07.11.2024

Streikwelle von Miami bis Seattle

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Streikwelle von Miami bis Seattle

von Rick Fantasia

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Zwölf Monate lang dominierte in allen Medien der USA das Wahlkampfgetöse. Doch im Hintergrund waren, wie ferne Trommeln, auch Sprechchöre zu hören, in denen streikende Arbeiterinnen und Arbeiter von der Ostküste bis zum Pazifik, von Massachusetts bis Texas und Hawaii ihre Forderungen artikulierten. Die zielten vor allem darauf, die seit über zehn Jahren anhaltende Stagnation der Löhne zu beenden und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Bei einem dieser Streiks Anfang Oktober waren 45 000 Hafenarbeiter in mehreren Städten der Ost- und Südküste beteiligt. Der Ausstand dauerte nur drei Tage, war aber höchst wirksam, weil er für die bis dahin anhaltend robuste Wirtschaftslage eine gewisse Bedrohung darstellte.

Die in der International Long­shore­men’s Association (ILA) organisierten Hafenarbeiter hatten seit fast 50 Jahren nicht mehr gestreikt. Doch mit der Möglichkeit, so wichtige Häfen wie New York, New Jersey, Baltimore, Savannah, New Orleans und Houston lahmzulegen, hat die ILA erheblichen Einfluss auf die Wirtschaft. „Nichts wird sich ohne uns bewegen, gar nichts!“, ermutigte ILA-Chef Harold J. Daggett am ersten Tag die Streikposten in Elizabeth, New Jersey.1

Aufgrund des Wahlkampfs erlangten die Gewerkschaft auch Einfluss auf die politische Situation. Die ILA gilt seit Langem als eine der konservativeren Gewerkschaften der USA – im Gegensatz zur Hafenarbeitergewerkschaft International Longshoremen’s and Warehousemen’s Union (ILWU), die an der Westküste dominiert und im Spektrum der US-Gewerkschaften weit links steht.2 Die Regierung Biden erklärte umgehend, sie werde sich nicht auf den Taft-Hartley Act berufen. Dieses berüchtigte gewerkschaftsfeindliche Gesetz ermächtigt die US-Präsidenten, Streiks zu verbieten, die sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit deklarieren.

Bidens Arbeitsministerin Julie Su wurde umgehend tätig, um die ILA und die Arbeitgeberseite, die U. S. Maritime Alliance, an den Verhandlungstisch zu bringen. Ob die ILA als Sieger aus dem Arbeitskampf hervorgegangen ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Dafür spricht, dass sie vorläufig Lohnerhöhungen von bis zu 62 Prozent über sechs Jahre erreichen konnte; wobei Hafenjobs im Allgemeinen ohnehin recht gut bezahlt werden. Zweifel wirft jedoch die Tatsache auf, dass die Verhandlungen über die sehr viel heiklere Frage der Automatisierung der Häfen auf den 15. Januar 2025 vertagt wurde.

Die Einführung neuer Technologien für das Entladen von Schiffen sorgt schon seit langem für Konflikte. Die Arbeitgeber nutzen alle Möglichkeiten, menschliche Arbeitskraft zu ersetzen – etwa durch Verwendung von genormten Containern für den Transport und Versand von Waren, durch die konsequente Standardisierung von Arbeitsabläufen und durch Computersysteme zur Registrierung, Zählung und Kontrolle der Warenbewegungen.

Im letzten Tarifvertrag hatte die Gewerkschaft eingewilligt, bestimmte „halbautomatische“ Maschinen zuzulassen. Dagegen blieb der Einsatz von Maschinen „ohne menschliche Interaktion“ untersagt. Diese Bestimmungen sind nun Gegenstand der nächsten Verhandlungsrunde.

Ab dem 13. September streikten zudem rund 33 000 Mitarbeitende von Boeing im pazifischen Nordwesten, also in der Region um Seattle, in den Bundesstaaten Washington und Oregon. Der Streik, der das Unternehmen offenbar überrascht hat, wurde beschlossen, nachdem die Belegschaft der Produktionssparte das Angebot einer 30-prozentigen Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von vier Jahren mit überwältigender Mehrheit abgelehnt hatten. Die Führung der Gewerkschaft International Association of Machinists and Aerospace Workers (IAM) wollte die Offerte des Unternehmens ursprünglich annehmen, sah sich angesichts des starken Widerstands ihrer Basis aber gezwungen, in den Streikmodus zu wechseln. Zuletzt wurde auch ein Angebot von 35 Prozent abgelehnt, die Gewerkschaft fordert nach wie vor 40 Prozent.

