12.12.2024

Die neun Drachen ertrinken

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Die neun Drachen ertrinken

In Vietnam droht das Mekongdelta zu versinken – und mit ihm das größte Reisanbaugebiet des Landes

von Maïlys Khider

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Juni 2024. Die Regenzeit hat gerade begonnen, doch nur selten gibt es Schauer. Auf den Feldern von Phương Thạnh in der Provinz Trà Vinh, mitten im Mekongdelta im Süden Vietnams, stehen die Drachenfruchtbäume mit ihren Kaktusarmen ordentlich in Reih und Glied. Hochgewachsene Kokospalmen schauen von oben auf sie herab.

Die ländliche Stille wird nur gestört vom Meckern der Ziegen in einem Blechverhau und ein paar bellenden Hunden. Zwischen den Drachenfrucht- und Kokosplantagen liegen Parzellen, auf denen Reispflanzen ihre Halme aus dem wenige Zentimeter hohen Wasser strecken.

Mit einem leuchtend orangefarbenen Kanister auf dem Rücken bringt Bao1 eine Düngermischung aus. Um auf die Reisfelder zu gelangen, muss er auf einem kaum 20 Zentimeter breiten Baumstamm, einer sogenannten Affenbrücke, einen Kanal überqueren. Barfuß und mit der Sichel in der Hand beginnt Bao ab 6 Uhr morgens den halben Hektar zu beackern, an dem er Nießbrauchsrecht hat.

Als wir ihn nach seiner Ernte fragen, bückt er sich und befühlt ein paar Halme: „Schauen Sie, die sind gelb. Und manche Ähren sind leer. Zurzeit regnet es weniger, und es ist sehr heiß.“ Das mag der Reis gar nicht. Für die Bewirtschaftung von einem Hektar Reisfeld braucht es 30 000 Liter Süßwasser. Der Meeresspiegel steigt jedoch allmählich an, und das Bodenwasser wird umso salziger, je weniger Regen fällt, der das Salzwasser verdünnen würde. Das wirkt sich auch auf die Ernte aus, die immer magerer ausfällt. Die vermeintliche Lösung ist dann wie so oft, mehr chemischen Dünger einzusetzen.

„Die Natur hat sich hier stark verändert“, erzählt Bao. „Als ich klein war, gab es in den Reisfeldern Krebse und Fische. Doch die sind wegen all der Substanzen im Wasser längst verschwunden.“ Hinter ihm macht ein alter Bootsmotor ohrenbetäubenden Lärm. Er arbeitet auf Hochtouren, um das Süßwasser aus dem Kanal auf die Reisfelder zu pumpen. Das Bodenwasser soll wenigstens etwas verdünnt werden.

Das Delta ist erschöpft. Die vietnamesische „Reiskammer“, ein 40 000 Quadratkilometer großes Gebiet, in dem 20 Millionen Menschen (von landesweit 99 Millionen) leben, liefert jedes Jahr 24 Millionen Tonnen des kostbaren Getreides – das entspricht 54 Prozent der Gesamtproduktion. In Vietnam sind 82 Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche mit Reis bepflanzt.

Diese übermäßige Nutzung schädigt das „Delta der neun Drachen“, wie sein vietnamesischer Beiname wegen der neun Flussarme lautet, die hier ins Südchinesische Meer münden. Der Name lässt an einen unerschütterlichen Riesen denken. Doch wenn man den Mekong im Boot hinunterfährt, springt vor allem dessen Verletzlichkeit ins ­Auge.

Die Ufer sind so niedrig (etwa ein Meter über dem Meeresspiegel), dass die Blätter der Obstbäume im Wasser baden. Bald könnten sie darin untergehen: Die Landwirtschaft zapft die Grundwasserreserven an, und das Delta sackt pro Jahr um etwa 4 Zentimeter ab. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel. Wenn die Entwicklung so weitergeht, könnte das Mekongdelta bis 2050 halb und bis 2100 ganz versunken sein.2

Für Alexis Drogoul, Forschungsleiter am französischen Institut für Entwicklungsforschung (IRD), ist die intensive Landwirtschaft die größte Gefahr: „Die Agrarproduktion hat die Ökosysteme massakriert. Da darf man nicht mehr länger einfach zuschauen.“ Doch wie kann man ohne Verluste das derzeitige Anbausystem aufgeben, das schließlich die Lebensgrundlage der Menschen im Delta sichert?

