12.12.2024

Algeriens vergessener Bruderkrieg

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Algeriens vergessener Bruderkrieg

von Selim Derkaoui

Begräbnis nach dem Massaker im Dorf Melouza, 28. Mai 1957 picture alliance/ap
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Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben; das gilt auch für die Protagonisten des algerischen Unabhängigkeitskampfs. Kurz nachdem das Land 1962 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hatte, verbot der siegreiche Front de libération nationale (Nationale Befreiungsfront, FLN) seinen Rivalen Mouvement national algérien (Algerische Nationalbewegung, MNA), den er bereits während des Befreiungskriegs (1954–1962) bekämpft hatte.

Begründer der MNA war Ahmed Messali, genannt Messali Hadj, ein Revolutionär, der schon seit 1927 die Unabhängigkeit Algeriens gefordert hatte. Er führte den MNA bis zu seinem Tod im Exil 1974.1 Während des Kriegs wurde Messali an den Rand gedrängt, danach untersagten ihm die Regierungen unter Ahmed Ben Bella und Houari Boumediene die Rückkehr in sein Heimatland. Bis heute sorgt die Nennung seines Namens für Spannungen und droht die nie vernarbte Wunde wieder aufzureißen.

„Warum verdrängt man die Erinnerung an die MNA?“, fragt der Historiker Nedjib Sidi Moussa, Enkel eines MNA-Mitglieds.2 „Die Partei wird bis heute vor allem mit dem mörderischen Konkurrenzkampf mit dem FLN in Verbindung gebracht, ihr positiver Beitrag zur nationalen und Unabhängigkeitsbewegung wird kaum berücksichtigt.“ Viele in Algerien setzten die Messalisten gleich mit den Harkis – jenen Algeriern, die während des Krieges in der französischen Armee dienten und von einer Mehrheit als Verräter betrachten werden. Diese Gleichsetzung habe dem Ansehen der MNA schwer geschadet, so Sidi Moussa.

Der 93-jährige Idir Boudjemil war ein Anhänger Messalis. Er kam 1953 nach Frankreich und war zunächst Mitglied im Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten, MTLD), dem Vorläufer der MNA. Er war Fabrikarbeiter, erst in Paris, dann in Nordfrankreich, zwei wichtigen Standorten der Partei. Damals arbeiteten viele algerische Arbeiter bei Unternehmen wie Renault und Citroën im Norden und Osten des Landes. Sie knüpften enge Beziehungen zur Gewerkschaft CGT und zur Kommunistischen Partei, die großen Anteil an ihrer politischen Entwicklung hatten.

So formte sich das Unabhängigkeitsstreben zum Teil auch im Kontakt mit der französischen Arbeiterbewegung. „Verfolgt man die Wege der Messali-Anhänger, stößt man auf die Migrations- und Arbeiterbiografien von Franzosen algerischer Herkunft. Die MNA ist Teil der Arbeitsgeografie und der Zuwanderungsgeschichte Frankreichs“, schreibt Sidi Moussa. „Die alten Aktivisten sagen, sie hätten weniger gegen Frankreich als vielmehr für die Unabhängigkeit gekämpft. Der Unterschied zum FLN ist, dass die MNA niemals Attentate gegen europäische Zivilisten verübt hat, weil ihre Kader keine freundschaftlichen Bande zerreißen wollten, während man sich beim FLN keine Gedanken darüber machte.“

1954 sah sich Messali Hadj einer parteiinternen Rebellion gegenüber, die von Kadern des Zentralkomitees orchestriert wurde. Junge Aktivisten gründeten den FLN und entschieden sich für den bewaffneten Kampf. Die Parteiführung wurde von den Ereignissen überrollt und hatte keinen Einfluss auf den Aufstand vom 1. November 1954, mit dem der Unabhängigkeitskrieg begann. Obwohl Messali Hadj nicht hinter diesem Aufstand stand und sich weigerte, die Legitimität des FLN anzuerkennen, machten die französischen Behörden ihn verantwortlich. Er wurde – nicht zum ersten Mal – unter Hausarrest gestellt, Dutzende seiner Leute wurden verhaftet.

Über weite Teile Algeriens wurde der Ausnahmezustand verhängt, der mit willkürlichen Kontrollen, Übergriffen, erzwungenem Exil, Vertreibungen und Folter einherging. Damit gewann die „Thawra“ (Revolution) in den Augen der Algerier an Legitimität. Während der FLN seinen Einfluss auf die Widerstandsgruppen ausdehnte, gründeten die Messalisten die MNA.

In Paris schlossen sich jedoch viele Algerier, vor allem Studierende, dem FLN an. Die von Staatschefs wie Gamal Abdel Nasser in Ägypten unterstützte Partei gewann auch durch ihren bewaffneten Arm, die Armée de liberation nationale (Armee der nationalen Befreiung, ALN), an Einfluss. Der FLN beanspruchte nun die Hegemonie, duldete keine Konkurrenz und verlangte, dass sich alle anderen politischen Gruppierungen hinter sie stellten.

