12.12.2024

Evangelikale auf dem Vormarsch

zurück

Evangelikale auf dem Vormarsch

Wie sich die Erweckungsbewegung im laizistischen Frankreich etabliert

von Eva Thiébaud

Stephan Grunenberg, Verführerin, 2024, Acryl auf Leinwand, 120 × 160 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Glaube wie ein kleines Kind, ermuntert die Pastorin Anne Battista ihre versammelte Gemeinde. An diesem Abend sind rund 1500 meist junge, elegant gekleidete Menschen zum Gottesdienst in der Martin-Luther-King-­Kirche im Pariser Vorort Créteil erschienen.

Battista ermahnt die Gläubigen, ihr Ego zu vergessen, ganz auf Gott zu vertrauen, und die Kinder zu bekehren. Dazwischen erklingen musikalische Einlagen der Kirchenband mitsamt Chor und Lightshow. „Können wir ein bisschen mehr auf die Tube drücken? Halleluja!“, ruft Battista. Der Gottesdienst endet damit, dass die Gottesdienstbesucher in den vorderen Reihen aufspringen und tanzen.

In Marseille findet der Gottesdienst der Assemblées de Dieu in einem etwas heruntergekommenen Saal statt. Etwa 100 Menschen jeden Alters haben sich eingefunden; die meisten sind Eu­ro­päe­r:in­nen – im Gegensatz zu den sonstigen Bewohnern des migrantisch geprägten Viertels Saint-Lazare. Pastor Mathieu Burles spricht in seiner Predigt über Arbeitsüberlastung und Stressbewältigung. Die musikalische Untermalung ist bescheidener als in Créteil. Am Klavier sitzt eine junge Frau und singt, nur begleitet von einem Schlagzeuger. Wie in einer Karaoke-Bar werden die Texte auf einem Bildschirm eingeblendet.

Ein paar Straßen weiter predigt Pastor Karoly Jolan Ciurcui in der Elim-Kirche vor etwa 30 Roma rumänischer Herkunft in ihrer Muttersprache. Bei der Fürbitte gehen manche auf die Knie, andere brechen in Tränen aus.

So verschieden diese Gemeinden sind, haben sie eines gemeinsam: Sie sind evangelikal. Diese fundamentalistisch-protestantische Glaubensrichtung predigt eine strenge Auslegung aller biblischen Gebote und die Notwendigkeit der individuellen Erlösung durch „eine Wiedergeburt im Geiste“. Ihre Anhängerschaft ist zwischen 1970 und 2020 weltweit enorm gestiegen: Von 112 Millionen auf 386 Millionen – wobei 77 Prozent der Gläubigen im Globalen Süden leben.1 Ein Sonderfall im Globalen Norden sind die USA: 2021 bezeichneten sich hier 60 Prozent der Pro­tes­tan­t:in­nen als evangelikal.2 In ganz Europa trifft das nur für etwa 3 Prozent der Bevölkerung zu.

Dabei geht die Religiosität im Globalen Norden insgesamt zurück.3 Laut David Koussens, Rechtssoziologe an der kanadischen Universität Sher­brooke, betrifft das vor allem die traditionellen Kirchen. So tauge etwa der Katholizismus womöglich nicht mehr als moralische Richtschnur. Die Hoffnungen, die die Menschen in Glaubenssysteme setzten, gebe es zwar immer noch. Nur entscheide man sich heute nicht mehr aus Tradition für eine bestimmte Religion.

Die Evangelikalen haben da einige Wettbewerbsvorteile. Ihre Botschaft ist einfach und pragmatisch – mit Angeboten für die Jugend (mit Popmusik und sozialen Netzwerken), Migranten (mit der Unterstützung einer Gemeinschaft) und Menschen in wirtschaftlich prekären Umständen (mit der Botschaft, dass Reichtum erworben werden kann).

Ein Abdriften ins Sektiererische ist bei diesen Kongregationen nicht so selten. In Frankreich erreichen den Sektenbeauftragten der Regierung verhältnismäßig sehr viel häufiger Beschwerden über evangelikale Gemeinden als über andere Glaubensgemeinschaften.4 Da geht es etwa um den Missbrauch von Schutzbedürftigen, um illegale Beschäftigung, um Bekehrungsversuche Homosexueller zur Heterosexualität und sexistische Beleidigungen.5 Es kam auch vor, dass kranken Menschen dazu geraten wurde, ihre medizinische Behandlung abzubrechen – tatsächlich glauben 70 Prozent der Evangelikalen an Wunderheilungen.

