Justizreform in Mexiko
Die Direktwahl der obersten Richter:innen gefährdet die Gewaltenteilung
von Sandra Weiss

Als vor zehn Jahren im mexikanischen Ayotzinapa 43 Lehramtsstudenten von Kriminellen und Polizisten verschleppt wurden und spurlos verschwanden, ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Monatelang protestierten Zehntausende, forderten Aufklärung und Gerechtigkeit. Auf den Druck der Straße hin wurden schließlich ausländische Ermittler eingeschaltet und recht schnell wurde klar: Nicht nur die Drogenmafia, auch staatliche Funktionsträger, vom Bürgermeister bis zum Gouverneur, vom Dorfpolizisten bis zum Armeegeneral, waren in den Fall verstrickt, entweder durch Mithilfe oder Mitwissen und Vertuschung.
Es kam heraus, dass Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam auf Anweisung aus dem Präsidentenpalast mittels falscher Geständnisse, die unter Folter erzwungen wurden, und manipulierter Beweise eine „historische Wahrheit“ konstruiert hatte, die sich als Lüge erwies. 2022 wurde er verhaftet.
Als Andrés Manuel López Obrador 2018 zum Präsidenten gewählt wurde, versprach er Aufklärung und setzte eine Kommission ein, die allerdings nicht mehr tat, als die Schuld auf die Vorgängerregierung abzuschieben. Nun ist López Obrador seit zwei Monaten nicht mehr Amt, und noch immer fehlt von 40 Studenten jede Spur. Von dreien wurden völlig verkohlte Überreste gefunden. Was genau ihnen widerfahren ist, ist unklar.
Die Ermittlungen wurden vor allem vom Militär blockiert, das offenbar tief in das Verbrechen verstrickt ist.1 Es verhinderte die Aufklärung und konzentrierte sich mehr darauf, Menschenrechtlerinnen, Journalisten und den Leiter der Aufklärungskommission auszuspionieren. Derweil eskaliert die Gewalt in der Region weiter.
Ayotzinapa ist bis heute das wichtigste Symbol für das Versagen des mexikanischen Rechtsstaats. Im internationalen Rechtsstaatlichkeits-Ranking des World Justice Projects belegt Mexiko Platz 116 von 142. Die Justiz ist langsam, ineffizient, intransparent, patriarchalisch, rassistisch und bürgerfern. Insbesondere die Ermittlungsbehörden und die unteren Instanzen sind unterfinanziert und ihr Personal ist schlecht ausgebildet.
Höhere Instanzen sind – wie der ganze Staatsapparat – durchsetzt von politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Interessengruppen. Hinzu kommen interne Machtspiele. Dass die Justiz unbedingt reformbedürftig ist, ist allgemeiner Konsens.
Kurz vor seinem Ausscheiden hat López Obrador daher seine bei den Wahlen im Juni errungene Zweidrittelmehrheit im Kongress genutzt, um eine Justizreform durchzubringen. Umsetzen muss sie nun seine Parteikollegin und Nachfolgerin Claudia Sheinbaum. Umstrittenes Kernstück der Reform ist die Direktwahl der Richter:innen durch die Bevölkerung. Damit werde die Justiz demokratisiert und die Korruption im Apparat bekämpft, argumentiert die Regierung.
Gewählt werden Richter:innen der Bundes- und Wahlgerichte sowie die Verfassungsrichter:innen und der Bundesjustizrat, dem die Aufsicht über die Gerichtsbarkeit unterliegt. Über 7000 Richter:innen werden deshalb ab 2025 aus dem Dienst entlassen. Aus Protest legten sie erstmals im August landesweit ihre Arbeit nieder. Denn eine meritokratische Justizlaufbahn, wie sie bisher die Regel war, ist damit Makulatur.
Wer künftig Richter:in werden will, braucht für die Bewerbung lediglich ein Staatsexamen mit der Mindestnote befriedigend, fünf Jahre Berufserfahrung und fünf Empfehlungsschreiben von Berufskolleg:innen und Bekannten. Die obersten Richter:innen müssen zudem durch den Kongress bestätigt werden. Dass regierungskritische Richter:innen angesichts der Mehrheiten im Kongress eine Chance bekommen, ist unwahrscheinlich.
Für López Obrador und Sheinbaum ist der Justizapparat ein Bollwerk von Unternehmerinteressen und Instrument der bürgerlichen Opposition. Bestimmte Reformen von López Obrador, wie etwa das Elektrizitätswirtschaftsgesetz, das die Energiewende zugunsten der staatlichen Ölunternehmen umdrehte, waren vom Obersten Gericht als verfassungswidrig einkassiert worden.2
Die Justizreform hat Kritiker aus ganz unterschiedlichen Lagern auf den Plan gerufen. Rechtsexperten warnen vor einer Entprofessionalisierung der Justiz. Bundesrichter für Finanzdelikte oder organisierte Kriminalität müssen heutzutage ständig Fortbildungen machen und Expertise beweisen – das zählt in Mexiko fortan nicht mehr.
Eine weitere Befürchtung ist, dass nicht die integren und besten Personen gewählt werden, sondern diejenigen mit guten politischen Kontakten, mit Charisma und mit finanzkräftigen Unterstützern – etwa aus der Drogenmafia. Offiziell sollen die Wahlkämpfe zwar nicht privat finanziert werden dürfen, aber die Kontrollmechanismen dafür sind unklar und dürften in der Praxis ebenso ineffizient sein, wie es heute schon bei der Kontrolle der Finanzierung politischer Kampagnen der Fall ist.
Die Opposition verweist darauf, dass weder die Staatsanwaltschaften noch die unteren Instanzen der Gerichte gewählt werden – also just die Institutionen, mit deren Unzulänglichkeiten die Bürger:innen tagtäglich konfrontiert sind. Deshalb ziele die Justizreform nicht auf eine Verbesserung der Rechtsprechung, sondern auf politische Gleichschaltung.