Dass die Boeing-Beschäftigten auf die Straße gingen, geht auf zwei Faktoren zurück: den gemeinsamen Glauben an reale materielle Verbesserungen und die kollektiven Erinnerung an die vergangenen Arbeitskämpfe.

Es begann am Labor Day

Bei Boeing verdienen Mechanikerinnen und Mechaniker in der Regel mehr als in anderen Unternehmen irgendwo sonst in den USA. Aber in Seattle und Umgebung, wo sich viele Boeing-Betriebe befinden, sind die Lebenshaltungskosten auch ungewöhnlich hoch. Die Immobilienpreise haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, was größtenteils auf das Wachstum der Tech-Industrie und insbesondere die Entwicklung der in dieser Gegend ansässigen Konzernzentralen von Amazon und Microsoft zurückzuführen ist. Die Wohnkosten in der Region Seattle können sich Boeing-Beschäftigte kaum noch leisten. Von daher ist ihre Forderung einer 40-prozentigen Lohnerhöhung – auch vor dem Hintergrund der jüngsten Erfolge der streikenden Automobil- und Hafenarbeiter – keineswegs unangemessen.

Die Wut vieler Streikender auf Boeing reicht mindestens bis ins Jahr 2014 zurück. Damals hatte der Luftfahrzeug-Konzern den früheren Tarifvertrag aufgekündigt und gedroht, die Produktion in ein neues, gewerkschaftsfreies Werk in South Carolina zu verlagern. Damit wollte Boeing die Beschäftigten zwingen, einer Kürzung der Krankenversorgungs- und Rentenleistungen zuzustimmen.

Zudem wurden die Arbeitgeberbeiträge zu einem festgelegten Pensionssystem eingefroren, auf das sich die Mitarbeitenden bis dahin verlassen hatten. Als Ersatz führte das Unternehmen ein Rentenmodell ein, das stark vom Aktienmarkt und seiner Volatilität abhängig war. Das erzeugte ein Misstrauen gegenüber der Geschäftsführung, das bis heute nachwirkt.

Inzwischen scheint Boeing darauf zu setzen, dass ein längerer Streik die Gewerkschaft eher schwächt: Die Beschäftigten müssen mit einem Streikgeld von 250 US-Dollar pro Woche aus dem Streikfonds der Gewerkschaft auskommen, aufgestockt mit dem Lohn eines eventuellen Zusatzjobs – falls sie einen finden. Um den Druck zu erhöhen, kündigte Boeing am 3. Oktober die betriebliche Krankenversicherung aller Streikenden, wovon 33 000 Beschäftigte und ihre Familien betroffen waren. Am 11. Oktober gab das Unternehmen zudem Pläne bekannt, 10 Prozent aller Stellen in den USA abzubauen, das wären etwa 17 000 Arbeitsplätze.

Der neue CEO Kelly Ortberg erklärte, die Kürzungen würden sich auf das gesamten Unternehmen erstrecken und sowohl Führungskräfte und Manager als auch die Arbeitskräfte in der Produktion betreffen. Auf Grund dessen kann die Gewerkschaft nicht behaupten, dass die Kürzungen eine illegale „unfaire Praxis“ zur Bekämpfung des Streiks darstellen. Allerdings kann man schwerlich annehmen, dass die angekündigten Maßnahmen nicht auf eine Demoralisierung der streikenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zielen.

Die dreiste Machtdemonstration der Geschäftsführung könnte jedoch auch damit zu tun haben, dass das Unternehmen derzeit sehr verwundbar ist. Das liegt weniger an den Streiks als an einer Reihe schwerwiegender technischer Probleme und Produktionsverzögerungen, die im August 2024 zu einer Management-Umstrukturierung und zur Ernennung von Kelly Ortberg zum CEO geführt hat.

Ortberg steht nun vor der Aufgabe, Boeing nach der schweren Panne vom Januar 2024 – einem Produktionsfehler bei der Boeing 737 Max 9 – aus der Krise zu führen. Damals wurde bei einer Maschine der Alaska Airlines während des Flugs ein Teil der Kabinenwand herausgerissen. Glücklicherweise kamen dabei keine Menschen zu Schaden – wie beim früheren Absturz von zwei Maschinen des Typs Boeing 737 Max 8, wobei insgesamt 346 Menschen ums Leben kamen.

Nach diesen Ereignissen sah sich das Unternehmen mit Ermittlungen der Bundesbehörden, Anhörungen im Kongress und Zivilklagen konfrontiert. In einem Vergleich erklärte es sich zur Zahlung von 243,6 Millionen US-Dollar bereit, für sämtliche Max-Jets wurden zudem bis zur Umsetzung ausreichender Qualitätsverbesserungen strenge Produktionsbeschränkungen verfügt. Probleme gibt es auch bei der Einführung von Boeings neuem Langstreckenjet 777X, die ursprünglich für 2020 geplant war, aber auf 2026 verschoben wurde.

