07.11.2024

Mythos und Wirklichkeit der Working Class

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Mythos und Wirklichkeit der Working Class

Seit Jahrzehnten wurden „die Arbeiter“ in den USA von beiden Parteien nur als „Konsumenten“ angesprochen. In derselben Zeit wurde das Arbeitsrecht im Sinne der Arbeitgeber umgestaltet. Erst Präsident Biden hat die alte Verbindung zwischen Demokraten, arbeitender Bevölkerung und Gewerkschaften neu geknüpft.

von Rick Fantasia

Harris und Walz mit Gewerkschaftsführer Shawn Fain (rechts) in Wayne, Michigan, 8. August 2024 JULIA NIKHINSON/picture alliance/ap
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Der US-Präsidentschaftswahlkampf von 2024 unterschied sich insofern von früheren Wahlkampagnen, als die Arbeiterschaft in der Rhetorik erstmals wieder eine große Rolle spielte. Was umso erstaunlicher ist, da „der Arbeiter“ als sozioökonomischer Akteur in den letzten 50 Jahren aus der politischen Vorstellungswelt der USA getilgt wurde. Eine der wesentlichen Errungenschaften des Neoliberalismus bestand ja darin, die Figur „Arbeiter“ im politischen Diskurs durch „Verbraucher“ und „Steuerzahler“ zu ersetzen. Diese Kategorien haben mittlerweile im politischen Leben der USA einen festen Platz als sozioökonomische Handlungsträger. Seit den 1970er Jahren sind sie immer stärker ins Zentrum der (Sozial-)Politik gerückt. Und je mehr von ihnen die Rede war, desto weniger ging es um die symbolische Präsenz und die mate­riel­len Rechte der eigentlichen „working class“.

So wurde es in den Vereinigten Staaten üblich, den gesamtwirtschaftlichen Fortschritt am Niveau der Konsumentenrechte zu messen: am Recht auf Auswahl zwischen verschiedenen Waren, auf Zugang zu Kredit, auf Einkaufen zu jeder Tages- und Nachtzeit, auf die Lieferung von Waren direkt an die Haustür.

Zugleich vollzog sich ein systematischer Abbau der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Der äußerte sich unter anderem in stagnierenden Löhnen, immer mehr befristeten Arbeitsverhältnissen, der Kürzung von Sozialleistungen und der Einschränkung des Streikrechts. In dieser Zeit avancierte „der Steuerzahler“ zu einer zentralen Kategorie im politischen Diskurs der USA. Immer wenn es um die Begrenzung von Sozialausgaben und staatlichen Aufwendungen geht, die nicht der Steigerung von „Investi­tio­nen“ (und damit privatem Profit) dienen, beruft man sich auf den Steuerzahler. Diese begriffliche Verschiebung wurde von den Regierungen der demokratischen Präsidenten Carter, Clinton und Obama beinahe ebenso entschieden betrieben wie von den Republikanern unter Reagan, George Bush und ­George W. Bush.

Doch im diesjährigen Wahlkampf erlangte „der Arbeiter“ auf einmal wieder seine prominente Position. Die Biden-Regierung hatte von Beginn an signalisiert, dass sie ihre Gesetzesinitiativen, Regulierungen und täglichen Geschäfte vorrangig auf die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der gewerkschaftlich organisierten Belegschaften und der Gewerkschaften ausrichten würde.

Im Herbst 2023 führte die US-Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) einen sechswöchigen Arbeitskampf gegen die drei großen Autobauer. Ziel war es, eine Serie von Zugeständnissen an die Autoindustrie abzuschaffen, die im Lauf der letzten 20 Jahre zu sinkenden Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen geführt hatten.

In den Monaten vor dem Streik hatten die Beschäftigten der Branche einen kämpferischen Anführer namens Shawn Fain zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt, der eine nachgiebige und stark korrumpierte Führungsriege ablöste. Der 54-jährige Fain, gelernter Elektriker und Automobilarbeiter in dritter Generation, hatte bei seiner Kandidatur eine härtere Haltung im Kampf um die Rückeroberung der von der Gewerkschaft preisgegebenen Lohnanteile und Sozialleistungen versprochen.