In der Folge lieferten sich FLN und MNA einen mörderischen Bruderkrieg. In Algerien gewann der FLN schnell die Oberhand und ging sogar gegen die Zivilbevölkerung vor, wenn diese als pro-MNA galt, wie bei dem Massaker im Dorf Melouza im Mai 1957.3 In Frankreich blieb Messali Hadj unter den algerischen Arbeitern jedoch sehr populär. Der FLN beschloss, die Messalisten in ganz Frankreich zu eliminieren, um seine Stellung als alleiniger Repräsentant des Volks durchzusetzen. Es folgten Erschießungen, Abrechnungen, Morde an Kadern und Verrat bei den Messalisten.

Bevorzugte Ziele waren die zahlreichen von Algeriern geführten Cafés, die während der Kolonialzeit in Frankreich und Algerien eine wichtige Rolle als sozialer und politischer Treffpunkt spielten.4 Der FLN war in diesem „Café-Krieg“ lange unterlegen, gewann ihn aber am Ende und übernahm zunehmend auch in Frankreich die Kontrolle über die algerische Bevölkerung.

In Paris und in Marseille war die MNA in der Minderheit und wurde schließlich vertrieben. Im Norden, Osten und Westen Frankreichs hielt sie sich länger, dort war sie gut verankert, die sozialistischen Gemeinden waren ihm eher wohlgesinnt. Der Bruderkrieg forderte zwischen dem 1. Januar 1956 und dem 23. Januar 1962 nach offiziellen französischen Angaben 10 233 Opfer, darunter 3957 Tote.

Inzwischen sind die meisten Messalisten verstorben, die letzten Veteranen lassen sich an einer Hand abzählen. Einer von ihnen ist der 85-jährige Ali Agouni. Er berichtete 2020 in einer Arte-Dokumentation5 zum ersten Mal von seiner Vergangenheit als MNA-Aktivist. Darin erzählte er auch, der erste algerische Präsident Ahmed Ben Bella habe erklärt, er sei nicht zuletzt dank des Engagements und der Arbeit von Messali Hadj Staatschef des unabhängigen Algeriens geworden. Ben Bella soll laut Agouni sogar Messalis Grab in Tlemcen besucht haben, um ihn für seine Beteiligung am Bruderkrieg zwischen FLN und MNA um Verzeihung zu bitten.

Das Erbe der Messalisten wurde gewaltsam getilgt

Idir Boudjemil, einstiger Anhänger Messalis, bezichtigt die damaligen FLN-Kader des Verrats. Er entwickelte einen tiefen Hass auf sie und beteiligte sich 1959 an den Kämpfen zwischen den beiden Parteien. In der Bundesrepublik Deutschland ermordete er einen Überläufer der MNA, der sich dem FLN angeschlossen hatte. Daraufhin wurde er von der belgischen Polizei verhaftet und an Deutschland ausgeliefert, wo er zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Acht Jahre später wurde er wegen guter Führung entlassen und zog sich ganz aus der Politik zurück.

Die große Mehrheit der Messalisten wollte sich nie öffentlich äußern. „Die meisten waren Proletarier, die oft nicht einmal schreiben konnten“, erklärt Sidi Moussa in seinem Buch. Zudem sei die Selbstzensur sehr stark gewesen und der Blick auf die Geschichte sowohl beim FLN wie auch beim MNA geprägt von Schwarz-Weiß-Denken. „Manche wollten nichts sagen, anderen hat man befohlen zu schweigen. Die Leute waren gebrochen, man hatte sie eingesperrt, einige von ihnen wurden liquidiert. Sie haben sich für die Unabhängigkeit geopfert und dann hat man sie ihnen geraubt, man klagte sie als Kollaborateure oder Mörder an. Darunter haben sie ihr Leben lang gelitten.“

In Algerien wurde die MNA also verteufelt, in Frankreich bekam sie jedoch politische Unterstützung, vor allem vonseiten der radikalen Linken. Der Historiker Benjamin Stora interessierte sich in den 1970er Jahren als junger Wissenschaftler für die MNA-Anhänger und schrieb 1978 seine Doktorarbeit über Messali Hadj.6 „Ich kannte die Geschichte der MNA, denn ich war in der trotzkistischen Organisation der kommunistischen Internationalisten, der OCI, aktiv, die während des Unabhängigkeitskriegs die MNA unterstützte“, erzählt Stora. „Nach dem Tod von Messali Hadj traf ich seine Tochter Djanina. Sie hat mir die Dokumente ihres Vaters übergeben.“

