12.12.2024

Chinas sinkende Städte

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Chinas sinkende Städte

Bauboom, schwindendes Grundwasser und der steigende Meeresspiegel gefährden die großen Ballungszentren an der Küste

von Shi Ming

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Für die Bewohner der nordostchinesischen Küstenstadt Panjin brachten die Tage vom 19. bis zum 21. Oktober 2024 eine böse Überraschung: Meerwasser drang in die ehemalige Ölstadt an der Bohai-Bucht. Die schmutzigen, salzigen Wassermassen überschwemmten die Straßen und Keller, zum Teil auch die unteren Stockwerke.

Betroffen von der historischen Flut waren dutzende Städte an der 14 500 Kilometer langen Küste Chinas: An der Bohai-Bucht die Städte Dalian im Norden, Tianjin in der Nähe der Hauptstadt Peking und Yantai im Süden, am Ausgang zur Koreabucht; in der Provinz Jiangsu weiter südlich Lianyungang, Nandong und Schanghai; auf der Insel Hainan ganz im Süden, gegenüber der vietnamesischen Küste, die Stadt Sanya (siehe Karte).

Langfristig müssen die möglichen Konsequenzen solcher Katastrophen alarmieren: An der Ostküste werden fast 80 Prozent der Wirtschaftsleistung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt generiert. Wenn sich solche Flutereignisse wiederholen, werden die sozioökonomischen wie politischen Auswirkungen gewiss nicht nur China treffen.

Man kann davon ausgehen, dass die Überflutungen auch mit dem steigenden Meeresspiegel im Zuge des Klimawandels zu tun haben. Offiziell ist davon jedoch nicht die Rede. Der Allchinesische Wetterdienst führte die Katastrophe auf eine Kombination aus Sturmflutfaktoren und einer speziellen astronomischen Gezeiten­konstella­tion zurück. Nur: Derartige Springfluten kommen alle paar Jahre vor, aber sie richten nicht annähernd vergleichbare Schäden an. Das bestätigten chinesische Meteorologen auf einer Fachwebsite: „Ein derartiges Phänomen ist bisher weder in China noch irgendwo anders in der Welt beobachtet geworden.“ Den Klimawandel als Faktor erwähnten aber auch sie nicht.

Aufschlussreicher waren Äußerungen von Chinas Geologen und Hydrologen. Ihre Erklärung: Schon lange vor dem Anstieg des Meeresspiegels begannen Chinas Küstenstädte abzusinken, und zwar schon seit Jahrzehnten. Die Hauptursache sehen sie im fallenden Grundwasserspiegel. Anders als ihre Kollegen Meteorologen räumen sie ein, dass die Probleme „hausgemacht“ und durch „menschliche Aktivitäten“ verursacht seien. Doch auch sie wagen nicht, die brisanten Hintergründe zu enthüllen, vor allem nicht die Rolle, die der Staat dabei spielt.

Seit den 1970er Jahren, als sich Chinas Zentralregierung rühmte, die Industrialisierung und Modernisierung des Landes durch die Ausbeutung ergiebiger Lagerstätten von Öl, Gas und Kohle voranzutreiben, registrierten Geologen rund um die Bohai-Bucht einen beständig sinkenden Grundwasserspiegel. Panjin auf der Nordseite und das Shengli-Ölfeld auf der Südseite der größten Bucht Chinas waren einst die wichtigsten Regionen für die Öl- und Gasversorgung des gesamten Landes, und sie sind bis heute wichtig.

In der nordchinesischen Ebene, mit einer Gesamtfläche von 300 000 Qua­drat­kilometern so groß wie Italien, wurde im Laufe der Industrialisierung immer mehr Grundwasser entnommen. Dadurch ist der Boden an zahlreichen Stellen trichterförmig eingebrochen. Die Ebene ist übersät mit solchen Trichtern, von denen sich der tiefste 1000 Meter in die Erde senkt.