Damit beendete die Arbeitnehmerseite eine Periode relativer Zurückhaltung genau zu dem Zeitpunkt, als ein neuer vierjähriger Tarifvertrag anstand und die Unternehmen erhebliche Gewinnsteigerungen verkündeten. Die Autokonzerne hatten begonnen, massiv in die Batterieproduktion für Elektrofahrzeuge zu investieren. General Motors, Ford und das aus der Fusion von Fiat Chrysler und der Groupe PSA (Peugeot) hervorgegangene Unternehmen Stellantis bauten gerade sechs Batteriewerke in Michigan, Kentucky, Tennessee und Indiana.

Anstatt nach dem Scheitern der Verhandlungen sofort zu einem landesweiten Streik in der gesamten Branche aufzurufen, organisierte die Gewerkschaft selektive, strategisch kalkulierte Arbeitsniederlegungen in einzelnen Werken in verschiedenen Regionen. Anfangs gab die Gewerkschaftsführung eine Woche im Voraus bekannt, welche Werke betroffen sein würden, woraufhin die Unternehmen tausende Beschäftigte in anderen Fabriken auf Zeit freistellten. In der Folge gab die Gewerkschaft die Streikorte nicht mehr im Voraus bekannt und begann ausgewählte Ersatzteillager und bestimmte Standorte zu bestreiken – darunter einige der größten Montagewerke, in denen die rentabelsten Modelle hergestellt wurden.

Mit dieser Strategie unkalkulierbarer Streikwellen brachte die UAW die Unternehmen aus dem Tritt, denn sie hatten Schwierigkeiten, die Fertigungsstraßen am Laufen zu halten. Und sie wussten nicht, welche Werke in welcher Woche produzieren würden. Ein weiterer Vorteil war, dass letztlich nur 45 000 von landesweit insgesamt 150 000 Beschäftigten der Automobilindustrie im Ausstand waren. Dies ermöglichte den anderen Beschäftigten, sich den Streikposten anzuschließen – und es begrenzte die Kosten des Streiks für die UAW.

Nur zwei Wochen nach Streikbeginn zeigte sich Präsident Biden demonstrativ bei den Streikposten vor dem General-Motors-Werk in Belleville, in der Nähe von Detroit, Michigan. ­Biden kam auf Einladung von Shawn Fain nach Belleville, wo ihn der UAW-Führer begrüßte und dabei stolz verkündete, Biden sei der einzige US-Präsident, der jemals mit streikenden Arbeitern auf die Straße gegangen sei. Einen Tag später hielt Donald Trump im nahegelegenen Betrieb eines nicht vom Streik betroffenen, gewerkschaftsfreien Autozulieferers eine Rede, in der er sich mit den Arbeiterinnen und Arbeitern solidarisierte.

Dabei kritisierte Trump, ohne auf die spezifischen Aspekte des Streiks einzugehen, Bidens Unterstützung für die Elektromobilität. Der Ex-Präsident forderte Shawn Fain und die UAW auf, anstelle von Biden ihn zu unterstützen. Doch Fain erklärte zu diesem Ansinnen Trumps: „Ich sehe keinen Sinn darin, mich mit ihm zu treffen. Ich glaube nämlich nicht, dass sich der Mann auch nur ein bisschen dafür interessiert, wofür unsere Arbeiterinnen und Arbeiter stehen, wofür die Arbeiterklasse steht. Er dient der Klasse der Mil­liar­däre. Und das ist es, was in diesem Land falsch läuft.“1

Nach sechs Wochen konnten die Streikenden einen großen Sieg verbuchen. Der neue Tarifvertrag sieht nicht nur eine Lohnerhöhung um 25 Prozent über die nächsten vier Jahre vor, sondern auch die Wiedereinführung des regelmäßigen Lebenshaltungskostenausgleichs (Cost-of-Living Adjustment), der während der Coronapandemie abgeschafft worden war, eine Erhöhung der Unternehmensbeiträge zur Rentenkasse für Beschäftigte in der Autoindustrie und die Abschaffung des verhassten zweistufigen Einstellungssystems. Dieses hatte es den Unternehmen ermöglicht, neu Eingestellte wesentlich schlechter zu bezahlen als „reguläre“ Beschäftigte.