Manchen Kindern der Messalisten fällt es heute schwer, die Erinnerung an ihre Eltern zu bewahren. Das bestätigt auch Karim, der 35-jährige Sohn von Idir Boudjemil: „Ich dachte, Messali Hadj sei mein Großvater, so viele Fotos von ihm hingen bei uns zu Hause. Aber aus Angst vor Repressalien wollte mein Vater nie über diese Zeit sprechen.“

Die Dichterin und Romanautorin Rénia Aouadène ist die Tochter eines Marseiller Messalisten. Ihr Vater wurde ermordet, als sie sechs Monate alt war. „Ich habe mit sieben Jahren von dieser Geschichte erfahren. Ich spielte mit einem Nachbarjungen, der sagte plötzlich: ‚Dein Vater wurden von den Fellagha7 getötet, das war gut so!‘ Das hatte er wohl von seinen Eltern gehört.“ Bei ihr habe das sehr viel ausgelöst, Auflehnung und politisches Engagement, den Wunsch, alles zu wissen, erinnert sich Aouadène. „Mein Vater wurde von Leuten wie uns getötet, von Leuten, die wir kannten.“

Damals erwachte ihr Wunsch, zu schreiben. In ihrem ersten Roman „Nedj­ma et Guillaume“ (Marsa, 2009) heißt eine Person Djanina, nach der Tochter von Messali Hadj. „Ich habe recherchiert und die Namen der Mörder meines Vaters in Erfahrung gebracht. Es ist ein Schmerz, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Unsere Geschichte wurde in Algerien wie in Frankreich totgeschwiegen.“

Lakhdar Belaïd, Journalist bei der Zeitung Voix du Nord und Krimiautor, ist ebenfalls der Sohn eines Messali-Mitstreiters. Sein Vater war Arbeiter in den Bergwerken in Nordfrankreich und Mitglied der Gewerkschaftsorganisation der algerischen Arbeiter. Für ihn war Messali Hadj der geistige Vater des unabhängigen Algerien und hätte dessen Präsident werden sollen. Er war am Café-Krieg in Paris beteiligt, kam ins Gefängnis und trat mehr als einmal in Hungerstreik.

„Als Kind war ich in Roubaix bei heimlichen Treffen der Messalisten dabei“, erzählt Belaïd. „Ich war umgeben von Porträts der ‚Märtyrer der Bewegung‘ und brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass diese Kämpfer vom FLN getötet worden waren, nicht von der französischen Kolonialmacht.“ Sein Vater und seine Freunde hätten über alles Mögliche gesprochen, nur nicht über Gewerkschaftsbelange. Vor allem kritisierten sie die algerische Regierung in den Händen des FLN. „Bei meiner ersten Reise nach Algerien sagte mein Vater, wir sollten auf keinen Fall über Politik sprechen. Er war von Gewissensbissen und Verzweiflung erfüllt, wahrhaftig traumatisiert von dieser Geschichte.“

Wie andere Kinder von Messalisten kennt auch Belaïd nur Bruchstücke aus dem politischen Leben seines Vaters, der ihm kaum etwas erzählt hat. Nach seinem Tod veröffentlichte er mit Hilfe seiner Mutter ein Buch über den Vater: „Mon père, ce terroriste“ (Seuil 2018). „Dann wurde ich Krimiautor, aber alle meine Bücher haben einen Bezug zu diesem Konflikt: Ein Polizist ist Sohn eines Harki, ein Journalist Sohn eines Messalisten.“

In Algerien hat der FLN das Bild von Messali Hadj weitgehend ausgelöscht. Immerhin wurde er 2011 indirekt rehabilitiert, als Präsident Abdelaziz Boute­fli­ka erlaubte, dass der Flug­hafen in Tlemcen seinen Namen erhielt. In Frankreich kämpfen die Nachkommen der Messalisten weiterhin mit den Gespenstern des Bruderkriegs.

1 Siehe Alain Ruscio, „Die traurige Geschichte des Messali Hadj“, LMd, Juni 2012.

2 Nedjib Sidi Moussa, „Algérie, une autre histoire de l’indépendance. Trajectoires révolutionnaires des partisans de Messali Hadj“, Paris (PUF) 2019.

3 Am 28. Mai 1957 töteten Mitglieder der ALN dort 315 Personen. Später machte der FLN die französische Armee für das Massaker verantwortlich.

4 Siehe Marie-Joëlle Rupp und Arezki Metref, „Le rôle des cafés algériens dans l’immigration“, Hommes et migrations, Nr. 1308, 2014.

5 Raphaëlle Branche und Rafael Lewandowski, „Der Algerienkrieg“, Arte, 2022.

6 „Messali Hadj: pionnier du nationalisme algérien“, Paris (Le Sycomore) 1982.

7 Gemeint sind Kämpfer des FLN in Frankreich.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Selim Derkaoui ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2024, von Selim Derkaoui

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