Das Thema treibt auch die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) um. Bei der Konferenz von Dien Hong 2017 stellte sie in der Resolution Nr. 120 über „nachhaltige Entwicklung und Klimaresilienz im Mekongdelta“ fünf Leitlinien auf. Darin standen die üblichen Versprechen, wie „die Natur zu respektieren und deren Zerstörung zu vermeiden“. Nguyên Huu Thiên, unabhängiger Experte für die Ökosysteme im Delta, weist darauf hin, dass darüber hinaus auch angekündigt wurde, „an Salzwasser angepasste Kulturen zu entwickeln“ und – besonders bemerkenswert – „auf Qualität statt Quantität der Agrarproduktion zu setzen“.3

Es ist jedoch gar nicht so einfach, aus der produktivistischen Logik auszusteigen, in der das Land seit der Kolonialzeit gefangen ist. „Die Landwirtschaft in Vietnam ist ein Erbe Frankreichs“, erklärt uns Trần Thái Nghiêm, stellvertretender Leiter der Abteilung für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung von Cần Thơ, der größten Stadt im Mekongdelta.

Auf einer Karte an der Wand seines Büros zeigt er uns den Verlauf des Cần-Thơ-Flusses und des Kanals Kênh Xáng Xà No, der von ihm abzweigt. Diesen Kanal haben französische Ingenieure für die Kolonialmacht entworfen. In Viet­nam nennt man ihn die „Reis­straße“.

Nach ihrer Ankunft 1858 untersuchten die Franzosen das landwirtschaftliche Potenzial „Cochinchinas“, wie der koloniale Name für den Süden Vietnams lautete.4 Sie zeigten großes Interesse am Reishandel, der zu jener Zeit von chinesischen Händlern beherrscht wurde, und begannen ihn zu vereinnahmen. Und sie investierten in die Infrastruktur: Frankreich ließ Gräben ausheben, Dämme bauen, verbesserte die Bewässerung, legte Überschwemmungsgebiete trocken und schuf neue Strukturen: Ab 1927 gab es agrarwissenschaftliche Forschungsbetriebe, 1930 wurden Landwirtschaftskammern, Kreditinstitute und das ­Indochinesische Amt für Reis gegründet.

Es entstanden große Plantagen mit mehreren tausend Hektar, die Hälfte davon gehörte den obersten 3 Prozent der Landbesitzer. Zwischen 1868 und 1943 stieg die Anbaufläche für Reis von 250 000 auf 2,3 Millionen Hektar. Die Franzosen verlangten zwei Ernten pro Jahr, während es vorher nur eine gegeben hatte, die sich am natürlichen Kreislauf der Böden orientiert hatte.

Im Indochinakrieg (1946–1954) und im Vietnamkrieg (1955–1975) blutete das Land aus. „Zur Zeit der Wiedervereinigung 1976 litten alle Hunger“, erzählt Nguyên Huu Thiên. „Die USA hatten Sanktionen gegen uns erlassen, also mussten wir Lebensmittel produzieren. Das Mekongdelta war das fruchtbarste Gebiet des Landes.“

Der kommunistische Staat baute Straßen, um das Land zu erschließen, die Landwirtschaft zu mechanisieren und das Wasser abzuleiten. Der Reisanbau stand an erster Stelle: „Wir haben Flächen geräumt und wieder so viele Reisfelder angelegt, wie wir konnten. Das Delta hat ganz Vietnam vor einer Hungersnot bewahrt“, erzählt Nguyên Huu Thiên.

Ab 1976 erlebte der Süden Vietnams – wie ab 1958 schon der Norden – eine Phase der Kollektivierung, in der Kooperativen gegründet, die Planwirtschaft eingeführt und Steuern erhöht wurden. Als die Erträge jedoch zurückgingen, rief die KPV 1986 die „Erneuerung“ (Đổi mới) aus, und kündigte an, „die Ziele, Politik und Methoden in Landwirtschaft und Bauernstand zu erneuern“.5

Im Zuge der Liberalisierungswelle wurde der Privatbesitz an Produktionsmitteln wieder zugelassen und die vietnamesische Wirtschaft auch für ausländische Investoren geöffnet. Erneut wurden die Anbauflächen erweitert und die Industrialisierung der Landwirtschaft vorangetrieben. Der Staat schuf vor allem finanzielle Anreize für den Kauf von Düngern und Pestiziden, und die Bäuerinnen und Bauern setzten immer mehr davon ein.