Aber wie und wann ist der Evangelikalismus eigentlich nach Frankreich gekommen? Historisch hatte es der im 16. Jahrhundert entstandene Protestantismus hier eher schwer und konnte sich nicht so ungehindert ausbreiten wie in anderen Ländern. Zunächst waren es die Katholiken, die Protestanten massiv unterdrückten – von dem Massenmord an den Hugenotten in der Bartholomäusnacht 1572 bis zum Edikt von Fontainebleau 1685, das die Menschen, die ihrem Glauben nicht abschwören wollten, ins Exil trieb.

Nach 1789 forderten die Anhänger der Französischen Revolution sogar die Abschaffung jeglicher Religion und schufen damit die Grundlage für die spätere Trennung von Kirche und Staat. Die ist in Frankreich seit 1905 Gesetz – bei gleichzeitig garantierter Glaubensfreiheit.

Der evangelikale Durchbruch erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als der von den USA aufgelegte Marshallplan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas von einer Diplomatie des Glaubens begleitet wurde. Frankreich war in den Augen der Amerikaner ein heidnisches Land, das es zurückzuerobern galt.6

Religiöser Marshallplan für die Heiden in Paris

Es war die Ära des Baptistenpastors Billy Graham (1918–2018), der in den 1950er Jahren weltweit auf Tournee ging und den Massen eine durch und durch US-amerikanische Mischung aus Kapitalismus, Demokratie und Evangelium predigte.

„Die Botschaft verblüfft durch ihre Plattheit und ihren Infantilismus“, stellte der französische Philosoph Roland Barthes fest, als er sich 1955 die Show des Erweckungspredigers im Pariser Vélodrome d’Hiver angeschaut hatte. Im Grunde sei Grahams Kampagne „nur eine McCarthy-Episode“. Der französische Atheismus interessiere Amerika nur, weil es ihn für ein Gesicht des Kommunismus halte.7

Die Missionare hatten indes nur mäßigen Erfolg in Frankreich, stellt der Historiker Autran fest: „Die Franzosen waren schlechte Gläubige mit einem lebhaften Misstrauen gegen Amerika. Frankreich war für die Missionen ein Friedhof.“ Nur bereits überzeugte Evangelikale fühlten sich durch die Dynamik und die Netzwerke der US-Prediger weiter bestärkt.

Hinzu kam die Attraktivität einer noch relativ neuen evangelikalen Strömung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den afroamerikanischen Vierteln von Los Angeles entstanden war. Die sogenannte Pfingstbewegung legt den Schwerpunkt auf die „Charismen“, Gaben des Heiligen Geistes, wie Sprechen in fremden Zungen, Prophetie, Heilungen und ekstatische Zustände. Mit ihren hochemotionalen Gottesdiensten war die Bewegung schnell auch bei den Weißen populär. 1915 wurde der internationale Verbund der Assemblies of God gegründet.

Eine entscheidende Rolle bei der Frankreich-Mission spielte der Engländer Douglas Scott (1900–1967), der vor seiner Bekehrung Barmusiker gewesen war. Eigentlich wollte er die belgische Kolonie Kongo missionieren, weshalb ihm geraten wurde, erst einmal Französisch zu lernen. So kam er nach Le ­Havre. 1932 war Scott einer der Mitbegründer der Assemblées de Dieu en France, die heute mit 40 000 Mitgliedern eine der wichtigsten evangelikalen Freikirchen Frankreichs ist.

Scott bildete auch den bretonischen Prediger Clément Le Cossec aus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Missionierung von Roma spezialisierte. Erst 1946 wurden die Roma aus den Internierungslagern des Vichy-Regimes entlassen, lange nach der Niederlage der Deutschen. Sie waren traumatisiert und lebten in großer Not – mit einer finanziellen oder auch nur symbolischen Wiedergutmachung des französischen Staats war nicht zu rechnen. Viele von ihnen waren für die Botschaft der Pfingstler empfänglich.

