen Reserven Syriens machen lediglich 0,2 Prozent der weltweiten Vorkommen aus.
⇥Angélique Mounier-Kuhn