12.12.2024

Haiti – UN-Mission auf verlorenem Posten

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Haiti – UN-Mission auf verlorenem Posten

Ende September hat der UN-Sicherheitsrat die von Kenia geleitete Haiti-Mission um ein weiteres Jahr verlängert. Derweil eskaliert die Gewalt zwischen den kriminellen Banden, Soldaten und Bürgerwehren. Selbst die seit über 30 Jahren in Haiti tätige Organisation Ärzte ohne Grenzen hat kürzlich beschlossen, ihre Aktivitäten im Großraum Port-au-Prince einzustellen.

von Benjamin Fernandez

Port-au-Prince, 26. Juni 2024: Übergangspremier Garry Conille begrüßt die ersten Polizisten aus Kenia LOUIS GERINAULT/picture alliance/anadolu
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Am 25. Juni 2024 trafen auf dem Internationalen Flughafen Toussaint Louverture in Port-au-Prince 200 Polizisten aus Kenia ein. Sie gehören zum ersten Kontingent, mit dem der ostafrikanische Staat die Leitung der Multina­tio­nalen Mission zur Unterstützung der Sicherheit in Haiti (MSS) übernommen hat. Die MSS war vom UN-Sicherheitsrat am 2. Oktober 2023 beschlossen worden und wurde am 30. September um ein weiteres Jahr verlängert.

Haiti steckt seit Jahren in einer Dauerkrise, die zusehends eskaliert. Am 7. Juli 2021 wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet; einen Monat später wurde die Insel durch ein schweres Erdbeben und den Hurrikan „Grace“ verheert.

Derzeit hat Haiti keinen Präsidenten und keine gewählte Regierung. Seit der noch von Moïse auserwählte Pre­mier Ariel Henry im April 2024 aus dem kalifornischen Exil seinen Rücktritt erklärt hat, wurde ein Übergangsrat gebildet. Dieser Conseil Présidentiel de Transition (CPT) ist für die Berufung einer kommissarischen Regierung zuständig. Zum ersten Premier bestellte der CPT im Mai 2024 den ehemaligen Unicef-Regionaldirektor Garry Conille, der bereits ein halbes Jahr später durch den Unternehmer Alix Didier Fils-Aimé ersetzt wurde.

Von den 12 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen Haitis wurden in den letzten drei Jahren 12 000 in den Kämpfen zwischen Gangmitgliedern, Polizisten und Bürgerwehren getötet; mehr als 700 000 Menschen sind derzeit auf der Flucht. Die Hauptstadt Porte-au-Prince ist zu 80 Prozent in der Hand von gewalttätigen Banden. Zuletzt verübten Bandenmitglieder am 6./7. Dezember in dem Elendsviertel Cité Soleil ein Massaker mit mindestens 110 Toten.

Die UN-Mission für Haiti kam vor allem auf Betreiben der USA zustande, die von Frankreich unterstützt wurden. Die USA sind auch der größte Geldgeber mit 300 Millionen Dollar, die für logistische Unterstützung, Geheimdienstinformationen, Personal und Militärmaterial aufgebracht werden.2 Russland und China hatten sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat enthalten, wobei sie sich auf die Respektierung der Souveränität Haitis beriefen.

Dagegen feierte Kenias Präsident William Ruto in der UN-Vollversammlung vom 14. Oktober 2023 die Mission unter kenianischer Führung als „historisches“ Ereignis und das „panafrikanische Engagement“ als Akt der notwendigen Solidarität mit dem haitianischen Volk, „das koloniale Plünderung und Unterdrückung, postkoloniale Repressalien und Ausbeutung erlitten hat“.