Le Cossec gründete 1954 die „Evangelikale Zigeunermission Licht und Leben“ (Mission évangélique des Tzi­ganes de France, Vie et Lumière), die heute mehr als 100 000 Mitglieder haben soll. Der Philosoph Régis Laurent, der viel über die Roma geforscht hat, sieht einen weiteren wichtigen Grund für den Erfolg der Pfingstbewegung bei den Roma: „Zum ersten Mal bekamen sie die Möglichkeit, selbst etwas zu verwalten, nämlich ihre eigene Kirche.“

Die Bewegung in Frankreich speist sich auch aus deren Verbreitung in verschiedenen afrikanischen Ländern und der Einwanderung ihrer Prediger nach Frankreich: „Viele Gemeindegründungen wurden ab den 1980er und 1990er Jahren von kongolesischen Pastoren angeführt“, berichtet der Anthropologe Damien Mottier. In anfangs noch sehr kleinen Kirchen hielten sie Gottesdienste in ihrer Landessprache ab und halfen außerdem auch bei der Beschaffung von Papieren, Arbeit und Wohnungen.

Veruntreute Spendengelder

Einige dieser Gemeinden verschwanden schnell wieder, andere hingegen wuchsen und diversifizierten sich, manchmal bis hin zu „kosmopolitischen Kirchen“ für Gläubige aus verschiedenen Ländern Afrikas und den Antillen. „Es sind Kirchen, die man als ‚afropäisch‘ bezeichnen könnte, die auch von jungen Franzosen der zweiten und dritten Generation besucht werden“, sagt Victoria Kamondji-Johnston, Vorsitzende des Frankofonen Verbands Afrikanischer Kirchen (CEAF), dem einige dieser Kirchen mit insgesamt 25 000 bis 20 000 Gemeindemitgliedern angehören.

Ein erheblicher Anteil der Gläubigen in diesen Kirchen sei akademisch gebildet und beruflich abgesichert, erklärt die Wissenschaftlerin Jeanne Rey.8 Diese Gemeinden hätten daher auch die Mittel, Immobilien zu erwerben, wie das „Christliche Impact Center“ (Impact Centre Chrétien) (ICC) in Croissy-Beau­bourg, „Charisma“ in Blanc-Mesnil und der „Christliche Verein für Evangelisierung und Erweckung“ (Association chrétienne pour l’évangélisation et le réveil), deren Mutterkirche sich in Montreuil befindet.

Es sind oft dynamische Pfingstgemeinden oder sogenannte charismatische Freikirchen, in denen ein Evangelium des Wohlstands gepredigt wird: Finanzieller Wohlstand sei ein Zeichen göttlichen Segens. Die Gläubigen werden aufgefordert oder dazu ermuntert, großzügig den zehnten Teil ihres Einkommens an die Kirche zu geben. Mitunter wird ein Teil direkt vom Kirchenvorstand eingesackt. Dies war etwa der Fall bei einem Pastor der Kirche „Gute Saat weitergeben“ (Bonne Semence Transmise) im Pariser Vorort Seine-Saint-Denis. Zwischen 2019 und 2022 hat der Mann mehr als 2 Millionen Euro an Spendengeldern veruntreut.9

In Umfragen zeigen sich viele Gemeindemitglieder – in Créteil wie in Marseille und in Seine-Saint-Denis – im Allgemeinen eher aufgeschlossen gegenüber politischen und sozialen Themen. Doch in moralischen Fragen sind sie ziemlich konservativ. Laut einer Umfrage von 2017 sprechen sich nur 39 Prozent der französischen Evangelikalen für die Ehe für alle aus – gegenüber 64 Prozent bei den übrigen Protestanten und 67 Prozent der Gesamtbevölkerung.10

Die Forderung nach einem Gesetz zum selbstbestimmten Tod unterstützen die Evangelikalen zu 54 Prozent (79 Prozent der übrigen Protestanten und 83 Prozent der Gesamtbevölkerung).

Für die Vertretung nach außen hat sich ein Teil der evangelikalen Freikirchen dem Protestantischen Kirchenbund Frankreichs (Fédération protestante de France, FPF) angeschlossen. Der FPF-Vizepräsident Christian Krieger sieht trotz aller Unterschiede den Willen zur Gemeinsamkeit: „Wir sind eine Familie, in der nicht alle in allem übereinstimmen, aber alle sich verpflichtet fühlen, miteinander respektvoll im Gespräch zu bleiben.“

Daneben sind im 2010 gegründeten Nationalen Rat der französischen Evangelikalen (Conseil national des évangéliques français, CNEF) sowohl fundamentalistische als auch tradi­tio­nel­le Kirchen vertreten, ebenso die europäischen Pfingstler der As­sem­blées de Dieu. Die Roma-Kirchen und die meisten afrikanischen Kirchen gehören ihm jedoch nicht an. Besonders deutlich hat sich der CNEF vom Evangelischen Kirchenbund abgesetzt, als er sich im Januar 2013 der Bewegung „Manif pour Tous“ (Demo für alle)11 gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und gegen Genderpolitik anschloss.