Zudem flossen gigantische Wassermengen in den Reisanbau. Die Produktion stieg von 16 Millionen Tonnen 1986 auf 40 Millionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mit drei Ernten pro Jahr. Allein im Mekongdelta wird heute fünfmal mehr Reis produziert als zu Beginn der Đổi-mới-Phase.

Seit 1989 sieht sich Vietnam in der Lage, seinen Reis auch ins Ausland zu verkaufen, und stieg nach Indien und Thailand zum drittgrößten Exporteur der Welt auf. 2023 wurden 8 Millionen Tonnen Reis im Wert von 4,5 Milliarden Dollar ausgeführt; insgesamt erzielten die Exporte – vor allem aus dem verarbeitenden Gewerbe – im selben Jahr etwa 350 Milliarden Dollar. 90 Prozent der Reisexporte stammten aus dem Mekongdelta.

Auf einer Piroge steuert der Garnelenzüchter Thanh die Insel Cù Lao Dung an, die zwischen zwei Mündungsarmen des Mekongs liegt. Ein fischig-feuchter Geruch liegt in der Luft. Die Flussufer sind von Affen und Mücken bevölkert. Letztere bilden regelrechte Wolken. Und überall stehen Mangroven. „Die Bäume stabilisieren das Ufer“, erklärt Thanh. „Bei einem plötzlichen Anstieg des Wassers schützen sie vor Schäden.“

Nach 20 Minuten angestrengtem Rudern öffnet sich plötzlich der Horizont und vor uns liegt das Südchinesische Meer. „Hier können Sie besser verstehen, warum wir durch das Meerwasser so gefährdet sind. Gucken Sie mal, wie niedrig die Felder liegen. Normalerweise hatten wir in der Regenzeit sechs Monate Süßwasser und in der Trockenzeit sechs Monate Salzwasser. Aber heute gilt das nicht mehr. In diesem Gebiet wurde früher Reis angebaut, heute ist es unfruchtbar.“

Auf der Insel scheint die stellenweise rissige Erde jenseits der Mangroven trockener zu sein als in den Provinzen, die weiter vom Meer entfernt liegen. Die Felder sind von Bachläufen durchzogen, in denen Müll schwimmt, Plastiktüten, aber auch Industrieabfälle. Rundum befinden sich rechteckige, mit Planen ausgelegte Bassins. Turbinen arbeiten mit voller Geschwindigkeit, um das Wasser darin mit Sauerstoff anzureichern. „Da wir hier den Reisanbau aufgeben mussten, züchten wir jetzt auf industriellem Niveau Garnelen. Sie leben im Salzwasser. Andere bauen Obst an. Wir versuchen, uns anzupassen“, erzählt die frühere Reisbäuerin Hoa.

Wenn man 20 Minuten mit der Fähre ans andere Ufer nach Trần Đề fährt, ein weiteres großes Reisanbaugebiet im Delta, sieht man immer noch so weit das Auge reicht Reisfelder. Und doch es gibt auch hier immer mehr Garnelenbassins. „Ich bebaue dieses Feld seit 40 Jahren. Aber ich weiß, dass es bald keinen Reis mehr liefern kann“, sagt der etwa 60-jährige Reisbauer Giang Long. Etwa zehn Meter weiter wird auf dem Land seines Nachbarn gerade ein Wasserbecken angelegt.