Der neue Vertrag sah nun für einige der niedrigsten Lohnstufen um bis zu 160 Prozent höhere Bezüge vor. Der Sieg in der Automobilbranche beflügelt die gesamte Gewerkschaftsbewegung, wirkt aber auch in dem großen Teil der US-Industrie nach, in denen es keine gewerkschaftliche Organisation gibt.

Präsident Joe Biden hat sich in seiner Amtszeit den Ruf des arbeitnehmerfreundlichsten Präsidenten seit Frank­lin D. Roosevelt erworben.2 Mit seiner Biografie hat das nur bedingt zu tun. Als Sohn eines bodenständigen irisch-katholischen Kleinunternehmers wuchs Biden in der Arbeiterstadt Scranton, Pennsylvania, auf. Während die Arbeiterbewegung in Bidens politischem Werdegang immer eine zumindest sentimentale Rolle gespielt hat, konnte sich die Demokratische Partei der Unterstützung durch die „working class“ zuletzt immer weniger sicher sein – wie die Wahl Trumps im Jahr 2016 zeigte. Als Biden 2020 als Präsidentschaftskandidat antrat, musste er daher unbedingt die traditionelle Verbindung zwischen Demokraten und Arbeiterschicht wiederbeleben. Das war für die Partei kein leichtes Unterfangen.

Denn erstens hatte sie sich ideologisch einer linken Identitätspolitik verschrieben, die als Grundlage von Exklusion und Inklusion die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen ausmachte, wogegen sie der Politik der Klassensolidarität – samt den entsprechenden Ressentiments – weitgehend abgeschworen hatte, sieht man vom kurzfristigen Aufstieg von Bernie Sanders ab.

Zweitens war die Partei weitgehend auf den neoliberalen Konsens eingeschwenkt, dem zufolge „die Kräfte des Marktes“ ein insgesamt vernünftiges Instrument zur Beurteilung von Werten und moralischen Erwägungen darstellen. Und drittens sah sie sich plötzlich mit einer verwandelten Republikanischen Partei konfrontiert, die bereit war, mit den elementarsten Grundsätzen demokratischer Praxis und politischen Anstands zu brechen – und die noch dazu vorgab, den „amerikanischen Arbeiter“ gegen das durch Freihandel und Globalisierung verursachte „Gemetzel“ zu verteidigen.

Bidens Reaktion als Präsident bestand darin, die politischen Zügel energisch in die Hand zu nehmen. In etwas mehr als drei Jahren erreichte er eine tiefgreifende Rückorientierung der US-Wirtschaft auf Beschäftigte und Gewerkschaften. Dabei musste er es mit mächtigen Gegnern aufnehmen: Die traditionell konservative Wall Street opponierte heftig, im Senat hatten die Demokraten nur eine hauchdünne Mehrheit, rechtsextreme Mitglieder des republikanisch dominierten Repräsentantenhauses versuchten ganz offen, grundlegende Regierungsfunktionen zu sabotieren, und der Oberste Gerichtshof bediente mehrheitlich vor allem die Interessen der Wirtschaft.