Nach Messungen von Geologen ist etwa die Hälfte der riesigen Ebene in den letzten Jahren um 20 Zentimeter gegenüber dem Meeresspiegel abgesunken. Die größte Hafenstadt in Nordchina, Tianjin, sackt jährlich um 5 Zentimeter ab. Zum Vergleich: Jakarta, die Hauptstadt von Indonesien, sinkt jährlich um 3,3 Zentimeter. Die indonesische Regierung hält die Stadt für so bedroht, dass sie ihre Hauptstadt verlegt. Die Einwohnerzahl von Jakarta liegt bei gut 10 Millionen. Sollte Tianjin einmal dramatisch absinken, wären mindestens 14 Millionen Menschen betroffen.

Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte die Führung in Peking beschlossen, in ganz China auf Intensivlandwirtschaft zu setzen. Wie bei der Erschließung fossiler und anderer natürlicher Ressourcen galt auch hier: mit allen Mitteln und um jeden Preis.

Neue Brunnen wurden gebohrt, alte vertieft. Wenn die Grundwassermenge nicht ausreichte, wurden Bäche und Flüsse angezapft, das Wasser durch Kanäle geleitet, vielerorts sogar bergauf gepumpt; alles um den Hektarertrag zu erhöhen. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre machte die Wasserentnahme für die Intensivlandwirtschaft bereits 80 Prozent des gesamten Wasserverbrauchs im Land aus.

Im Zuge des „Großen Sprungs nach vorn“ (1958–1961) sollte die Landwirtschaft planbarer und widerstandsfähiger gegen Naturkatastrophen gemacht werden, daher wurden rund 50 000 Stauseen angelegt. Bis heute ist ihre Zahl auf 80 000 gestiegen.

Die zahlreichen Wasserreservoirs an den Flüssen Nordchinas haben die Durchflussmengen reduziert. In der Folge lagerten sich an den Flussmündungen weniger Sedimente ab, so dass das schwindende Schwemmland das eindringende Meerwasser nicht mehr aufhalten kann.

Nirgends macht sich diese komplexe Wirkungskette so deutlich bemerkbar wie am Gelben Fluss. Der zweitgrößte Fluss Chinas ist lebenswichtig für die nordchinesische Ebene sowie für die Ebene zwischen dem Gelben und dem Huai-Fluss in Zentralchina. Alle Anrainerprovinzen des Flusses wetteiferten, immer größere Stauseen anzulegen, um die Intensivlandwirtschaft und später auch die Industrie mit Wasser versorgen zu können.

Seit Anfang der 1970er Jahre ist der Gelbe Fluss deshalb immer wieder ausgetrocknet, im Zeitraum von 1972 bis 1979 durchschnittlich sechsmal im Jahr für sieben Tage, und zwar auf einer Länge von 130 Kilometer von der Mündung landeinwärts. In den 1980er Jahren wurde das Phänomen häufiger, bis zu siebenmal jährlich und auf 150 Kilometern landeinwärts. Anfang der 1990er versickerte der Fluss für durchschnittlich 56 Tage im Jahr, auf einer Länge von 500 Kilometern. Das Jahr 1997 brachte dann den erschreckenden Rekord von 226 Tagen, an denen er auf bis zu 700 Kilometern trockenfiel.1

29 Talsperren am Jangtsekiang

Daraufhin ordnete die Zentralregierung 1998 an, dass jede der Anrainerprovinzen nur ein bestimmtes Kontingent Wasser aus dem Fluss entnehmen dürfe, egal ob dies für ihre ambitionierten Entwicklungsziele ausreichte. Das hatte unter anderem zur Folge, dass die vier nordwestchinesischen Provinzen am Oberlauf des Gelben Flusses bis heute als das Armenhaus Chinas gelten.