Der Rückgang der Anbauflächen hat begonnen. 2015 gab es noch 4 Millionen Hektar Reisfelder im Delta, 2023 waren davon bereits 300 000 Hektar verschwunden.6 Die Produktion sinkt unaufhaltsam. Die vietnamesische Regierung versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Am 26. Mai 2023 wurde mit der Unterschrift des stellvertretenden Ministerpräsidenten Lê Minh Khái Beschluss Nr. 583 veröffentlicht, nach dem „das Exportvolumen von Reis bis 2030 auf 4 Millionen Tonnen reduziert“ werden soll. Für den Umsatz würde das einen Rückgang auf 2,62 Milliarden Dollar bedeuten.7

„Wir wollen diesen Rückgang nicht“, erklärt uns Trần Thái Nghiêm von der Abteilung für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung von Cần Thơ. „Aber wir müssen die Realität akzeptieren“, fährt er fort. „Wir können unsere Erträge nicht mehr steigern: Die ­Klimakrise und der Wassermangel erlauben es einfach nicht. Da der Reis für unsere Ernährungssicherheit unerlässlich ist, hat der heimische Markt Priorität.“ Der Pro-Kopf-Verbrauch von Reis liegt in Viet­nam bei 90 Kilogramm pro Jahr.

Wie bei der Konferenz von Dien Hong 2017 angekündigt, geht es darum, Quantität durch Qualität zu ersetzen. Um das zu erreichen, setzt die Regierung auf Anpassung. Auf den Feldern des Reisforschungsinstituts im Mekongdelta in der Umgebung von Cần Thơ verspritzt eine Drohne 50 Liter Dünger. Das Institut wurde 1977 nach dem Vietnamkrieg gegründet. 150 Forschende und 100 Bäue­r:in­nen entwickeln hier neue Reissorten.

Auf dem 360 Hektar großen Forschungsgelände verkünden Tafeln: „Feldversuch für CO2-armen Reisanbau, mit unterschiedlichen Varianten von Reisstroh-, Wasser- und Düngemanagement“, oder „Feldversuch zur Reisproduktion mit hohem Ertrag und geringem CO2-Ausstoß, mit vier Ernten pro Jahr, 2024–2027“.

Die Leuchtturmprojekte des Ins­tituts sind die Reissorten OM2517 und ST25, die sich als besonders widerstandsfähig gegen eindringendes Salz erwiesen haben. Vietnam setzt große Hoffnungen auf diese Sorten, die in kleineren Mengen angebaut, aber ­teurer verkauft werden könnten: Sie haben einen langen Wachstumszyklus und können nicht so schnell geerntet werden wie Reissorten geringerer Qualität, die bereits nach 85 bis 100 Tagen reif sind. Das entspricht Beschluss Nr. 583, demzufolge die Exportmengen gesenkt und „der Wert des exportierten Reises gesteigert“ werden sollen.

In den Jahren 2023–2025 darf demnach der Reisanteil geringer und mittlerer Qualität 15 Prozent nicht übersteigen, dagegen sollen jeweils 20 Prozent von dem hochwertigen weißen Reis und Klebreis sowie insgesamt 40 Prozent Duftreis, Japonica-Reis und Spezialsorten exportiert werden.

Doch der Staat besitzt nicht mehr die volle Exportkontrolle; private Akteure kümmern sich wenig um die Vorgaben der Partei. Seit 2007 ist Vietnam Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), die es dem Staat untersagt, Exportquoten zu erlassen. Die Regierung in Hanoi legt zwar nationale Ziele fest, aber sie kann die Firmen nur zu deren Einhaltung auffordern. Und die halten sich bis jetzt eher selten an die vorgegebenen Ziele.

Die Importeure von vietnamesischem Reis wiederum könnten Mangel leiden. Die asiatischen Länder empfangen mit „über 6 Millionen Tonnen 75 Prozent der Exporte, dann kommt Afrika mit knapp 1,34 Millionen Tonnen, was 16,5 Prozent entspricht“, erläutert Trần Quốc Toản, stellvertretender Leiter der Import-Export-Abteilung des Ministeriums für Industrie und Handel.

Nguyễn Văn Nhựt von der Firma Hoàng Minh Nhật aus Cần Thơ, die Reis anbaut und weltweit vertreibt, berichtet, dass in Côte d’Ivoire 83 Prozent der südostasiatischen Importe aus Viet­nam stammen. In Ghana liegt dieser Anteil sogar bei 90 Prozent. Wenn Viet­nam seine Exporte reduziert, könnte auch der Reiskurs in die Höhe schnellen.

