Wer war Hassan Nasrallah
von Adam Shatz
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Den Tod Hassan Nasrallahs verkündete die israelische Armee am 28. September, am Todestag von Gamal Abdel Nasser, dem ägyptischen Präsidenten und Vater des Panarabismus. Er verstarb 1970, drei Jahre nach der demütigenden Niederlage im Sechstagekrieg vom Juni 1967, in dessen Verlauf der Sieger Israel das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel eroberte.
Nasrallah wurde im unterirdischen Hisbollah-Hauptquartier in Haret Hreik, einem südlichen Vorort von Beirut, getötet. Das Gebäude wurde von etwa 80 präzisionsgelenkten Bomben der israelischen Luftwaffe zerstört. Wenige Stunden zuvor hatte Israels Ministerpräsident Netanjahu vor der UN-Generalversammlung in New York die Vereinten Nationen als „Sumpf des Antisemitismus“ bezeichnet und angekündigt, dass der Krieg im Libanon fortgesetzt werde.
Als kurz darauf der Tod Nasrallahs publik wurde, erklärte Netanjahu: „Er war nicht irgendein Terrorist. Er war der Terrorist.“ In Washington wurde das Ende des Hisbollah-Führers in ähnlicher Tonlage kommentiert. Dabei ließen Joe Biden, Kamala Harris und Verteidigungsminister Lloyd Austin allerdings unerwähnt, dass Netanjahu sie vor dem Bombenangriff nicht konsultiert hatte, obwohl er damit die Waffenstillstandsinitiative der USA und Frankreichs desavouierte, der er zuvor persönlich zugestimmt hatte.
Vergessen war auch, dass man in Washington mehrfach vor den Gefahren einer Eskalation zwischen Israel und dem Libanon gewarnt und gefordert hatte, eine Konfrontation mit Iran zu vermeiden. Biden bezeichnete die Tötung von Nasrallah als eine „Maßnahme der Gerechtigkeit“ für die mehr als 200 amerikanischen Opfer der Hisbollah im Libanon – seit dem Bombenanschlag auf die US-Botschaft und dem Angriff auf eine Kaserne der U.S. Marines 1987 bis heute.
Kamala Harris nannte Nasrallah einen „Terroristen mit amerikanischen Blut an den Händen“ – als hätten Netanjahu und seiner Minister saubere Hände, nach dem Tod von Zehntausenden und der gewaltsamen Vertreibung von gut 90 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen. Ganz zu schweigen von den ständigen Übergriffen und Zerstörungsakten israelischer Siedler im Westjordanland, von der Bombardierung des südlichen Libanon, der Bekaa-Ebene und Beiruts; und von den grauenhaften Attacken mittels manipulierter Pager und Funkgeräte. Offenbar hat auf der westlichen Werteskala arabisches Blut nicht denselben Wert wie amerikanisches oder israelisches.
Nasrallahs Anhänger im Libanon und viele andere Menschen jenseits der westlichen Welt werden den Hisbollah-Führer jedoch nicht als „Terroristen“ in Erinnerung behalten, sondern als politischen Führer und Symbolfigur des Widerstands gegen die Bestrebungen der USA und Israels im Nahen Osten.
Zwar ist die Hisbollah bekannt für ihre spektakulären Angriffe auf westliche Einrichtungen, doch seit dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 hat die „Partei Gottes“, ebenso wie ihr Anführer, einen komplexe Wandlung vollzogen. Eine solche Entwicklung ist in dieser Region ja nicht ungewöhnlich. Auch Menachem Begin und Jitzchak Schamir, die ersten Chefs von Netanjahus Likud-Partei, hatten ihre Karriere als „Terroristen“ begonnen.
Begin war Drahtzieher des Sprengstoffattentats auf das King David Hotel in Jerusalem, bei dem 1946 fast 100 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet wurden. Schamir plante die Entführung und Ermordung des UN-Vermittlers Folke Bernadotte im September 1948. Und Jitzchak Rabin, von vielen liberalen Zionisten als Friedenspolitiker verehrt, gab im Juli 1948 den Befehl, die Bevölkerung der arabischen Städte Lydda (Lod) und Ramle (Ramla), mindestens 50 000 Menschen, zu vertreiben.
