12.12.2024

Die politischen Wurzeln der Claudia Sheinbaum

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Die politischen Wurzeln der Claudia Sheinbaum

von Hélène Combes

Sheinbaum empfängt am Tag ihrer Amtseinführung eine Abordnung indigener Frauen, 1. Oktober 2024 picture alliance/zumapress
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Ein Morgen im Frühling 1999 im Norden von Mexiko-Stadt. Das Haus mit der gelben Fassade im Bezirk Venustiano Carranza war gar nicht so leicht zu finden. Dass wir richtig lagen, verriet nur eine kleine Gruppe von Frauen, die dicht aneinander gedrängt vor der Tür der „Asamblea de barrios“ (Versammlung der Stadtteile) warteten.

Die Asamblea de barrios (AB), 1987 von linken Ak­ti­vis­t:in­nen gegründet, setzte sich anfangs vor allem für die vom Staat vernachlässigten Opfer des großen Erdbebens ein: Am 19. September 1985 waren bei dieser verheerenden Katastrophe 10 000 Menschen ums Leben gekommen und eine Viertelmillion obdachlos geworden. Viele von ihnen fühlten sich damals von den Behörden im Stich gelassen. Nach und nach sprach sich jedoch herum, dass es bei der Asamblea de barrios Unterstützung gab.

An jenem Morgen vor 25 Jahren standen hauptsächlich Mütter vor dem gelben Haus in Venustiano Carranza. Sie wollten sich über den Zeitplan und die Fortschritte bei der Fertigstellung und Übergabe von Sozialwohnungen informieren. Denn die AB verwaltet zusammen mit anderen Nachbarschaftsvereinen einen Teil des hauptstädtischen Bestands an Sozialwohnungen. Neben der Vermittlung zwischen Behörden und Wohnungsgesuchen koordinieren die Vereine in staatlichem Auftrag sogar manchmal selbst den Hausbau.

Ich erinnere mich noch, wie eine Ehrenamtliche, die einen erfahrenen Eindruck machte, das Kinderprogramm in jenem Sommer vorstellte und bei dieser Gelegenheit über die Hilfsangebote informierte, die sich vor allem an Frauen richten: Rechtsbeistand für Opfer häuslicher Gewalt und in Scheidungsprozessen, kostenlose ärztliche Betreuung und vieles mehr. Es dauerte nicht lange, und die Frauen sprachen nicht mehr über ihre alltägliche Sorgen, sondern diskutierten über aktuelle innenpolitische Themen, wie den Streik der Studierenden an der Autonomen Universität von Mexiko.

So banal diese Versammlung vor 25 Jahren auch scheinen mag, sie reiht sich in eine jahrelange politische Basisarbeit ein, mit der sich die Linke über ihr kommunales Engagement den Weg zum Sieg auf nationaler Ebene gebahnt hat.

Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man sich die Situation in Mexiko Ende der 1990er Jahre vor Augen führen. Es waren harte Zeiten für progressive Kräfte. Seit 1929 wurde das Land von ein und derselben Partei regiert, die sich mit einem Oxymoron als Namen schmückte: Partei der Ins­ti­tu­tio­nellen Revolution (PRI). Bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 kandidierte der PRI-Dissident Cuauhtémoc Cárdenas, der die neoliberale Orientierung der Partei ablehnte, für das linke Oppositionsbündnis Frente Democrático Nacional (später Partei der Demokratischen Revolution, PRD).

Bei der Wahl lag er zunächst vorn, bis in der Nacht die erstmals eingesetzten Computer ausfielen. Als die Auszählung der Stimmen nach dem Systemabsturz wieder anlief, lag der PRI-Kandidat Carlos Salinas de Gortari plötzlich an der Spitze. Sechs Jahre später, vor den nächsten Wahlen, stellte ein anderer PRI-Politiker, Luis Donaldo Colosio, die Parteilinie infrage. Im März 1994 wurde Colosio ermordet. Der Fall ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.1

Einige Wochen zuvor, am 1. Januar 1994, hatten zwei Ereignisse das Land erschüttert. Erstens die Unterzeichnung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta, das die mexikanische Wirtschaft der US-amerikanischen Ökonomie quasi unterordnete. Zweitens der Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) im Bundesstaat Chiapas.

Vor diesem Hintergrund hatten weite Teile der Linken entschieden, sich lokal zu vernetzen – mit Organisationen wie Asamblea de barrios. Einer ihrer Gründer war der Architekt Javier Hidalgo Ponce, der später als Politiker Karriere machte und heute ein enger Vertrauter von Claudia Sheinbaum ist. In dem Maße, wie die neoliberale Politik an Boden gewann, kam derartigen zivilgesellschaftlichen Strukturen eine immer wichtigere soziale Funktion zu.

Stadtteilsatelliten wie die AB boten Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen für die Bevölkerung und wurden zum Nährboden einer neuen Form des politischen Engagements – manchmal mit feministischer Ausrichtung, immer nah an der Basis und mit einer direkten Verankerung im Alltagsleben. Diese weitgespannte Struktur von Vereinen und Gruppen, zusammengeschweißt durch die gemeinschaftlichen Erfahrungen von Aktivistinnen, örtlichen Funktionären, staatlichen Angestellten und „einfachen Bewohnerinnen“, schuf die Grundlagen für eine politisch-territoriale Vernetzung, auf die sich die Linke stützen konnte.

