Das Erbe eines äußerst beliebten Präsidenten
In Mexiko hat López Obrador viel für die Armen getan – und für die Armee
von Anne Vigna

Am Ende seiner sechsjährigen Amtszeit (2018–2024) lagen die Zustimmungswerte für Andrés Manuel Lopéz Obrador, genannt Amlo, bei über 70 Prozent. Es ist vor allem seiner Popularität zu verdanken, dass sein politisches Lager bei den Wahlen am 2. Juni einen derart eindrucksvollen Sieg erringen konnte. Seine Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena) hat zusammen mit ihren Bündnispartnern, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) und der grün-ökologischen Partei Mexikos (PVEM) sowohl die Präsidentschaft verteidigt als auch die Mehrheit im Kongress gewonnen.
Das Bündnis stellt 364 von 500 Abgeordneten und 83 von 128 Senatoren sowie die Regierungen in 24 der insgesamt 32 mexikanischen Bundesstaaten. Damit verfügt die Koalition Juntos Haremos Historia (Wir machen zusammen Geschichte) sogar über die für Verfassungsänderungen erforderliche Mehrheit. Für López Obradors Nachfolgerin Claudia Sheinbaum stimmten 59,3 Prozent der Wählerschaft, das heißt 35,9 Millionen Menschen und damit 6 Millionen mehr als für ihren Vorgänger im Jahr 2018.
Die frühere Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt (Distrito Federal) ist seit dem 1. Oktober die erste Frau an der Spitze Mexikos. Aber nicht nur das: Sie ist seit dem Ende der jahrzehntelangen Hegemonie der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) – 1929 bis 2000 – auch die erste Staatschefin, die bei ihrem Amtsantritt über einen derart großen institutionellen Handlungsspielraum verfügt. Im Unterschied zu mehreren ihrer linken Amtskollegen – etwa in Brasilien, Chile oder auch Kolumbien –, die ohne Mehrheit in ihren jeweiligen Parlamenten regieren, hält Sheinbaum fast alle Hebel der Macht in ihrer Hand.
Nach der Unabhängigkeit von 1821, der Reformperiode zwischen 1855 und 1863, die am Ende zur Trennung von Staat und Religion führte1 , und der Revolution (1910–1917) wird sich Mexikos „vierte Transformation“, die López Obrador auf den Weg gebracht hat, vermutlich fortsetzen. Um sie zu weiterzuführen, hatte er dem Kongress einige Monate vor seinem Ausscheiden verschiedene Vorhaben für eine Verfassungsreform unterbreitet.
Die meisten dieser Verfassungsreformen zielen auf die garantierte Festschreibung der von ihm eingeführten sozialen Unterstützungen, andere auf die Aufnahme bestimmter Rechte wie Lohnerhöhungen über dem Inflationsniveau, volle rechtliche Anerkennung der indigenen Völker, ein Anbauverbot für genmanipulierte Pflanzen sowie das Verbot von Fracking zur Gewinnung von Erdöl und Erdgas.
Außerdem sollen staatliche Institutionen umgebaut und reformiert werden. Mit der Justizreform sollen 1500 Bundesrichter sowie die neun Richter des Obersten Gerichtshofs durch öffentliche Wahlen bestimmt werden. Kritiker halten dies für eine riskante Destabilisierung der Judikative (siehe den Beitrag von Sandra Weiss auf Seite 10). Nach Ansicht von Amlo und Sheinbaum handelt es sich dagegen um eine Maßnahme zur Bekämpfung von Vetternwirtschaft und Korruption.
In seinem noch vor dem Wahltermin veröffentlichten Buch „¡Gracias!“ erläutert Amlo, was seiner Ansicht nach maßgeblich zu seinem politischen Erfolg beigetragen hat: „Wären wir nicht von der Bevölkerungsmehrheit, namentlich den Armen, unterstützt worden, hätten uns die Konservativen längst besiegt oder uns gezwungen, klein beizugeben und uns ihren Launen und Interessen zu fügen.“
Amlo setzte auf den direkten Kontakt zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Zu dieser Strategie gehörten Bürgerbefragungen, Referenden und vor allem seine morgendliche zweistündige Pressekonferenz, die sechs Jahre lang von Montag bis Freitag ab sieben Uhr morgens unter dem Titel La mañanera (Die Morgendliche) im Fernsehen ausgestrahlt wurde.