Die Wandlung Nasrallahs vom Attentatsplaner zum Politiker entsprach also dem Beispiel seiner israelischen Feinde, deren Karrieren er angeblich genau studiert hat. Zum Hisbollah-Führer avancierte er, als die Israelis 1992 seinen Vorgänger Abbas al-Musawi und dessen Familie ermordet hatten. Der damals 31-Jährige Nasrallah hatte zwar schon fünf Jahre dem siebenköpfigen Schura-Rat angehört, war aber außerhalb des Führungszirkels kaum bekannt.
Er erwies sich als weit fähiger als al-Musawi und entwickelte sich zu einer Führungspersönlichkeit von historischem Rang, ja zu einer der Figuren, die in den vergangenen 30 Jahren die Geschicke der ganzen Region geprägt haben. Ein Beiruter Kollege merkte mir gegenüber kürzlich an, für den Libanon sei es ein „Fluch“ – und ein Symptom der Krise seiner säkularen Elite –, dass ausgerechnet ein schiitischer Fundamentalist der begabteste politische Führer des Landes sei.
Nasrallah war ein enger Verbündeter der Islamischen Republik Iran und des dort herrschenden schiitischen Klerus. Aber er war weit entfernt von dem Fanatiker, dessen oberstes Gebot „der Dschihad und nicht die Logik“ war, als den ihn der New Yorker ihn 2002 beschrieb.1 Vielmehr war er ein berechnender, intelligenter Führer, der es fast nie zuließ, dass Eifer über den klaren Verstand triumphierte. Zudem war er stets bemüht, die Psychologie des Feindes jenseits der Grenze einzukalkulieren.
Zugleich verstand Nasrallah, dass die Menschen im Libanon, einschließlich der schiitischen Bevölkerung, keine religiösen Eiferer sind, weshalb für ihn ein islamischer Staat auf absehbare Zeit nicht zur Debatte stand. Auch versuchte er nie, seiner Gefolgschaft die Scharia aufzuzwingen: Die Frauen in der Hisbollah-Hochburg in Südbeirut konnten sich kleiden, wie sie wollten, ohne von einer Moralpolizei belästigt zu werden.
Als der Südlibanon im Jahr 2000 von der israelischen Besetzung befreit wurde, sorgte Nasrallah dafür, dass gegen christlichen Kollaborateure keine außergerichtliche Vergeltung geübt wurde. Stattdessen wurden sie über die Grenze nach Israel abgeschoben; schiitische Kollaborateure wurden dagegen bestraft.
Bevor Nasrallah die Hisbollah im syrischen Bürgerkrieg an die Seite des Assad-Regimes brachte – wofür er von vielen seiner früheren Bewunderer gehasst wurde –, galt er als der letzte arabische Nationalist, der einzige Politiker außerhalb Palästinas, der bereit war, sich Israel entgegenzustellen. Häufig wurde er deshalb mit Nasser verglichen, aber anders als der ägyptische Staatschef, dessen Luftwaffe 1967 am ersten Kriegstag völlig vernichtet wurde, erzwang die Hisbollah im Libanonkrieg von 2006 nach einem Monat einen Waffenstillstand. Damals kündigte Nasrallah der libanesischen Bevölkerung übers Fernsehen den Angriff auf eine israelische Korvette an, die noch während seiner Ansprache von einer Hisbollah-Rakete getroffen wurde. Daraufhin huldigte ihm eine Zeit lang sogar die sunnitische arabische Welt.
Nasrallah war zwar stolz auf die militärischen Leistungen seiner Organisation im Krieg von 2006. Später räumte er allerdings ein, dass die Hisbollah mit der Entführung von zwei israelischen Soldaten der Gegenseite den passenden Vorwand geliefert hatte, große Teile des Libanon zu zerstören. Er gelobte damals, er werde diesen Fehler nicht noch einmal machen.