Auch in Bezug auf den Gesetzentwurf über Sterbehilfe ist der CNEF kompromisslos und verurteilt „jede Handlung, die zum Tode führt“. Um dieser Minderheitsmeinung in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, behauptet der CNEF, die große Mehrheit der Evangelikalen zu repräsentieren – was lediglich der Anzahl der von ihm vertretenen Kirchen nach stimmt, nicht aber nach Anzahl der Gemeindemitglieder.

Der Rat rühmt sich auch eines „exponentiellen“ Wachstums zwischen 1950 und 2023, ohne dies belegen zu können. Das Anwachsen der evangelikalen Bewegung steht zwar außer Frage, doch es kommt nur zum geringsten Teil von den im CNEF organisierten Kirchen. Bei Pfingstlern und Charismatikern ist immerhin ein leichtes Wachstum zu verzeichnen. Das Selbstbewusstsein des CNEF deutet jedoch darauf hin, dass er sich mit seinen politischen Forderungen ganz auf der Höhe der Zeit fühlt, decken sie sich doch mit den konservativen Vorstellungen vieler Wäh­le­r:in­nen.

Um seinen politischen Einfluss auszuweiten, hat der CNEF einen „pastoralen Dienst bei den Parlamentariern“ eingerichtet. Der zuständige Pastor der Assemblées de Dieu, Thierry Le Gall, bezeichnet sich selbst als „Hausseelsorger“. Zuvor leitete er viele Jahre die Unternehmenskommunikation bei Ferrero. Nach eigenen Angaben war er für „Marketing und Strategien zur Einflussnahme“ verantwortlich. Bei einem Treffen im November letzten Jahres ermahnte uns Le Gall: „Schreiben Sie ja nicht, dass ich Lobbyist bin.“ Dann erzählte er, dass er „an Fragen des Lebensendes“ arbeite, und zählte die vielen Par­la­men­ta­rie­r:in­nen auf, die er wegen des Gesetzentwurfs zur Sterbehilfe schon getroffen hat. Der Text steht nun voraussichtlich im Januar 2025 auf der Tagesordnung des Parlaments.

Der CNEF-Pressesprecher antwortete auf unsere Frage, ob Le Gall oder der CNEF daran gedacht haben, sich in das Lobbyregister bei der Nationalversammlung einzutragen: „Unsere Rechtsabteilung hat sich mit dem Thema befasst, doch als konfessionelle Organisation gilt das für uns nicht.“ Das politische Engagement ist wiederum als „Lausanner Verpflichtung“ der evangelikalen Kirchen von 1974 festgeschrieben, nach der die Gläubigen gehalten sind, „gemeinsam für die Evangelisierung der ganzen Welt zu beten, zu planen und zu wirken“.

Bleibt noch die Frage, wie sich die Evangelikalen in Frankreich finanzieren. In der Regel behaupten sie, unabhängig zu sein: Der „Zehnte“, den die Gläubigen zahlen – de facto zwischen 4 und 10 Prozent ihres Einkommens – soll die wesentlichen Kosten decken, also die Miete für die Räumlichkeiten und das Gehalt des Pastors, durchschnittlich 2000 Euro netto pro Monat. Hinzu kommt das Geld aus dem Ausland.

„Der Protestantismus – gemeint sind insbesondere die evangelikalen Kirchen – wird wie keine andere Religion aus dem Ausland finanziert, aus den USA, Brasilien und Afrika“, erklärte die Senatorin Dominique Vérien im vergangenen März vor dem Senatsausschuss, der sich mit der „Achtung der Grundsätze der Republik“ befasst. Zahlungen laufen beispielsweise über die US-Stiftung „Impact France“, die jedes Jahr rund 2 Millionen Euro nach Frankreich überweist, ausweislich der Steuererklärung hauptsächlich für „Gemeindegründung“ und „Missionierung“.

Aus Übersee wird auch Le Galls pastoraler Abgeordnetendienst finanziert. Doch auf Nachfrage wiegelt der CNEF-Sprecher ab: Es handle sich um „Einzelspenden“. Der CNEF-Präses teilte uns mit, dass etwa die Nachrichtenseite Top Chrétien „etwas Geld“ erhalte. Im Vorstand dieses evangelikalen Mediums mit einer täglichen Reichweite von rund 350 000 Le­se­r:in­nen sitzt allerdings der Gründer von „Impact France“, David Broussard. Insgesamt ist der Einfluss der USA auf die Evangelikalen in ganz Europa deutlich spürbar.