Auch die Industriestädte in Zentralchina hängen vom Wasser des Gelben Flusses ab, etwa Zhengzhou und Luoyang in der Provinz Henan mit jeweils über 10 Millionen Einwohnern, für deren Ernährung zudem Intensivlandwirtschaft betrieben wird. Und bereits Ende der 1950er Jahre wurde das Sanmenxia-Wasserkraftwerk gebaut, um das größte Motorenwerk Chinas, die Luoyang-Traktorenfabrik (die auch Panzermotoren herstellt), mit Energie zu versorgen.

Obwohl das rasante Anwachsen der Stadtbevölkerungen erst nach dem Ende der Kulturrevolution 1976 einsetzte, spitzte sich die Wasserknappheit – insbesondere in Nordchina und in der Region um die Bohai-Bucht – bereits deutlich früher zu. Und je schneller die Verstädterung fortschritt, desto mehr verschärfte sich die Lage, nicht nur im Norden, sondern landesweit.

Ende der 1950er Jahre hatte Peking knapp 7 Millionen Einwohner, Ende 2023 waren es an die 22 Millionen. Schanghais Bevölkerung wuchs zwischen 1978 und 2023 von 10 auf 23 Millionen, die von Shenzhen nahe Hongkong von 1,6 Millionen im Jahr 1991 auf 21 Millionen bis 2022.

Der drastische Zuwachs der Stadtbevölkerungen ist allerdings nur einer der Faktoren, die das Absinken des Grundwasserspiegels – und damit auch der Städte selbst – beschleunigen. Experten schätzen, dass rund ein Viertel des chinesischen Küstenlands bis zum Jahr 2120 unter dem Meeresspiegel liegen wird.2

Im Jahr 1978 lag der Wasserverbrauch pro Kopf und Tag in Städten wie Tianjin, Schanghai, Peking und Shenzhen noch bei 60 Liter. Ende der 1990er Jahre waren es schon 230 Liter. Der Boom unter der Regie des Staatskapitalismus hatte eben auch höhere Ansprüche an Komfort bei der Stadtbevölkerung zur Folge.

2014 berichtete der KP-Organ Renmin Ribao, dass der Wasserverbrauch in Peking bei 170 Prozent des durchschnittlichen Verbrauchs in Deutschland liege – wobei der Jahresniederschlag in Peking etwa auf dem Niveau von Dortmund liegt. Ein Jahr vor dem Bericht, 2013, bezifferte Remin Ribao die Bedarfslücke für Chinas Hauptstadt auf jährlich 1,5 Milliarden Kubikmeter allein für Trinkwasser. Rechnet man noch den Gemüse- und Obstanbau zur Versorgung der Bevölkerung hinzu, sind die Lücken im gesamten Wassermanagement noch sehr viel größer.

Dabei gilt der Grundsatz, dass Großstädte und Großprojekte in China gegenüber ländlichen Regionen Vorrang bei der Wasserversorgung haben.

Einige Beispiele: Um die Wasserversorgung während der politisch bedeutsamen Olympischen Spiele 2008 in Peking sicherzustellen, wurden fünf Reservoirs in der nordchinesischen Provinz Hebei, die ländliche Regionen versorgten, für zwei Monate gesperrt. Rechnet man gesperrte Stauseen in den Nachbarprovinzen Shanxi und der Inneren Mongolei hinzu, waren 15 Mil­lio­nen Menschen betroffen.

Für die Hauptstadt Peking muss das Miyun-Wasserreservoir ohnehin ständig genügend Wasser zurückbehalten, auch bei schwerer Dürre. Missernten an Getreide im Umland werden dafür in Kauf genommen.

2022 wurden nahe der Provinzhauptstadt Zhengzhou die Deiche geöffnet, als die Reservoirs oberhalb der 13-Millionen-Einwohner-Stadt große Regenmengen nicht mehr aufnehmen konnten. Von der damit ausgelösten Flut waren hunderte Dörfer in der Umgebung betroffen.