In der Anfangsphase kam diese Struktur noch der PRD zugute, die Cuauh­témoc Cárdenas 1989 im Anschluss an seine umstrittene Niederlage bei der Präsidentschaftswahl von 1988 gegründet hatte. Zuerst eroberte das Parteienbündnis 1997 das Rathaus von Mexiko-Stadt. Viele aktive Mitglieder des Netzwerks wurden zu lokalen Abgeordneten gewählt oder kamen in der kommunalen Verwaltung unter. Die Präsidentschaftswahlen von 2006, die Felipe Calderón vom Partido Acción Nacional (PAN) mit einem hauchdünnen Vorsprung von rund 0,58 Prozentpunkten der Stimmen vor Andrés Manuel López Obrador gewann, waren erneut von Betrugsvorwürfen überschattet.

Doch weder der von López Obrador mobilisierte Protest auf der Straße noch der Versuch, gerichtlich eine Neuauszählung aller Stimmen zu erzwingen, hatten Erfolg. So beschloss der gescheiterte Kandidat der Linken, in Mexikos Hauptstadt das zu organisieren, was er die „legitime Regierung“ nannte: Die Stadtteilinitiativen sollten der Bevölkerung nicht nur Hilfsangebote machen, sondern zugleich Motoren einer koordinierten politischen Protestbewegung werden.

Durch Beziehungen zu Organisa­tionen in Mexiko-Stadt, die López Obrador während seiner Zeit als PRD-Bürgermeister (2000–2005) aufgebaut hatte2 , vermochte er Protestaktionen zu orchestrieren, die sich auf das gesamte Land ausweiteten. Die wichtigste richtete sich gegen die Privatisierung der staatlichen Ölgesellschaft Petroleos Mexicanos (Pemex).

Im April 2008 traten in diesem Zusammenhang die „Adelitas“ in Aktion (der Name spielt auf die bewaffneten Frauen in der Mexikanischen Revolution an). 20 Brigaden zu je 500 Frauen, insgesamt 10 000 Personen, riegelten 20 Tage lang den Senat ab, um die Verabschiedung eines Gesetzesvorhabens zur Privatisierung von Pemex zu verhindern. Was ihnen auch gelang. Der Konzern gilt seit seiner Verstaatlichung im Jahr 1938 unter Präsident Lá­za­ro ­Cárdenas als Symbol für den Wohlfahrtsstaat und nationale Unabhängigkeit. Die Aktivistinnen kamen mehrheitlich aus Organisationen, die sich für das Recht auf Wohnraum einsetzten.

Diese Episode ist der Schlüssel für das organisatorische Konzept, auf dem Amlo 2014 den Movimiento de Regeneración Nacional (Bewegung der Nationalen Erneuerung, Morena) aufgebaut hat. Zu diesem Zeitpunkt war das Fundament des zivilgesellschaftlichen Engagements schon gefestigt. Es versorgte ihn mit den nötigen materiellen Strukturen, programmatischen Inhalten und politischen Akteuren.

So eröffnete sich der „Adelitas“-Koordinatorin Claudia Sheinbaum, die sich bereits im Jahr 2000 dem Team um López Obrador im Rathaus von Mexiko-Stadt angeschlossen hatte, die Chance, politische Bekanntheit zu erlangen. 2018 wurde sie zur Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt gewählt.

Im Rahmen ihrer Amtsgeschäfte bemühte sie sich, die Verbindungen der selbstständig engagierten Ortsverbände mit der linken Politik staatlicher Stellen zu stärken. Dies geschah vor allem durch das Programm Pilares (Puntos de Innovación, Libertad, Arte, Educación y Saberes)3 , das 2019 von der kommunalen Verwaltung von Mexiko-Stadt auf den Weg gebracht wurde und 300 über die Stadt verteilte Nachbarschaftszentren ermöglicht hat. Hier kommen Junge und Alte zu kostenlosen Workshops zusammen: digitale Alphabetisierung, Urban Gardening, Begrünung von Flachdächern in Sozialbausiedlungen und so weiter.

Als Bürgermeisterin der Hauptstadt unternahm Sheinbaum jeden Donnerstag eine Tour durch die Pilares-Zentren. „Die Leute kamen nicht, um ihr zuzuhören, sondern sie ist gekommen, um den Leuten zuzuhören“, erklärt ihr Vertrauter Javier Hidalgo. Es klingt wie eine Erklärung für den Sieg, den sie bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr errungen hat. Ein Sieg, der Stück für Stück erarbeitet wurde, seit bald 30 Jahren.Hélène Combes

1 Zedryk Raziel, „Anatomía del asesinato de Colosio“, El País, 31. Januar 2024.

2 Siehe Ixchel Delaporte, „Amlo, der Frühaufsteher“, LMd, Januar 2004.

3 Auf Deutsch: Säulen (Anlaufstellen für Innovation, Freiheit, Kunst, Bildung und Wissen).

Aus dem Französischen von Christian Hansen

Hélène Combes ist Soziologin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS)

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Hélène Combes