Mit einer gesunden Portion politischen Zwangs – und auch dank der Ausnahmesituation während der Coronapandemie – gelang es der Biden-Administration jedoch, mittels einer Art umgekehrter Schocktherapie ein weitreichendes Programm zu durchzusetzen: Um die Auswirkungen der Corona-Lockdowns abzufedern, nahm die Regierung rund 3,5 Billionen US-Dollar in die Hand, die fast zur Hälfte für Steu­er­er­leich­te­run­gen verwendet wurden. Und eine weitere Billion US-Dollar wurde bereitgestellt, um über einen Zeitraum von zehn Jahren die Verkehrsinfrastruktur des Landes zu sanieren, also etwa Straßen, Brücken, Bahnstrecken für Personen- und Güterverkehr, Flughäfen und öffentliche Verkehrssysteme.

Außerdem wurden Mittel für verschiedene Initiativen zur Förderung emissionsarmer Energiequellen, zur Aufstockung der Zuschüsse für die staatliche Krankenversicherung und zur Unterstützung eines weiteren gesundheitspolitischen Projekts bewilligt. Das soll durch Verhandlungen mit

Pharmaunternehmen zur Verbilligung von verschreibungspflichtigen Medikamenten für Rentner führen, die über das Krankenversicherungssystem Medicare versichert sind. Hinzu kommen mehrere Hundert Milliarden Dollar zur Subventionierung einer bislang fast inexistenten Chipindustrie. So sollen private Investitionen angestoßen werden, damit bis 2030 mindestens 20 Prozent der weltweit modernsten Chips in den USA hergestellt werden.

Diese Maßnahmen sollen gezielt Investitionen in den Regionen des Landes fördern, in denen die verarbeitende Industrie geschrumpft oder ganz verschwunden ist, um den Produktionssektor neu zu beleben und zu erneuern.

Die Gewerkschaftsbewegung hat in den traditionellen Hochburgen der US-Arbeiterschaft an Einfluss eingebüßt. Das ist vor allem eine Folge der Deindustrialisierung des alten industriellen Kernlandes und der knallharten Gewerkschaftsfeindschaft, die die Arbeitgeber seit Jahrzehnten praktizieren. Damit hat sich auch die traditionelle Verbundenheit der Arbeiterschicht mit der Demokratischen Partei aufgelöst; die früher so zahlreichen politischen, kulturellen und institutionellen Verbindungen auf lokaler Ebene wurden gekappt.3

Der Wirtschaftskurs des US-Präsidenten unter dem Titel „Bidenomics“ zielte also auf eine Industriepolitik zugunsten der in den letzten Jahrzehnten vernachlässigten Bevölkerungsgruppen, die nicht nur bei Wahlen immer weniger für die Demokraten stimmten. Viele dieser Arbeiter waren auch zunehmend für die Idee empfänglich, die Demokratie ganz abzuschaffen.4

Die Biden-Administration hat die einschlägigen Gesetze um Klauseln ergänzt, die ausdrücklich auf die Förderung der gewerkschaftlichem Organisation von Beschäftigten abzielen. Solche Klauseln verweigern etwa Privatunternehmen Bundesmittel, wenn sie gewerkschaftsfeindlich agieren – wie es gewerkschaftsfreie Firmen in den USA häufig tun.5

Das starke dezentralisierte System der Arbeitsbeziehungen und harten Tarifverhandlungen hat zur Folge, dass in den USA nur 10 Prozent der Beschäftigten unter den Bedingungen eines gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifvertrags arbeiten. Wobei viele grundlegende Sozialleistungen nur den Belegschaften gewerkschaftlich organisierter Betriebe zustehen.6

Biden hat auch arbeitnehmernahe Demokraten in wichtige Bundesbehörden wie das National Labor Relations Board (NLRB) berufen. Das NLRB soll die Durchsetzung des Arbeitsrechts gewährleisten sowie absichern, dass Tarifverhandlungen, bei denen häufig Verstöße von Arbeitgebern zu verzeichnen sind, fair verlaufen. Nicht zuletzt hat Biden die engagierte Kartellrechtsanwältin Lina Khan zur Vorsitzenden der Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission gemacht. Diese Position nutzt Khan, um energisch gegen die Machtkonzentration von Unternehmen insbesondere im Hightech-Sektor vorzugehen.