„Die mexikanische Bevölkerung ist heute politischer, die Leute sind sich eher bewusst, was für sie auf dem Spiel steht“, meint John Mill Ackerman, Juraprofessor an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). „Dennoch ist fraglich, ob Amlos Behauptung, es handele sich um ein echtes „Bündnis“ mit dem Volk, stichhaltig ist – auch wenn dieses Verhältnis durch seine Sozialpolitik sicher gestärkt wurde.“
Tatsächlich hat sich unter Amlos Regierung die Situation von Millionen von Erwerbstätigen verbessert. Die Einkommen in dem Land, in dem die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung (54,3 Prozent)2 im informellen Sektor beschäftigt ist, sind gestiegen. Der staatlich festgelegte Mindestlohn hat sich in Amlos Amtszeit verdoppelt und liegt heute bei rund 250 Pesos pro Tag (etwa 11,50 Euro).

Verdreifachter Mindestlohn und reichere Reiche
Und die Mindestlöhne in der Sonderwirtschaftszone an der Grenze zu den USA, die 43 Städte umfasst, verteilt auf sechs Bundesstaaten, haben sich sogar verdreifacht. Sie liegen inzwischen bei knapp 375 Pesos am Tag (etwa 17,50 Euro).3 „Gezielte Maßnahmen haben sich auf 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung positiv ausgewirkt“, schätzt die politische Analystin Viridiana Ríos. „Die Situation der Beschäftigten hat sich damit grundlegend verändert.“
Arbeitnehmer:innen in Mexiko stehen inzwischen zwölf statt wie bisher sechs Urlaubstage im Jahr zu. Und wer 30 Arbeitsjahre vorweisen kann, hat Anspruch auf einen vollen Monat Urlaub. Zudem wurden die Arbeitgeber dazu verpflichtet, einen höheren Anteil in die Rentenkassen einzuzahlen. Und bei den Gewerkschaften wurde ein neues Wahlsystem für Funktionäre eingeführt, um der Vetternwirtschaft und dadurch begünstigten Korruption ein Ende zu machen. Die Regulierungen von Zeit- und Leiharbeit hat zahlreiche Unternehmen dazu gezwungen, prekär beschäftigte Arbeitskräfte fest einzustellen.
„Die Gewinne des Einzelhandels sind um 17 Prozent gestiegen“, sagt Viridiana Ríosan, „Die Erhöhung der Löhne hat das allgemeine Konsumverhalten deutlich belebt. Diese Situation ist neu. Bislang konnten nur die großen Konzerne steigende Gewinne verbuchen.“ Die Armutsquote in der Bevölkerung ist von 28,6 Prozent im Jahr 2018 auf 20,2 im Jahr 2024 gesunken, somit sind 9,5 Millionen Personen der größten Armut entkommen.4
Laut Oxfam-Mexiko hat sich allerdings auch „das Vermögen der vierzehn reichsten Mexikaner seit Beginn der Pandemie fast verdoppelt“. Carlos Slim beispielsweise besitzt mittlerweile so viel wie 63,8 Millionen Durchschnittsmexikanerinnen und -mexikaner zusammen.5 Tatsächlich hat sich der ehemalige Präsident immer geweigert, die Vermögen der Reichen stärker zu besteuern. Das Volk scheint ihm das nicht besonders übel genommen zu haben. Im Großen und Ganzen hat es Amlos Sozialpolitik wohl begrüßt. Anders sieht es dagegen in der Frage der Sicherheit aus; hier überwiegt die Enttäuschung.
Bevor er an die Macht gelangte, gab sich López Obrador als entschiedenster Gegner der Sicherheitspolitik des konservativen Präsidenten Felipe Calderón (2006–2012). Dessen vom Militär geführter Krieg gegen die Drogenkartelle setzte eine endlose Gewaltspirale in Gang, die immer mehr Opfer forderte. Entgegen seinem Versprechen hat Amlo die Militarisierung der Gesellschaft nach 2018 jedoch sogar noch vorangetrieben.
In einem hoch kriminellen Umfeld verschrieb er sich dem Prinzip der größtmöglichen Effizienz und vergrößerte die Macht der Streitkräfte noch dadurch, dass er die Polizei und die von ihm 2019 geschaffene Nationalgarde ebenfalls ihrem Kommando unterstellte: Der Armee fielen sowohl der Aufbau als auch die Kontrolle strategischer Infrastrukturen des Landes zu (Flughäfen, Seehäfen, Schienenverkehr) – sowie die Verwaltung der Zollbehörden.