Im Augenblick sei der Handel stabil, sagt Trần Quốc Toản: 2023 gab es bei den Auslandsverkäufen „eine Mengensteigerung um 14,4 Prozent gegenüber 2022 und um 33,1 Prozent im Vergleich zu 2018“. Doch die zunehmenden Schwierigkeiten beim Anbau und das drohende Versinken des Deltas treiben zahlreiche Bäue­r:in­nen in die ­Städte, vor allem nach Cần Thơ. Die Stadt zählt inzwischen 1,2 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen; in den 1990er Jahren waren es zwischen 200 000 und 300 000. Aber auch Hô-Chi-Minh-Stadt und die nördlich angrenzende Provinz Bình Dương mit ihren vielen In­dus­trie­standorten werden zum Auffangbecken.

Die Folgen dieser Landflucht sind bereits spürbar: „Die Bauern fordern, Böden umzuwidmen, um Bauland zu schaffen oder Industrie anzusiedeln. Viele Städte und Gemeinden genehmigen das, wie etwa Cần Thơ“, sagt Trần Thái Nghiêm.

Für 2024 erhofft sich die Regierung ein Wirtschaftswachstum von 7 Prozent. Der Agrarsektor trägt 12 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei.8 Wie soll Vietnam unter diesen Umständen den Agrarwandel vollziehen? Wird es weiterhin die Natur ausbeuten oder sie stattdessen zubetonieren?

Linh studiert Architektur in Hô-Chi-Minh-Stadt, ihre Eltern arbeiten als Landwirte im Delta. Wir unterhalten uns auf einer Bank am belebten Nguyễn-Huệ-Boulevard, und sie erzählt: „Nach einer sehr schlechten Ernte haben mir meine Eltern gesagt, dass ich gehen soll. Je besser ich verstand, was dem Delta droht, desto klarer wurde mir, dass ich auf dem Land nichts mehr verloren habe. Es ist traurig, dass wir uns sagen müssen: Wir haben unsere Natur zerstört und das als Ernährungssicherheit bezeichnet.“

Über ihrem Kopf werben riesige digitale Billboards für Eis, Softdrinks und Cremes. Am Fuß der Wolkenkratzer streicheln Passanten eine weiß-gelbe Schlange. Auf einem von einer Biermarke gesponserten Platz wird Basketball gespielt. Ein als Mickymaus verkleideter Mann verdient sich ein paar Dong, indem er sich mit Kindern fotografieren lässt. Linh findet diese Szenerie verstörend: „Können Sie sich vorstellen, dass bald das ganze Land so aussieht?“

1 Die Vornamen wurden auf Wunsch der Befragten verändert.

2 Johann Grémont, „Environnement et sécurité ali­mentaire: le cas de la riziculture vietnamienne“, in: Analyse, Nr. 193, Französisches Ministerium für Landwirtschaft und Ernährungssouveränität, Zentrum für Studien und Zukunftsforschung, Paris, 23. August 2023.

3 Zu dem Spagat der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) zwischen Wachstum und Umweltschutz siehe auch Johanna König, „Der fragile Tigerstaat“, in: „Süd.Ost.Asien“, Edition Le Monde diplomatique, Nr. 33, Berlin (taz Verlag) 2023.

4 1887 ging Cochinchina in Französisch-Indochina auf, das die Gebiete des heutigen Laos, Vietnam und Kambodscha umfasste.

5 Christian Klebert und Kamala Marius-Gnanou, „Ré­volution verte et collectivisation des terres dans le delta du Mékong. L’exemple de la plaine de Rach Noch“, in: Les Cahiers d’outre-mer, Nr. 196, Bordeaux, Oktober/November 1996.

6 Nach Angaben des International Food Policy Research Institute könnte die Agrarproduktion in Vietnam bis 2030 um 5,6 bis 6,2 Prozent im Verhältnis zu 2022 sinken.

6 „Decision 583/QD-TTg 2023. Strategy for development of Vietnam’s rice export market through 2030“, 26. Mai 2023.

8 „Le Vietnam, un ‚acteur clé‘ de l’agriculture mon­diale“, 22. März 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Maïlys Khider ist Journalistin.