Um die ökonomisch wichtige Region um das Delta des Gelben Flusses abzusichern und die „ökologische Durchflussmenge“ aufrechtzuerhalten, reduziert Chinas Zentralregierung die Wasserentnahmen, indem sie die vier „Armenhaus“-Provinzen in Nordwestchina am Oberlauf des Flusses finan­ziell entschädigt.

Diese Hierarchisierung ließ einen Teufelskreis entstehen: Neben der stetigen Landflucht von Arbeitssuchenden in die Industriestädte – die es in vielen Ländern der Welt gibt –, kommt in China aufgrund der Priorisierung der Versorgung von Städten ein weiterer Grund hinzu: Wer Notfälle, etwa Naturkatastrophen, überleben will, muss in die Stadt, nach Möglichkeit in eine der wichtigen Küstenstädte.

Heutzutage zählt China laut nationalem Statistikbüro knapp 300 Millionen Wanderarbeiter, die meisten in den Ballungszentren. Und je stärker dort die Bevölkerung wächst – und damit die Notwendigkeit, deren Versorgung mit allen notwendigen Ressourcen zu gewährleisten –, desto mehr nehmen auch die Ursachen für die Landflucht zu. Opfer dieses Teufelskreises werden am Ende auch die Küstenstädte selbst, weil sie wegen des fallenden Grundwasserspiegels geologisch immer weiter absinken.3

Für Nordchina, insbesondere die nordchinesische Ebene an der Bohai-Bucht, bedeutet diese Entwicklung mittlerweile auch einen großflächigen Notstand bei der Wasserversorgung. Laut der chinesischen National Development and Reform Kommission (NDRC) sind davon 400 Städte betroffen, darunter 110 „stark“. Und alle liegen in Nordchina.

Je schneller die städtische Bevölkerung wächst, zusätzlich beschleunigt durch die Immobilienspekulation seit 2000, desto mehr setzt sich in allen chinesischen Millionenstädten der Hochhausbau durch. Um die Statik und Sicherheit zu garantieren, kommt fast ausschließlich bewehrter Beton zum Einsatz, der bei sehr hohen Gebäuden obligatorisch ist.

Laut einer Studie der National Academy of Sciences der USA aus dem Jahr 2022 ist die Bauhöhe an der ostchinesischen Küste im Durchschnitt doppelt so hoch wie in den USA.4 Bis heute wetteifern Chinas Großstädte immer noch darum, wer den höchsten ­Tower baut: 632 Meter in Schanghai ist die vorläufige Spitze.

Für den Klimaschutz ist diese Bauweise besonders folgenreich: die Zementproduktion macht weltweit 8 Prozent der Treibhausgasemission aus. In China liegt der Wert laut dem Macro and Green Finance Lab der Universität Peking bei 12 Prozent, denn über 50 Prozent der globalen Zementproduktion entfällt auf China. Damit werden nicht nur die Emissionen erhöht, sondern auch der prekäre Grundwasserhaushalt weiter belastet.

Um Hochhäuser mit Grundwasser zu versorgen, werden starke Pumpen benötigt, die das Wasser hoch genug befördern. Je mehr derart leistungsstarke Pumpen im Einsatz sind, desto schneller und dauerhafter wird der Grundwasserspiegel abgesenkt. Laut der Wasserbehörde von Peking ist zwischen 2000 und 2011, als der Hochbau seinen ersten Höhepunkt erreichte, der Grundwasserspiegel um 9 Meter gefallen. 1980 stieß man noch in einer Tiefe von 7,6 Metern auf Grundwasser, 2022 erst bei 26 Metern. Und das trotz der Kompensation durch Wasser, das wieder in die Erde gepumpt wird.