Der Militärhaushalt wurde nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) bis Ende 2023 um 55 Prozent gegenüber 2014 aufgestockt – ohne dass die Gewalt signifikant zurückgegangen wäre. In den letzten sechs Jahren sind zu den seit 2006 verschwundenen 115 000 Personen weitere 50 000 hinzugekommen.6 Das gleiche Bild zeigt sich bei Erpressungs- und Tötungsdelikten; Letztere sind unter Amlo auf einen Rekordwert gestiegen mit über 200 000 Morden (94 pro Tag), davon mehr als 5000 Femizide.7
Zudem wurde die Straffreiheit für Angehörige der Streitkräfte zusätzlich erleichtert. Die Untersuchung über das Schicksal der 43 im Bundesstaat Guerrero ermordeten Studenten von Ayotzinapa endete an den Kasernentoren. Erste Anläufe, die Archive zu öffnen, um den „schmutzigen Krieg“ und die massiven Repressionen zwischen 1965 und 1990 aufarbeiten zu können, verliefen im Sand, weil die Militärs ihren Teil der Unterlagen nicht beisteuerten.8 Amlo hat zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Verschwundenen und andere Gewaltopfer einsetzen, beharrlich ignoriert, obwohl sie bei drei Gelegenheiten in großen Demonstrationen vor den Präsidentenpalast gezogen waren.
Seine Politik im Hinblick auf straffällig gewordene Jugendliche – „abrazos, no balazos“ (umarmen, nicht schießen) – überging schlichtweg die Opfer und deren Angehörige. Der selbsternannte „Vater der Nation“ hat die um ihre Kinder trauernden Mütter nicht umarmt. Und bei der Bevölkerung hat er den bitteren Eindruck hinterlassen, dass ihm die Leidtragenden gleichgültig sind.
Enttäuscht sind weite Teile der mexikanischen Linken auch über Amlos große Bauvorhaben – wie das umstrittene Eisenbahnnetz Tren Maya9 , dessen Trassen mitten durch indigenes Gebiet führen. Weil Amlo das Projekt gnadenlos durchgedrückt hat, haben sich Umweltschützer und Indigene dem Lager der Gegner der „Vierten Transformation“ angeschlossen – und an die Seite der Zapatisten im Bundesstaat Chiapas gestellt, mit denen die Regierung keinen Dialog mehr führt.
Dem Ex-Präsidenten zufolge dienen „Modernisierung und Ausbau der Infrastruktur“ langfristig übergeordneten Zielen: Der Staat soll nach Jahren des Neoliberalismus endlich wieder die Zügel der Wirtschaftspolitik in die Hand nehmen und die nationale Souveränität zurückgewinnen.
Auf internationaler Ebene wollte sich López Obrador an die Estrada-Doktrin halten, die nach dem von 1930 bis 1932 amtierenden Außenminister Genaro Estrada benannt ist. Sie räumt dem Respekt vor nationaler Souveränität und Nichteinmischung den Vorrang ein. Im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten hat sich Amlo strikt daran gehalten, als es darum ging, die US-Migrationspolitik und den Bau der Grenzmauer zu akzeptieren.
Doch bei der Neuverhandlung des Freihandelsabkommens Alena zwischen Mexiko, den USA und Kanada habe er immerhin seine Interessen zu verteidigen gewusst, gibt der Politologe Carlos Pérez Ricart vom Centro de Investigación y Docencia Económicas (CIDE) in Mexiko-Stadt zu bedenken. Amlo habe sich außerdem „ganz direkt in die Innenpolitik mehrerer Andenstaaten eingeschaltet. Er hat den Ex-Präsidenten von Bolivien und Peru, Evo Morales und Pedro Castillo, sowie dem ehemaligen Vizepräsidenten von Ecuador, Jorge Glas, Hilfe geleistet.“ Außerdem war Mexiko von 2019 bis zu Nicolás Maduros umstrittener Wiederwahl am 28. Juli 2024 in alle Verhandlungsversuche zwischen der venezolanischen Regierung und der Opposition einbezogen.
Der „populärste Präsident Mexikos“, wie seine Anhänger ihn gern nennen, hat sich nun auf die Ranch seiner Familie in Chiapas zurückgezogen. Viele glauben, dass er dort nicht lange bleiben wird. Er selbst aber beteuert: „Das Land befindet sich in guten Händen, meine Mission ist beendet.“
8 Siehe Rachel Nolan, „Die Polizei schoss völlig unvermittelt in die Busse hinein“, LMd, Mai 2019.
9 Siehe Luis Alberto Reygada, „Tren Maya – mehr als ein Zug“, LMd, Januar 2024.
Aus dem Französischen von Christian Hansen
Anne Vigna ist Journalistin in Mexiko.