Immer mehr Staudämme

Im Frühjahr 2016 zerstörte in Vietnam die schlimmste Dürre seit 90 Jahren 160 000 Hektar Anbaufläche, darunter ­zehntausende Hektar Reisfelder. Die Regierung bat daraufhin China, mehr Wasser aus dem Stausee des Kraftwerks Jinghong in der Provinz Yunnan abfließen zu lassen. Die Regierung in Peking kam der Bitte nach und führte damit vor Augen, dass die südlichen Anrainerstaaten des Mekongs vom guten Willen Chinas abhängig sind.

Der Mekong entspringt in 5000 Metern Höhe im tibetanischen Hochland und fließt durch China, Myanmar, Thailand und Laos, bevor er als Letztes Vietnam erreicht. Von den 500 Milliarden Kubikmetern Wasser, die er jedes Jahr führt, stammen 480 Milliarden aus dem oberen Mekong und nur 20 Milliarden Kubikmeter aus Regenwasser.

Seit den 1990er Jahren bauen die nördlich von Vietnam gelegenen Anrainer Wasserkraftwerke, um günstigen Strom zu produzieren. China betreibt zwölf große Staudämme (siehe Karte). Laos hat 2019 die für 3,8 Milliarden US-Dollar errichtete Sayaburi-Talsperre in Betrieb genommen und verkauft 95 Prozent der Energie nach Thailand. 2020 ging das laotische Kraftwerk Don Sahong in Betrieb, nur zwei Kilometer von der kambodschanischen Grenze entfernt. Der 2018 in Betrieb genommene Staudamm Lower Sesan 2 ist das größte Kraftwerk Kambodschas.

Mehr als hundert Talsperren wurden an den Zuflüssen des Mekongs errichtet, die meisten von privaten Investoren. Im August 2024 erfolgte in Kambodscha der erste Spatenstich für den Funan-Techo-Kanal, der den Hafen von Phnom Penh am Mekong mit dem Golf von Thailand verbinden soll. Seit Mitte November kursieren Gerüchte, dass die Finanzierung durch China auf der Kippe steht; sollte er fertiggestellt werden, würde er zwischen 100 und 120 Milliarden Kubikmeter Wasser ableiten.

Für Vietnam haben die Staudämme katastrophale Folgen, die die Probleme beim Reisanbau noch verschärfen. „In der Trockenzeit dringt noch mehr Salzwasser ein, weil aus den Staudämmen nicht genug Süßwasser abfließt, um es zu verdrängen“, erklärt der Umweltexperte Nguyên Huu Thiên.

Die Talsperren „stören die Ökosysteme. Sand und Sedimente werden zurückgehalten. Dabei sind die Schwemmstoffe existenziell fürs Mekongdelta und fungieren zugleich als natürliche Düngemittel.“ Ohne sie sackt das Land im Delta ab und erodiert. „In zwei Jahren werden die Sedimentreserven im Boden erschöpft sein. Das wäre das Ende der Landwirtschaft im Delta“, sagt der Forscher. Zudem hat Vietnam selbst über lange Zeit Sand abgebaggert, um ihn für die Betonherstellung – hauptsächlich nach Singapur – zu exportieren.

Die Staudämme behindern auch die Fischwanderung. „Durch die Talsperren finden sie keinen Lebensraum mehr“, sagt Nguyên Huu Thiên. „Ohne diese Fische ist das Ökosystem im Delta gefährdet.“ Schlangen, Vögel, Schildkröten: Neben dem Menschen leben alle möglichen Tiere von diesen Fischen.

An der Mekong River Commission (MRC) sind Vietnam, Kambodscha, Laos und Thailand beteiligt. Idealerweise sollen sie sich auf eine gemeinsame Verwaltung der Flussressourcen einigen. 1995 unterzeichneten die vier Staaten ein Kooperationsabkommen für die nachhaltige Entwicklung des Mekongbeckens. 1996 kamen China und Myanmar als Beobachterstaaten hinzu.

Trần Thái Nghiêm, stellvertretender Leiter der Abteilung für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung von Cần Thơ, ist jedoch skeptisch, was die Wirksamkeit der MRC betrifft. „Jedes Land hat seine eigene Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Ein Land am unteren Mekong wie Vietnam kann meines Erachtens keinen großen Druck auf die anderen Staaten ausüben.“

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Maïlys Khider