„Die christliche Rechte in Europa hat ihre Wurzeln in der globalen Ausbreitung der US-amerikanischen Kulturkämpfe“, meint die Soziologin Kristina Stoeck.12 Diese Bewegungen würden von den Evangelikalen der USA genährt und auch von der orthodoxen Kirche Russlands gefüttert. „Die europäische christliche Rechte ist eine transnationale und interkonfessionelle Bewegung, die von zwei dominanten Themen zusammengehalten wird: Anti-Gender und Angst vor Einwanderung. Beide Themen gehören zu einer Ideologie, und das ist der weiße christliche Nationalismus.“

Medien und Bischöfe gegen den Islam

Mehrere US-Akteure sind an diesem Ideologietransfer nach Europa beteiligt, allen voran die „Alliance Defending Freedom“ (ADF), eine von Evangelikalen gegründete Lobbygruppe, deren Anwälte maßgeblich an der Aufhebung des Rechts auf Abtreibung durch den Supreme Court im Juni 2022 beteiligt waren.13 In Europa verfolgt die ADF die gleiche Strategie und setzt sich über Gerichtsklagen für ihre Ziele ein, insbesondere vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.14 Laut ihrer Steuererklärung hat die Organisation in den letzten drei Jahren zwischen 4 und 6 Millionen Euro pro Jahr für ihre europäischen Aktivitäten ausgegeben.

Das mächtige evangelikale American Center for Law and Justice (ACLJ) – ihr Vorsitzender, der Anwalt Jay Alan Sekulow, hat unter anderem Donald Trump verteidigt – gründete 1998 einen Ableger in Straßburg: das European Center for Law and Justice. Es beteiligt sich an zahlreichen politischen Debatten in den europäischen Gre­mien, in denen es um seine Lieblingsthemen geht: die „Verteidigung von Familie und unschuldigem Leben“ und die „Wahrung der Freiheiten gegenüber dem Islam“.

Diese Ideen wirken auch in andere europäische Organisationen hinein. So wurde die ECLJ-Agenda mehrfach vom evangelikalen Komitee für die menschliche Würde (Comité Protestant évangélique pour la Dignité Humaine) aufgegriffen. Dessen Vorsitzender Franck Meyer, Dorfbürgermeister in der Normandie und an der Seite von Le Gall evangelikaler Politaktivist, war einer der Sprecher der „Manif pour tous“, wo es zum politischen Schulterschluss mit den Konservativen kam.

Wie vorteilhaft diese Verbindung ist, zeigt sich in den Medien. Chantal Barry von ZeWatchers, einer Produk­tions­firma für christliche Filme, und Erfinderin der Realityshow „Bienvenue au monastère“ (Willkommen im Kloster), erklärte, man werde noch mehr in mediale christliche Inhalte investieren. Zu ihren Mitstreitern bei ZeWatchers gehört etwa Eric Célérier, Mitgründer von Top Chrétien. Barry ist auch eine Vertraute des Medienmoguls und glühenden Katholiken Vincent Bolloré – kein Wunder, dass die Programme von ZeWatchers einen festen Sendeplatz beim Bolloré-Kanal C8 haben.

Barry und Célérier sind auch im Vorstand der Martin-Luther-King-Kirche und predigen gelegentlich dort. Der Oberpfarrer der Gemeinde, Ivan Carluer, ließ 2022 die Moderatorin von CNews (einem anderen Bolloré-Sender), Christine Kelly, vor laufender Kamera ein Glaubensbekenntnis ablegen.

Kelly ist im Präsidentschaftswahlkampf 2022 auch mit dem Ex-CNews-Moderator und damaligen Kandidaten Éric Zemmour15 aufgetreten, dessen Partei Reconquête zur „Verteidigung eines christlichen Europa“ sich programmatisch stark an der „christlichen europäischen Rechten“ orientiert.

Ostern wurde ein Gottesdienst mit Ivan Carluer und dem katholischen Bischof von Fréjus-Toulon, Dominique Rey, auf C8 übertragen. Rey, der den Islam als „eine Gefahr für unsere Gesellschaft“ bezeichnet, wirbt dafür, „sich auf unsere christliche Identität zu besinnen“. 2015 hatte er Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal, damals Abgeordnete des Front National, zu seiner Sommeruniversität eingeladen.