Zugleich erhöht sich aufgrund der Betonmassen der Druck auf der Erdschicht. 2003 berichtete der China Daily, dass die Metropole Schanghai pro Jahr durchschnittlich um 1,5 Zentimeter absinkt (zum Vergleich: New York City sinkt jährlich um 1 bis 2 Millimeter). Zu dem Zeitpunkt gab es in Schanghai über 3000 Gebäude mit mehr als 18 Stockwerken, mehr als 7000 waren im Bau. Die Stadtregierung ordnete daraufhin an, dass für jeden entnommenen Kubikmeter Grundwasser zwei Kubikmeter Flusswasser in die Erdschicht gepumpt werden müssen. Das Absinken verlangsamte sich in der Folge auf knapp 10 Millimeter pro Jahr. Doch selbst damit sinkt Schanghai ­etwa fünfmal so schnell wie New York.5

Ein weiterer Teufelskreis entstand durch den Zuzug in die Städte. Damit wurde das Bauland knapp, also baute man noch mehr Hochhäuser mit noch mehr bewehrten Beton. Dementsprechend erhöhte sich das Baugewicht, mit der Folge, dass die Städte weiter absinken. Um sie zu retten, wird noch mehr Wasser aus Flüssen abgeschöpft, das man zum Ausgleich in die Tiefe pumpt. Notfalls im Verhältnis 2 zu 1, wie in Schanghai.

In Nordchina gefährdet der Wassermangel, der ab 2003 in Wasserknappheit umschlug, die Landwirtschaft und die weitere Industrialisierung. Im Mündungsgebiet des Gelben Flusses in der nördlichen Küstenregion droht deswegen ein dauerhaft niedriger Wasserpegel. Seit der völligen Austrocknung von 1998 hat sich der Fluss zwar teilweise wieder erholt. Doch seit einigen Jahren versiegt er wieder phasenweise an seinem Unterlauf. Langfristig wird es an der Mindestdurchflussmenge fehlen, die dem Vordringen von Meerwasser Einhalt gebietet. Das wird künftig nicht nur ab und zu mit den Gezeiten hereindrücken, sondern insbesondere wegen der Klimaerwärmung regelmäßig und mit steigender Wucht ins Landesinnere vordringen.

Anders war die Ausgangssituation zunächst im wasserreichen Einzugsgebiet des Jangtse-Flusses. Jahrzehntelang reichte das Wasser aus dem mächtigen Strom und seinen Nebenflüssen sowohl für die Intensivlandwirtschaft als auch für den Bedarf der wachsenden Städte aus.

Dies begann sich zu ändern, als die Energiepolitik der chinesischen Regierung nach 1965 stärker auf Stromgewinnung durch Wasserkraft setzte. Damit entstanden am Oberlauf des Jangtsekiang immer mehr gigantische Wasserkraftwerke. Heute existieren auf einer Länge von 1800 Kilometern mit einem Gefälle von 900 Metern von West nach Ost 29 Talsperren und sechs gigantische Wasserkraftwerke. Am bekanntesten sind der Drei-Schluchten-Staudamm bei Chongqing und die Talsperren Gezhouba bei Wuhan und Xiangjiaba auf dem osttibetischen Hochplateau.

Chinas Industrielenker prahlen damit, dass diese Giganten an Spitzentagen im Jahr 2023 zusammen 1400 Gigawattstunden Strom erzeugt hätten. Mit der Stromerzeugung aus Wasserkraftwerken allein könne man bis zum Ende des 21. Jahrhunderts den gesamten Strombedarf Chinas decken. Dieser lag 2023 allerdings bei rund 23 000 Gigawattstunden pro Tag. Mit Blick auf den Klimaschutz wird der Stromerzeugung aus Wasserkraft das ruhmreiche Etikett „Chinas Corridor of Clean Energy“ verliehen.

Unerwähnt bleiben selbstverständlich die Schattenseiten, beginnend mit der Tatsache, dass der am Oberlauf erzeugte Strom über Trassen bis 3000 Kilometer flussabwärts transportiert werden muss, um die Ballungsgebiete nahe dem Jangtse-Delta, also das industrielle Herzstück Chinas, zu versorgen.