Rutos Begeisterung wird nicht von allen seinen Landsleuten geteilt. Der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thion­g’o kritisierte seinen Präsidenten in einem offenen Brief vom 28. Mai 2024: „Während Sie im Weißen Haus waren, protestierten die Haitianer auf den Straßen und nannten Sie einen Sklaven.“ Ruto habe sich darauf eingelassen, „im Kampf der USA gegen Russland und China um den Zugang zu den Ressourcen des Kontinents zum Laufburschen der Nato zu werden“.3 Auch in den USA selbst gab es Kritik an der vom Weißen Haus „in Auftrag gegebenen militärischen Invasion“ und an einem „westlichen Imperialismus mit schwarzem Antlitz“.4

Bei Rutos Staatsbesuch in Washington im Mai 2024 wurde Kenia von US-Präsident Biden offiziell zu einem „wichtigen verbündeten Nichtmitglied der Nato“ (Major Non-Nato Ally) erklärt. Diese Ehre wurde bisher 20 Staaten zuteil, unter denen kein einziger in Subsahara-Afrika liegt. Nairobi und Washington haben bereits bei der Bekämpfung der somalischen Al-Shabaab-Miliz kooperiert. Aus Sicht Washington gilt der ostafrikanische Staat – der US-amerikanische und britische Militärbasen5 beherbergt – als ein Zentrum der Stabilität und Motor der regionalen Wirtschaftsdynamik. Biden versprach Ruto in Washington des Weiteren enorme Investitionen in neue Technologien. Google und Microsoft etablierten ihre afrikanischen Hauptquartiere in Nairobi, das bereits als „Silicon Savannah“ bezeichnet wird, und wollen weitere 20 Milliarden Dollar im Land investieren. Und Biden stellte Partnerschaften für erneuerbare Energien und den Kampf gegen Malaria und Aids in Aussicht. Schließlich versprach der scheidende US-Präsident, er werde Kenia bei seinen Bemühungen um neue Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) unterstützen.

Um den IWF zu überzeugen, hat Ruto ein Sparbudget verabschieden lassen. Die krassen Steuererhöhungen für Benzin und Lebensmittel haben zu massiven Protesten geführt. An dem Tag, an dem die kenianischen Polizisten in Haiti eintrafen, tötete die Polizei in Nairobi fünf Demonstranten; mehr als 30 wurden verletzt.

Tags darauf setzte eine wütende Menge das Parlamentsgebäude teilweise in Brand. Zwischen dem 18. Juni und dem 1. Juli 2024 sollen bei der Unterdrückung der Proteste mindestens 39 Menschen ums Leben gekommen sein. Seit mehreren Jahren dokumentieren ke­nia­ni­sche NGOs, dass Menschen spurlos verschwinden. Die Polizei wird ex­tra­le­ga­ler Hinrichtungen bezichtigt, deren Opfer meist junge Männer aus den Armenvierteln sind.6

Alarmiert durch die extreme Polizeigewalt in Kenia, schickte Amnesty International im Vorfeld der Mission bereits am 18. August 2023 einen offenen Brief an den UN-Sicherheitsrat.7 Die Resolution vom 2. Oktober 2023 wurde nach Kapitel VII der UN-Charta angenommen, dessen Artikel eigentlich auf Kriegssituationen gemünzt sind. Im Übrigen bestimmt die Resolution, dass die alleinige Verantwortung für das Verhalten des MSS-Personals bei den Entsendeländern liegt – anders als bei Missionen zur Friedenssicherung, die internationaler Kontrolle unterliegen. Grund für diese Klausel war die katastrophale UN-Stabilisierungsmission in Haiti (Minustah) zwischen 2004 und 2017, berüchtigt wegen der Gewaltverbrechen von Blauhelmen, die man dafür nie belangt hat. Damals schleppten nepalesische UN-Soldaten auch die Cholera ein, der fast 10 000 Menschen zum Opfer fielen.

Haiti hatte seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1804 praktisch nie eine echte Chance auf Entwicklung. Schon die„Entschädigungszahlungen“ von einer halben Milliarde heutiger US-Dollar, die dem Land nach 1820 von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich für den Verlust ihrer Plantagen abgepresst wurden, und das gleichzeitige Embargo der USA und der europäischen Großmächte haben verhindert, dass Haiti wirtschaftlich auf die Beine kommen konnte.