Gegründet wurde die Hisbollah 1982, kurz nach dem israelischen Einmarsch im Südlibanon, mit Unterstützung Irans. Der seit Juli 1981 herrschende Waffenstillstand zwischen Israel und der PLO endete im Juni 1982, als Terroristen im Auftrag von Abu Nidal, dem palästinensischen Erzfeind von PLO-Führer Jassir Arafat, ein Attentat auf den israelischen Botschafter in London verübten. Der israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon nutzte die Gelegenheit, um im Libanon einzumarschieren, wo die PLO ihr Hauptquartier hatte.
Im Südlibanon begrüßte es damals ein Teil der schiitischen Bevölkerung, erbost über die massive militärische Präsenz der PLO, durchaus, dass die Israelis Arafats „Staat im Staate“ zerschlagen wollten. Doch dann machten sich die Israelis durch ihr Vorgehen zu Feinden und provozierten eine Revolte der jüngeren Schiiten. Einer von ihnen war der 22-jährige Hassan Nasrallah.
Im Westen sieht man die Hisbollah zumeist als „von Iran unterstützte Miliz“. Das ist sie auch. Doch im Libanon pflegten die meisten politischen Gruppen seit jeher Kontakte zu ihren ausländischen Sponsoren (aus den USA, Frankreich, Saudi-Arabien). Im Gegensatz zu christlichen oder sunnitischen Libanesen haben Schiiten selten zwei Pässe oder gar Zweitwohnungen in London oder Paris. Sie mögen Verbindungen zu Iran haben, sind aber „Söhne des Libanon“.
Nasrallah wuchs in einem vorwiegend armenischen Arbeiterviertel in Ost-Beirut auf. Seine Familie wurde zu Beginn des Bürgerkriegs 1975 von christlichen Milizen vertrieben und zog in den Geburtsort des Vaters nahe der südlichen Hafenstadt Tyros. Der junge Hassan verehrte wie sein Vater den aus Iran stammenden Geistlichen Musa as-Sadr, dessen „Bewegung der Entrechteten“ die unterdrückten Schiiten des Libanon politisierte.2 Wie viele junge Schiiten begeisterte sich Nasrallah für die Revolution des Ajatollah Chomeini. Als dann 1982 ein 1500 Mann starkes Kontingent der iranischen Revolutionsgarde in der Bekaa-Ebene eine Miliz aufbaute (die spätere Hisbollah), zählte Nasrallah zu ihren ersten Mitgliedern.
Am 23. Oktober 1983 machte die Organisation weltweit auf sich aufmerksam, als sie mit einem Sprengstoffattentat 58 französische und 241 US-Soldaten der Multinationalen Streitkräfte im Libanon (MNF) tötete, die den Abzug der PLO überwacht hatten. Zwei Jahre später erklärte die Hisbollah ihre Entschlossenheit, „Amerikaner, Franzosen und ihre Verbündeten endgültig aus dem Libanon zu vertreiben und damit jedem kolonialistischen Gebilde auf unserem Boden ein Ende zu bereiten“. Ihr Ziel sei es, im Libanon einen „islamischen Staat nach iranischem Vorbild“ zu errichten.
Als Nasrallah 1992 zum Generalsekretär gewählt wurde, begann er, die Hisbollah auf der politischen Bühne des Libanon zu etablieren, und zwar gegen den Willen einer anderen Fraktion, die sich auf den Widerstand im Süden beschränken wollte und sich nicht in das konfessionell zersplitterte politische System des Libanon hineinziehen lassen wollte.
Als Person blieb Nasrallah unangefochten. 1997 wuchs sein Ansehen noch mehr, als sein 18-jähriger Sohn Hadi im Kampf gegen die israelische Besatzung umkam. „Mein Sohn hatte die außergewöhnliche Gelegenheit, als Märtyrer zu sterben“, erklärte Nasrallah damals. Seitdem trug er den Beinahmen „Abu Hadi“.