Wassertransfer vom Süden in den Norden

Um eine stabile Stromversorgung zu gewährleisten, halten die Stauseen am Oberlauf des Jangtsekiang Wassermengen in astronomischer Menge zurück, und das saisonal über Monate, meist entgegen dem Zyklus der Regen- und Trockenzeiten. Das heißt, im Winter stauen die Talsperren Milliarden Kubikmeter Wasser zurück, wodurch die Knappheit am Mittel- und Unterlauf verstärkt wird.

Im Spätfrühling und in den Sommermonaten dagegen, wenn die Regenzeit einsetzt, werden die Talsperren geöffnet und damit auch die überfüllten Stauseen entlastet. Die freigesetzten Wassermengen lösen dann häufig Hochwasserkatastrophen am Mittel- und Unterlauf aus.

An zahlreichen größeren Nebenflüssen des Jangtse, an denen mittlerweile ebenfalls Staustufen entstanden sind, wird ähnlich verfahren. Damit wurden die angestauten Wassermengen zusätzlich erhöht. Ähnlich wie beim Gelben Fluss neigen auch die Anrainerprovinzen des Jangtse dazu, für alle Fälle ausreichende Wassermengen zum eigenen Bedarf zurückzuhalten. Damit kommt eine Entwicklung in Gang, die immer mehr den Zuständen in Nordchina ähnelt.

In Nordchina hatte sich der Wassermangel bis 2002 dermaßen verschärft, dass die Zentralregierung beschloss, bis zu 6 Prozent der Fließwassers aus dem Jangtse über gigantische Kanalsysteme nach Norden umzuleiten. Damit war auch die Versorgung der Hauptstadt Peking gesichert. 2013 wurde die 1100 Kilometer lange „Ostroute“ fertiggestellt. Ein Jahr später floss auch über die 1200 Kilometer lange „Mittlere Route“ Jangtse-Wasser nach Norden, mit dem Ziel, die übrige nordchinesische Ebene zumindest zu entlasten.

Addiert man die abgeleitete Wassermenge zu den zurückbehaltenen Wassermengen am Ober- und Mittellauf des Jangtse, wird verständlich, warum der Wasserstand am Unterlauf seit Mitte der 1990er Jahre fällt, und zwar seit 2016 immer schneller und anhaltender. Szenarien, die man zuvor nur vom Gelben Fluss kannte, zeichnen sich jetzt auch am Jangtse ab: Bereits 2018 wurde in einem Aufsatz im Fachmagazin Journal of Lake Science die Wahrscheinlichkeit einer Austrocknung am Mittel- und Unterlauf des Jangtse auf 80 bis 85 Prozent beziffert.

Als Folge der über längere Zeiträume zurückbehaltenen Wassermengen sinken auch die Wasserspiegel der größten Südwasserseen in Zentralchina dramatisch. Die Fläche des zweitgrößten Sees Chinas, des Dongting in Hunan, schrumpfte von 4500 Quadratkilometern zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf 2700 Quadratkilometer im Jahr 2022. Der größte See, der Boyang in Jiangxi, verlor im gleichen Zeitraum 90 Prozent seiner Wasseroberfläche.

Das Jangtse-Delta und sein Einzugsgebiet an der Küste registriert saisonal immer größere Wasserdefizite. Damit nimmt auch die Kraft der Strömung ab, die dem eindringenden Meerwasser entgegenwirken könnte. Deshalb ist das Mündungsgebiet immer häufiger durch das Eindringen vom Meerwasser bedroht. 2014 drückte das Meerwasser bei Schanghai für neun Tage bis zu zehn Kilometer Tiefe ins Landesinnere hinein. Dabei erreichte das salzige Nass auch das größte Süßwasserreservoir für die Metropole, Qingcaohu, und gefährdete damit die Trinkwasserversorgung von 23 Millionen Menschen.