Hintertür für eine weitere Amtszeit Amlos
Daran trägt die Opposition allerdings selbst eine Mitschuld: Im Senat hätte sie numerisch ganz knapp die Justizreform verhindern können – hätten nicht zwei ihrer Senatoren mit dem Regierungslager gestimmt. Eine Chance hätte auch das noch amtierende Verfassungsgericht gehabt. Wenn acht der elf Richter:innen die Reform für verfassungswidrig erklärt hätten, wäre sie gescheitert oder die Regierung stünde zumindest vor einem Dilemma. Doch einer der konservativen Robenträger schlug sich auf die Seite der drei Morena-Richterinnen. Er war, wie sich später herausstellte, mit einem gegen ihn laufenden Prozess wegen sexueller Belästigung unter Druck gesetzt worden.
Sorgen machen sich auch die Unternehmen. Die Reform schaffe Rechtsunsicherheit, gefährde die Gewaltenteilung und den Investitionsstandort Mexiko, warnten sie, sekundiert von US-Botschafter Ken Salazar. Der hatte sich bislang eher als Freund der linken Regierung positioniert, doch die Reform, so warnte er, sei eine „große Gefahr für die Demokratie“.
Für die US-Unternehmen, die große Teile ihrer Produktion inzwischen in das billigere und weniger regulierte Freihandelspartnerland ausgelagert haben, sind verlässliche Rahmenbedingungen essenziell. Allerdings haben sie – anders als Investoren aus Drittstaaten – noch immer die Möglichkeit, im Rahmen des Freihandelsvertrags Streitfälle vor Schiedsgerichte zu bringen. Alle drei Nafta-Partnerstaaten – Kanada, die USA und Mexiko – haben davon seit Inkrafttreten des Abkommens 1994 rege Gebrauch gemacht.
Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IACHR) und die UN-Sonderberichterstatterin zur Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, haben Bedenken angemeldet, ob diese Reform mit internationalen Standards vereinbar ist. Die Besorgnis nährt sich aus den Erfahrungen des einzigen lateinamerikanischen Landes, in dem die obersten Richter:innen ebenfalls direkt vom Volk gewählt werden: Bolivien. Unter Präsident Evo Morales wurde das System 2009 im Rahmen einer Verfassungsänderung eingeführt.
Ähnlich wie Morena heute in Mexiko dominierte damals Morales’ Movimiento al Socialismo (MAS) die politische Landschaft. Morales konnte die Kandidatenlisten praktisch im Alleingang bestücken. Den Richtern war schnell klar, dass ihr berufliches Überleben nicht von der Qualität ihrer Urteile abhing, sondern vom politischen Wohlwollen des Präsidenten – und entsprechend opportunistisch agierten sie.
In der Bevölkerung stießen die ellenlangen Wahlzettel mit weitgehend unbekannten MAS-Anhängern auf Gleichgültigkeit und Ablehnung. In der ersten Richterwahl blieben trotz Wahlpflicht 60 Prozent der Bolivianer:innen den Urnen fern oder machten ihre Stimme ungültig, bei der zweiten Richterwahl 2017 waren es 66 Prozent.
Zum kompletten Fiasko geriet dann die dritte Wahl. Die sollte 2023 stattfinden, aber aufgrund der Spaltung innerhalb der MAS zwischen Evo Morales auf der einen und seinem Nachfolger im Präsidentenamt, Luis Arce, auf der anderen Seite konnten die Listen nicht erstellt werden. Daraufhin verlängerten die amtierenden Richter eigenmächtig ihr Mandat. Der politische Machtkampf spiegelte sich in der Justiz wider.
Ein Teil hielt zu Arce, ein Teil zu Morales. Statt mäßigend zu wirken, beschleunigte die Justiz mit einander widersprechenden Urteilen die Krise. So hatte 2017 das Verfassungsgericht geurteilt, Morales dürfe trotz des in der Verfassung verankerten Wiederwahlverbots für eine dritte Amtszeit kandidieren, denn die Verfassung verletze sein Menschenrecht auf Wiederwahl. 2023 entschied dasselbe Gericht, das Wiederwahlverbot der Verfassung lasse keine Ausnahmen zu und Morales dürfe nun nicht erneut kandidieren.
Dergleichen kann nun auch in Mexiko passieren. Denn López Obrador hat die Justizreform seiner zögerlichen Nachfolgerin aufoktroyiert und damit klargemacht, dass er im Hintergrund weiterhin die Fäden ziehen wird. Schon jetzt kontrollieren seine Vertrauensleute Schlüsselposten in Partei und Kongress – und einige davon haben bereits angekündigt, für das Oberste Gericht kandidieren zu wollen.
Das Land hat eigentlich andere Baustellen – die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die komplizierte Beziehung zum Freihandelspartner USA, die nötige Modernisierung der Infrastruktur, dringende Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem.
Stattdessen muss Sheinbaum jetzt erst einmal umgerechnet knapp 600 Millionen Euro freischaufeln, um die Richterwahl zu finanzieren. Sie zahlt die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer Reform, deren größter Nutznießer am Ende López Obrador werden könnte. Noch ist seine Wiederwahl in Mexiko verfassungswidrig – aber das ist nun leicht auszuhebeln.
Wie schon zuvor in Bolivien und Venezuela droht die langfristige Konsolidierung eines progressiven, linken Projekts auch in Mexiko am Ego einer narzisstischen Führungsfigur zu zerschellen.
2 „Mexikos Richtungswechsel in der Energiewende“, en:former.com, 13. September 2021.
Sandra Weiss ist freie Journalistin in Mexiko.
© LMd, Berlin