Am 3. Januar 2020 wurde Qasim Soleimani, der Kommandeur der Quds-Einheit innerhalb der iranischen Revolutionsgarden, im Irak von den USA ermordet. Seitdem war Nasrallah einer der einflussreichsten Führer im iranischen Lager. Im Libanon stärkte die Hisbollah ihre Position innerhalb des politischen Systems, das sie früher verachtet hatte. Und im Ausland gewann Nasrallah an Einfluss, indem er seine Milizionäre nach Syrien, Irak und Jemen entsandte, um dort militärische Verbündete auszubilden.
Bevor er 2006 untertauchen musste, hatte er gelegentlich Kontakt mit ausländischen Journalisten. Mir ist es 2004 gelungen, ihn zu einem Interview für die New York Review of Books zu gewinnen. An seinem Amtssitz in Haret Hreik wurden meine Übersetzerin und ich von einem Journalisten des Hisbollah-Senders Al Manar TV empfangen und nach einer gründlichen, aber respektvollen Durchsuchung in einen Empfangsraum gebracht, der mit Porträts von al-Musawi, Chomeini und Chamenei dekoriert war. Am Eingang hing ein Foto des jungen Hadi Nasrallah.
Was mich während unseres Gesprächs beeindruckte, war die zwanglose Autorität, die Nasrallah ausstrahlte: Seine Kollegen begegneten ihm mit Respekt, schienen ihn aber nicht zu fürchten. Seine Ansichten klangen zwar unversöhnlich, aber er war durchweg freundlich und unprätentiös und niemals überheblich; seine Argumente waren akribisch formuliert und zeugten von großer historischer Kenntnis – und vom genauen Studium seines Feindes.
Religion war in dem Gespräch kein Thema. Sichtbar stolz war er auf die Erfolge der Hisbollah. Die sonnte sich vier Jahre nach dem Rückzug Israels aus dem Libanon noch immer im Glanz des Siegs. Sie verfügte über ein jährliches Budget von 100 Millionen Dollar (vorwiegend von Iran finanziert) und stellte zehn Abgeordnete im libanesischen Parlament. Und sie baute ihre militärischen Stellungen im Süden und in der Bekaa-Ebene laufend aus. Die Hisbollah müsse ihr Waffenarsenal für den Fall behalten, dass Israel erneut in den Libanon einfallen sollte, so Nasrallah damals.
Doch Israel war für ihn nicht der einzige Feind oder seine einzige Sorge. Im Libanon selbst blieb er auch bei denen, die seinen Kampf gegen die israelische Besatzung befürworteten, eine umstrittene Figur. In Beirut gab es Gerüchte, wonach er in den 1980er Jahren an der Tötung libanesischer Kommunisten beteiligt gewesen sei, desgleichen an Attentaten gegen westliche Einrichtungen und Entführungen.
Als sich die Hisbollah immer mehr zu einem „Staat im Staate“ entwickelte – ein viel mächtigerer, als Arafats PLO gewesen war –, machte sie sich immer mehr Feinde. Nasrallah zögerte nicht, das von konfessionellen Trennlinien geprägte politische System für seine Zwecke zu nutzen. Seine Gegenspieler bedrohte er und ließ sie manchmal auch ermorden – wie im Februar 2021 den Publizisten Lokman Slim, der ein schiitischer Kritiker der Hisbollah war.
Nasrallahs Organisation war auch in einige der großen Katastrophen verwickelt, die das Land in den letzten Jahren heimgesucht haben: etwa in die Ermordung des Ex-Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri im Februar 2005 und in die gigantische Explosion vom August 2020 in einem Beiruter Hafenspeicher, wo die Hisbollah entzündbares Ammoniumnitrat gelagert haben soll.
Die Umwandlung der Hisbollah in eine politische Partei mag strategisch die richtige Entscheidung gewesen sein; doch Nasrallahs Kritiker behielten recht mit ihrer Warnung, dass das libanesische System die Organisation korrumpieren und sie ihren Nimbus als „saubere Kraft“ einbüßen würde. Aber keine Entscheidung Nasrallahs hat der Partei mehr geschadet als die Unterstützung für die Assad-Diktatur im syrischen Bürgerkrieg. Das erklärt auch, warum Leute, die unter Assad gelitten haben, die jüngste Demütigung der Hisbollah offen gefeiert haben.