Im 20. Jahrhundert folgten mehrere Staatsstreiche und Interventionen, vor allem durch die USA: Zwischen 1915 und 1934 stand der Inselstaat unter einer US-Besatzung, die eine agrarische Exportwirtschaft durchsetzte. Und von 1957 bis 1986 betrieben François „Papa Doc“ Duvalier und sein Sohn „Baby Doc“ eine Diktatur, in der auf „kommunistische Aktivitäten, egal in welcher Form“, die Todesstrafe stand.

Die ersten demokratischen Wahlen Haitis gewann 1990 der vor allem in den Armenvierteln beliebte Priester Jean-Bertrand Aristide. Nach einem Staatsstreich 1991 floh er in die USA, die ihm 1994 zurück an die Macht verhalfen, aber zehn Jahre später in einer gemeinsamen Intervention mit Frankreich und Kanada erneut entmachteten. Vorausgegangen war ein Bürgerkrieg zwischen Aristides Anhängern und seinen Gegnern, die ihm Korruption vorwarfen.8

Janet A. Sanderson, die US-Botschafterin in Port-au-Prince, pries in einer später von Wikileaks veröffentlichten Depesche vom 1. Oktober 2008 die Minustah als preisgünstige Investition in die regionale Sicherheit: Die UN-Mission sei „ein unverzichtbares Werkzeug, um die Kerninteressen der US-Regierung in Haiti zu realisieren“.9 Auch die humanitäre Hilfe nach dem Erdbeben von 2010 mit 300 000 Toten haben die USA geschickt zu ihren Gunsten gesteuert. Und wie Wiki­leaks enthüllte, hat Washington auch bei den Präsidentschaftswahlen von 2011 zugunsten des Politikneulings Michel Martelly und seiner Partei Tèt Kale (PHTK) eingegriffen.

Bei der darauffolgenden Wahl von 2016 begrüßten die USA den Sieg von Martellys Nachfolger Jovenel Moïse und ignorierten Vorwürfe, wonach 628 000 „Zombi-Stimmen“ abgegeben wurden und Martelly wie Moïse mit dem Verschwinden von hunderten Millionen Dollar aus dem Fonds des venezolanischen Hilfsprogramms Petro Caribe zu tun hatten. Im August 2024 verhängten die USA Sanktionen gegen Martelly, der in Haiti auch der „legale Bandit“ genannt wird, wegen Beteiligung an einem internationalen Drogennetz. Die UNO beschuldigt den Ex-Präsidenten, er habe kriminelle Gangs unterhalten, um Armenviertel zu terrorisieren, die seine Partei nicht unterstützten.

Auch Murithi Mutiga, Programmdirektor für Afrika bei der International Crisis Group in Nairobi, äußerte sich skeptisch über die UN-Mission: „Es gibt keine militärische Lösung für den Zusammenbruch der Institutionen.“ Zuerst müsse man einen nationalen politischen Konsens aufbauen, sonst wäre es „unfair, die Polizei hinzuschicken“.10 Im März 2024, vier Monate vor der Ankunft der kenianischen Polizisten in Port-au-Prince, verbreiteten die internationalen Medien die Bilder bewaffneter Milizionäre vor brennenden Barrikaden an der Zufahrt zum Flughafen. Die tausenden Demonstranten, die friedlich Henrys Rücktritt und Wahlen forderten, tauchten fast nirgends auf.