In der Hotellerie hat die Streikwelle am „Labor Day“ begonnen, dem Tag der Arbeit am 3. September. Mitarbeitende der Hilton-, Marriott- und Omni-Hotels waren in den gesamten USA zum Ausstand aufgerufen. Etwa 10 000 Beschäftigte legten in 25 Hotels die Arbeit nieder, die sie erst am Ende des verlängerten Wochenendes wieder aufnahmen.

Seit September wird in verschiedenen Hotels und an verschiedenen Orten zu Streiks unterschiedlicher Dauer aufgerufen. Es handelt sich um rollende Streiks, auf die sich die Hotels nur schwer vorbereiten können und die sich an der Strategie der selektiven Arbeitsniederlegungen orientieren, die von der Automobilgewerkschaft United Auto Workers bei ihren Streiks im Jahr 2023 angewandt wurde.

An den rollenden Hotelstreiks beteiligen sich Haushälterinnen, Rezeptionisten, Köchinnen, Tellerwäscher, Kellnerinnen, Barkeeper, Hotelpagen und Türsteher. Alle Gruppen gehören der Gewerkschaft Unite Here an, in der rund 300 000 US-amerikanische und kanadische Servicemitarbeitende aus der Hotellerie, der Glücksspielbranche, der Gastronomie und verwandten Sektoren organisiert sind. Die Beschäftigten fordern generell höhere Löhne, mehr Personal, um die Arbeitsbelastung zu reduzieren, sowie die Rück­nahme der Kürzungen aus der Coronazeit.

Zum Auftakt hatten die Beschäftigten der drei größten Hotelketten für die Streiks gestimmt, in Boston und Baltimore, in San Diego, San José, San Francisco und Oakland, in Greenwich und New Haven (Connecticut), in Seattle, in Honolulu und Kauai (Hawaii) sowie in Providence (Rhode Island). Mitte Oktober befanden sich landesweit über 5000 Hotelangestellte im Streik. In Boston waren das größte Hotel der Stadt und das älteste Hotel des Landes betroffen. Dort nehmen an dem Ausstand 1300 Beschäftigte teil, und es könnten noch mehr werden. Einige Streiks dauerten Wochen, in mehreren Fällen wurden bereits Tarifverträge abgeschlossen. Zum Beispiel haben die Beschäftigten des Hilton San Diego Bayfront Hotel nach 38 Tagen Streik einen ­neuen Vierjahresvertrag zugestimmt. Der umfasst unter anderem Regelungen „zu Verbesserungen bei der Arbeitsbelastung, gegen belästigende Sprache, zur Änderung der Trinkgeld-/Gratifikationspolitik für Restaurant- und Bankettmitarbeitende sowie zu mehr bezahlten Urlaubstagen und Freizeit“.

Die Gewerkschaft hat Reisende aufgefordert, in bestreikten Hotels weder zu essen noch sich dort zu treffen oder zu übernachten. Welches Hotel wann bestreikt wird, ist aber kaum vorhersagbar. Vor den betroffenen Hotels stehen rund um die Uhr Streikposten, die Häuser laufen zwar im Notbetrieb weiter, können aber viele Dienstleistungen nicht anbieten. Das bedeutet, dass zeitweilig die tägliche Zimmerreinigung entfällt, dass sich Handtücher, Bettwäsche und Abfall in den Fluren türmen und Bars wie Restaurants geschlossen bleiben.

Frustrierte Gäste des Hilton Hawaiian Village Resort beschwerten sich über den mangelnden Service und darüber, dass man sie nicht vorab über die Situation informiert habe. Einige forderten auch lautstark – und in Badeklamotten – eine Rückerstattung ihrer Kosten. ⇥Rick Fantasia

1 Peter Eavis, „Port workers strike on East and Gulf Coasts“, The New York Times, 1. Oktober 2024.

2 Howard Kimeldorg, „Reds or rackets? The making of radical and conservative unions on the waterfront“, Berkeley (University of California Press) 1988.

3 Sean McCracken, „A look at nationwide hotel strikes“, Hotel News Now, 16. Oktober 2024.

Aus dem Englischen von Markus Greiß

Rick Fantasia ist emeritierter Professor für Soziologie am Smith College in Northampton, Massachusetts.

Le Monde diplomatique vom 07.11.2024, von Rick Fantasia