Mit Personalentscheidungen und Programmen, die dem „Laborismus“ des linken Flügels der Demokratischen Partei entgegenkommen und vom neoliberalen Kurs seit Clinton abweichen, hat sich die Biden-Administration für den Wahlkampf gegen die Republikaner positioniert. Doch der Gegner ist nicht mehr derselbe, denn die traditionelle Grand Old Party ist zu einem Verein von Trumps Gnaden geworden.

Trump behauptet gern, dass „kein Präsident so gut für die Arbeiter gewesen ist wie ich“. Und sein Running Mate JD Vance hat sein Geld als Venture-Capital-Unternehmer im Silicon Valley gemacht, als Aufsteiger aus armen Verhältnissen in den Appalachen, die er in seinem autobiografischen Buch „Hillbilly Elegy“ geschildert hat. Das Gespann Trump/Vance präsentiert sich als Retter Amerikas vor „bösen, schrecklichen Menschen“, wie Einwanderern, Demokraten, Experten, Akademikern, Linken, Liberalen oder Kommunisten.

Die Arbeiterschaft existiert für Trump und Vance nicht als tatsächliche gesellschaftliche Kraft; sie dient ihnen nur als rhetorische Allegorie, um ihre tatsächlichen politischen Ziele zu verschleiern. Wobei sie es vorziehen, diese Ziele im Wahlkampf nicht offen darzulegen.

Die Trump-Administration tat in ihrer Amtszeit von 2016 bis 2020 in materieller Hinsicht extrem wenig für die US-Bevölkerung und insbesondere für die Arbeiterschaft. Zwar setzte sie begrenzte Änderungen am Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) durch, aber auch eine großzügigen Steuersenkung für Unternehmen und allgemein die Reichen.

Was das NLRB betrifft, so schwächte die Behörde unter Trump die Stellung der Gewerkschaften in mehrfacher Hinsicht direkt. Zum Beispiel ermöglichte sie den Arbeitgebern, Beschäftigte fälschlicherweise als „unabhängige Auftragnehmer“ einzustufen, womit diesen das Recht auf gewerkschaftliche Organisation verwehrt war. Zudem konnten Beschäftigte entlassen werden, weil sie sich gewerkschaftlich engagiert hatten, solange aus dem Kündigungsbescheid kein gewerkschaftsfeindliches Motiv ersichtlich war. Vor allem aber schwächte das NLRB das Streikrecht.

Wie Trump über Streiks denkt, machte er in dem aufgezeichneten Gespräch mit Elon Musk auf dessen Plattform X (früher Twitter) deutlich. Da lobte er Musk ausdrücklich für die Art und Weise, wie er die Mitarbeitenden in seinen Unternehmen Tesla und SpaceX behandelt: „Ich liebe es. Sie kehren mit dem eisernen Besen.“ Besonders angetan war er von Musks Auftreten gegenüber der Twitter-Belegschaft: „Die streiken, und Sie sagen: Ist okay, ihr seid alle weg. Jeder Einzelne von euch ist weg.“ Und dann bescheinigte er Musk: „Sie sind der Größte! Sie wären sehr gut“, und meinte damit: als Mitglied einer Trump-Regierung.

Trump tat wenig, um die materiellen Interessen der Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterschaft zu berücksichtigen. Stattdessen schürte und provozierte er Ressentiments, Vorurteile und Ängste. Er selbst inszenierte häufig Rituale der Erniedrigung, um etablierte Personen und Institu­tio­nen zu Fall zu bringen. Wer sich von „dem System“ ausgeschlossen und an den Rand gedrängt fühlt, für den sind solche Auftritte ein Beweis für Trumps Qualitäten als „starker Führer“.