Ähnlich wie am Gelben Fluss, doch in weit größeren Dimensionen, werden vom Jangtse nicht genügend Sedimente abgelagert, um das Schwemmland an der Flussmündung aufzufüllen – und so zu verhindern, dass das Flussbett unter den Meeresspiegel sinkt. Und anders als in Nordchina, stehen nahe des Jangtse-Deltas zahlreiche Megastädte auf einem Untergrund aus weichen Lehmschichten, was das Ab­sacken infolge der zunehmenden Baudichte begünstigt.

Seit Jahren kündigt Chinas Regierung an, Megastädte und Ballungsgebiete an der Küste entflechten zu wollen. Mehr Menschen sollen wieder landeinwärts ziehen. Doch angesichts der Attraktivität der Städte und aufgrund der staatlichen Priorisierung von Ballungszentren auf Kosten der ländlichen Gebiete, sind solche Vorhaben schwer durchzusetzen. Die Städte wachsen weiter – wenn auch nicht mehr so schnell wie früher. Und sie sinken weiter ab, während der Meeresspiegel steigt.

Im April 2022 wurden ausnahmsweise einmal rigorose Maßnahme gegen die Krise ergriffen, auf die Küstenstädte wie Schanghai zusteuern. Als das Meerwasser sogar in Schanghai eindrang, ordnete die Zentralregierung an, die Schleusen der großen Talsperren einschließlich des Drei-Schluchten-Staudamms zu öffnen. 140 Mil­lio­nen Kubikmeter Wasser rauschten binnen sieben Tagen den Fluss hinunter. Die Rettung Schanghais ging über alles – auch über die Stromerzeugung und den Bedarf der Anrainerregionen. Doch an den Ursachen des Problems, der staatspolitisch verordneten – beziehungsweise geförderten – geologisch-hydrologischen Zerstörung hat sich bislang nichts geändert.

Heute hängt Chinas ökonomisches Gedeihen von drei Ballungszentren an der Küste ab: Peking nahe der Bohai-Bucht im Norden, Schanghai am Jang­tse-­Del­ta in der Mitte und Guangzhou und Hongkong am Mündungsgebiet des Perlflusses. Nur letzteres Delta blieb von der Zerstörung seiner Bodenstruktur einigermaßen verschont: Die Absenkung der Schwemmlandebene ist hier weniger dramatisch und beschränkt sich meist auf Flächen, die dem Meer abgerungen wurden, wie Teile der Metropole Shenzhen. Die Me­tro­po­len­re­gion Guangzhou ist nur an ihrer Peripherie von der Absenkung des künstlich gewonnenen Landes betroffen.

Angesichts der Riesenprobleme entlang der chinesischen Küste klingt es fast schon beruhigend, dass die Flut auf der Insel Hainan im September 2024 ausschließlich auf die Erwärmung des Meeres zurückzuführen war. Die löst im tropischen Südchina sehr viel häufiger Extremwetterereignisse aus – etwa den Megataifun „Yagi“, der die Küstenstadt Sanya traf. Dass „nur“ der Taifun schuld war, mutet angesichts all der anderen Probleme fast beruhigend an – ein Aberwitz.

1 Siehe Michael Webber, Jon Barnett, Mark Wang, ­Brian Finlayson und Debbie Dickinson, „The Yellow River in transition“, Environmental Science & Policy, Band 11, 5. August 2008.

2 „A national-scale assessment of land subsidence in China’s major cities“, Science, April 2024.

3 „Megastädte versinken im Boden“, taz, 1. Mai 2014.

4 Yuyu Zhou, Li Xuecao, Wei Chen und Lin Meng, „Satellite mapping of urban built-up heights reveals ex­treme in­fra­struc­ture gaps and inequalities in the Global ­South“, PNAS, November 2022.

5 Siehe Luwen Tan, Yuxin Xie, Chaomin Chen, Hasi Bagan und Takahiro Yoshida, „Urbanization and land subsidence: multi-decadal investigation combined SBAS-InSAR and multi-factors in Shanghai, China“, Geocarto International, Band 39/1, 2024.

Shi Ming ist freier Journalist.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Shi Ming