Der Bandenchef Jimmy „Barbecue“ Chérizier, der im Frühjahr 2024 das Chaos von Port-au-Prince ausgelöst hat, war früher bei der haitianischen Polizei. Er soll Massaker im Auftrag von Präsident Moïse organisiert haben. Der Anführer des kriminellen Kartells „Fòs Revolisyonè G9 an Fanmi e Alye“ (Revolutionskräfte G9-Familie und Verbündete) gab sich nach dem Tod seines Beschützers als der große Befreier, der die „ausländische Besatzung“ und die Privilegien der Oligarchie bekämpfen werde. „Es kann nicht sein, dass eine Clique von Reichen, die in den Luxusvierteln wohnen, über das Schicksal der Bewohner der Elendsviertel entscheidet“, erklärte er bei der Besetzung des Flughafens. Das leidende haitianische Volk müsse „selbst entscheiden, wer es regieren soll“. Und dann drohte er, den kenianischen Polizisten die Hölle heißzumachen.11

Seit Beginn der UN-Mission wurden mindestens 1223 Personen getötet und 522 verletzt, fast die Hälfte bei Operationen der Ordnungskräfte. Acht Prozent der Morde werden den paramilitärischen Bürgerwehren zugeschrieben, die sich in der Hauptstadt ausbreiten. Ein UN-Bericht vom 30. Oktober registriert „Selbstjustiz und extralegale Hinrichtungen“, die von den Ordnungskräften vor allem an Kindern begangen werden.12

Haitis Übergangsrat hat die UNO inzwischen ersucht, die MSS durch eine Friedenssicherungsmission zu ersetzen. Die von den USA unterstützte Forderung hat wenig Chancen im Sicherheitsrat die Zustimmung Russlands oder Chinas zu erhalten und genug freiwillige Blauhelmsoldaten zu finden. Die multinationalen Kräfte unter kenianischem Kommando finden jetzt schon kaum Verstärkung. Jamaika hat im September 24 Polizisten geschickt, Belize zwei. Der Präsident von El Salvador, Nayib Bukele, hat 80 versprochen. Sein eigenes Land regiert er mit eiserner Hand. Sein „Krieg gegen die Banden“ geht mit massiver Gewalt gegen die Bevölkerung einher.

Bis zum Jahresende soll die MSS 2000 Mann Verstärkung bekommen. Sie sollen haitianischen Milizen entgegentreten und damit ihrem Spiegelbild. Denn hier stehen sich Paramilitärs und Polizisten gegenüber, die auf die Unterdrückung sozialer Proteste trainiert sind; selbst ihre Waffen kommen aus demselben Arsenal: made in USA. Und dazwischen in der Mangel: die Ärmsten der Armen von Haiti.

1 Siehe Internationale Organisation für Migration (IOM), „Displacement Situation in Haiti (Round 8)“, 30. September 2024.

2 „U.S. Relations with Haiti“, U.S. Department of State, 5. September 2024.

3 Ngũgĩ wa Thiong’o, „An open letter to William Ruto“, Ashenews, 28. Mai 2024.

4 Siehe Alexandra Sharp, „UN approves foreign intervention in Haïti“, Foreign Policy, Washington, 3. Oktober 2023, und Black Alliance for Peace, „No to blackface imperialism. Yes to Haitian sovereignty“, 25. August 2023.

5 Siehe Jean-Christophe Servant, „Verbrannte Erde“, LMd, Oktober 2022.

6 Die Brutalität der kenianischen Polizei ist auch eine koloniale Hinterlassenschaft der Briten, siehe Josefine Rein, „Die mutigen Mütter von Nairobi“, LMd, Juni 2024.

7 Amnesty International, „Haiti: Open Letter to all Members of the Security Council regarding the Development of an International Security Force in Haiti“, 18. August 2023.

8 Siehe Jake Johnston, „Hilfe, Geschäfte, Kontrolle“, LMd, Dezember 2021.

9 „Why we need continuing MINUSTAH presence in Haiti“, Wikileaks.

10 Zitiert von Caroline Kimeu und Tom Phillips, „‚It’s mission impossible‘: fear grows in Kenya over plan to deploy police to Haiti“, The Guardian, London, 28. März 2024.

11 „Haitian prime minister resigns as gang leader „Barbecue“ steps into power vacuum“, 12. März 2024, www.itv.com.

12 Dánica Coto und Evens Sanon, „Haiti sees a rise in killings and police executions with childrens targeted, UN says“, AP, 30. Oktober 2024.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Benjamin Fernandez ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Benjamin Fernandez