Diesen christlichen Mikrokosmos beschreibt der Soziologe Philippe Gon­za­lez als Sammelbecken „religiöser Minderheiten mit expansionistischer Neigung und der Sehnsucht nach Rückgewinnung der zivilisatorischen Oberhoheit“. Die Religionswissenschaftlerin Anne-Laure Zwilling sieht es ähnlich: „Die christlich-konservativen Ränder sind eine Minderheit, aber eine sehr laute. In Europa setzt man im Umgang mit ihnen auf die traditionellen Ins­tru­mente zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, indem man ihnen das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit lässt, solange nichts überhand nimmt.“

Aber genügt das? Die Gruppierungen nutzen völlig legale Mittel der Einflussnahme, um ihre Botschaft zu verbreiten. In den USA und mittlerweile auch in Europa treten sie sogar selbst als Verfechter der Meinungs- und Religionsfreiheit beziehungsweise der Menschenrechte auf. Mit dieser Rhetorik werden sie in der Gesellschaft eher akzeptiert als der im Namen Gottes geführte Kampf gegen Abtreibung.

„Demokratisierung und Säkularisierung begünstigen die Entwicklung solcher Gruppen“, stellt der Rechtssoziologe David Koussens fest. „Sie machen deren politisches Engagement erst möglich – mit dem paradoxen Effekt, dass sie zur Wiedereinführung religiöser Normen in die Gesetzgebung beitragen, die im Widerspruch zu den demokratischen und säkularen Fortschritten stehen.“

Was die Verbindung von Religion und Gesetzgebung für Folgen hat, lässt sich in den USA oder Brasilien besichtigen. Frankreich hat dagegen schon ­eine Brandmauer errichtet: Im März 2024 wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert.

1 Siehe das Exzerpt von Todd Johnson aus der „World Christian Encyclopedia“, (Edinburgh University Press) vom 25. März 2020.

2 „About Three-in-Ten U.S. Adults Are Now Religiously Unaffiliated“, Pew Research Center, 14. Dezember 2021.

3 „Key Findings From the Global Religious Futures Project“, Pew Research Center, 21. Dezember 2022.

4 Lucas Drouhot, Patrick Simon und Vincent Tiberj, „La diversité religieuse en France: transmissions intergénérationnelles et pratiques selon les origines“, Insee Référence, Ausgabe 2023.

5 Siehe Miviludes (Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires), Tätigkeitsbericht 2021, 27. April 2023.

6 Siehe Jean-Marie Autran, „La France, terre de mission américaine“, Paris (Editions Vendémiaire) 2017.

7 Roland Barthes, „Billy Graham im Vélodrome d’Hiver“, in: „Mythen des Alltags“, Frankfurt am Main (edition suhrkamp 92) 1964, S. 11–15.

8 Jeanne Rey, „Reconfigurations diasporiques des réseaux pentecôtistes franco-suisses. Enjeux éducatifs, économiques et sociaux“, Les études de la Chaire Diaspo­ras Africaines, Nr. 4, 2021.

9 Fleur Tirloy-Tiran und AFP (Agence France-Presse), „Un pasteur évangélique condamné pour le dé­tourne­ment de plus de deux millions d‘euros“, Franceinfo, 19. Januar 2024.

10 Stéphane Zumsteeg und Mathieu Gallard, „En­quête ­auprès des protestants“, Ipsos Public Affairs, Oktober 2017.

11 Massenproteste unterschiedlichster Gruppen gegen Genderpolitik und den Gesetzentwurf zur Ehe und Adoption für alle. Das Gesetz wurde im Februar 2013 verabschiedet.

12 Gionathan Lo Mascolo (Hg.), „The Christian Right in Europe. Movements, Networks, and Denominations“, Bielefeld (Transcript) 2023.

13 Alliance Defending Freedom, „What You May Not Know: How ADF Helped Overturn Roe v. Wade“, 3. Mai 2023.

14 Siehe Pierre Jova, „Euthanasie: la CEDH condamne la Belgique et désavoue la commission de contrôle“, La Vie, Paris, 4. Oktober 2022.

15 Zu Zemmours Karriere siehe Marie Bénilde, „Bolloré und sein Kandidat“, LMd, Januar 2022.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Eva Thiébaud ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Eva Thiébaud