Sowohl Trump als auch Vance haben auf ihrer Wahlkampftour, bei der sie häufig in ländlichen Gemeinden und in Industriestädten auftreten, klare Aussagen über die Rolle der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften vermieden. Ganz wie traditionelle Republikaner sind sie gegen alles, was die Macht der Arbeiterschaft in der Gesellschaft tatsächlich stärken könnte. Ihre vollmundig erklärte Liebe zu den „hard working citizens“ ist nichts als eine Pose, die erkennen lässt, wie sie sich den mythischen weißen Arbeiter vorstellen: als einen zähen, kantigen „harten Mann“, der lediglich als Individuum existiert und nicht eine gesellschaftliche Schicht oder Bewegung repräsentiert.

Unterstützung bei den Gewerkschaften fand Trump nur bei den Polizeigewerkschaften und bei Sean O’Brien, dem Boss der Teamsters, der Gewerkschaft der Transportarbeiter. Trump lud O’Brien als Redner zum nationalen Parteitag der Republikaner ein, wo dieser dann vor allem die ungezügelte Macht von Unternehmen anprangerte, was viele Delegierte mit Buhrufen quittierten.7

Dagegen bekundeten Kamala Harris und ihr Running Mate Tim Walz ausdrücklich ihre Sympathie für die Gewerkschaftsbewegung. Walz hat als Gouverneur des Bundesstaats Minnesota viel Lob von den Gewerkschaften geerntet, weil er das arbeitnehmerfreundlichste Gesetzespaket durchgebracht hat, das seit Jahrzehnten in einem Bundesstaat beschlossen wurde. Und Harris hat als US-Vizepräsidentin die Task Force on Worker Organizing and Empowerment (Arbeitsgruppe für die Organisation und Stärkung von Beschäftigten) geleitet.

Angesichts dessen und einer aktuellen Arbeitslosenquote von derzeit 4 Prozent sollte man annehmen, dass sich Harris und Walz der Stimmen der meisten Arbeiterinnen und Arbeiter sicher sein können. Doch das unausgewogene Wahlsystem, die weitgehende Entpolitisierung der Wählerschaft und die polarisierende Rolle der Massenmedien haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Trumps ressentimentgeladenes Wahlkampfgeschrei stärker verfing als ursprünglich vermutet.

Die Wahlen am 5. November werden darüber entscheiden, wie die Zukunft des arbeitenden Amerika aussieht.

1 Tom Perkins, „Trump urges UAW to endorse him in speech at non-union car parts maker“, The Guardian, 27. September 2023.

2 Eyal Press, „Biden is the most pro-labor president since F. D. R. Will it matter in November?“, The New Yorker, 18. April 2024.

3 Siehe Lainey Newman und Theda Skocpol, „Rust Belt Union Blues: Why working-class voters are turning away from the Democratic Party“, New York (Columbia University Press) 2023.

4 Aurelia Glass und David Madland, „Communities that lost manufacturing jobs are main beneficiaries of Biden administration‘s new industrial policy“, CAP20, 6. März 2024.

5 Jonathan Weisman, „Flush with federal money, strings attached, a Deep South factory votes to unionize“, The New York Times, 12. Mai 2023.

6 Mit Gewerkschaften ausgehandelte Tarifverträge gibt es derzeit für etwa 7 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und für etwa 35 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Sektor; siehe: Rick Fantasia und Kim Voss, „Hard Work. Remaking the American Labor Movement“, Oakland (University of California Press) 2004.

7 Die Gewerkschaft Teamsters hat weder Trump noch Biden unterstützt.

8 Steven Greenhouse, „Why Harris’ VP choice is good news for workers“, Slate, 6. August 2024.

Aus dem Englischen von Markus Greiß

Rick Fantasia ist emeritierter Professor für Soziologie am Smith College in Northampton, Massachusetts, und zusammen mit Kim Voss Autor von „Hard Work: Remaking the American Labor Movement“, Berkley (University of California Press) 2004.

Le Monde diplomatique vom 07.11.2024, von Rick Fantasia