Das Kalkül Nasrallahs in Syrien mag ganz pragmatisch gewesen sein; schließlich gehörte Assad zur sogenannten Achse des Widerstands. Wäre er abgesetzt worden, hätte die Hisbollah womöglich keine iranischen Waffen mehr über die syrische Grenze nach Libanon bringen können. Da sich Nasrallah jedoch stets als Verteidiger der Unterdrückten stilisiert hatte, waren viele schockiert, als er seine Kämpfer in Assads gnadenlosen Unterdrückungskrieg schickte.
Diese Entscheidung hat tatsächlich zum Überleben des Assad-Regimes beigetragen. Doch für die Partei erwies sie sich am Ende als unheilvoll. Die Hisbollah verlor in Syrien nicht nur Tausende ihrer Kämpfer, die „Partei des Widerstands“ machte sich damit auch zur Partei der Aufstandsbekämpfung gegen andere Araber. Zudem bedeutete die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten Syriens und Russlands, dass die Organisation anfälliger für die Unterwanderung durch Agenten der USA und Israels wurde.
Im Kampf gegen Israel hatte die Hisbollah vor allem Soldaten zu Gegnern, doch in Syrien beteiligte sie sich an einer Strategie der verbrannten Erde, die nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterschied. Seit 2006 unternahm sie nur gelegentliche Vergeltungsaktionen gegen israelische Ziele, und dann meist auf dem Gebiet der von Israel seit 1967 besetzten Schebaa-Farmen, das der Libanon als sein Territorium ansieht. Ansonsten blieb es an der Grenze so ruhig, dass radikale libanesische Sunniten Nasrallah vorwarfen, er sei zum „Grenzwächter Israels“ geworden.
All das änderte sich schlagartig am 8. Oktober 2023 mit der Entscheidung Nasrallahs, eine „Nordfront“ zu eröffnen. In Kommentaren aus Israel, von rechts wie von links, wurde der Hisbollah häufig vorgehalten, sie habe diesen Konflikt bewusst herbeigeführt, denn es habe keinen Grund gegeben, Nordisrael mit Raketen anzugreifen. Nasrallah sah das anders: Für ihn stand die Hisbollah im Zentrum des arabisch-israelischen Konflikts, der ein gesamter, nicht aufzuteilender sei, „eine einzige Realität“. Er sah es als seine Aufgabe an, als ein Mitglied der „Achse des Widerstands“ den Druck auf die Verbündeten der Hamas in Gaza zu reduzieren.
Im Westen hat man die Angriffe der Hisbollah auf Nordisrael, die zur Evakuierung von mehr als 50 000 israelischen Zivilisten führten, als Terrorismus verurteilt. Dagegen begrüßten viele Palästinenser die Unterstützung durch Nasrallah schon deshalb, weil keiner der übrigen arabischen Führer irgendetwas zur Verteidigung der Bevölkerung von Gaza unternahm.
Wie diese Führer denken, offenbarte sich in einem Gespräch des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MbS) drei Monate nach dem 7. Oktober mit US-Außenminister Antony Blinken: „Liegt mir persönlich die palästinensische Frage am Herzen? Mir nicht, aber meinem Volk schon, und deshalb muss ich dafür sorgen, dass das Ganze Sinn ergibt.“3
Nasrallahs Kalkül sah so aus: Wenn die Hisbollah nur militärische Ziele oder israelische Verteidigungsanlagen angreife, also zivile Opfer möglichst vermeide, könne sie ihre Unterstützung für die Bevölkerung von Gaza demonstrieren und Israel zu einem Waffenstillstand mit der Hamas zwingen – und zwar, ohne eine Eskalation an der libanesisch-israelischen Grenze auszulösen.
Ihm war vollkommen klar, dass die meisten Menschen im Libanon gegen einen Krieg mit Israel waren. Das galt selbst für viele Schiiten und auch für die Verbündeten in Teheran, die das Waffenarsenal der Hisbollah für den Fall eines israelischen Angriffs auf Iran zurückhalten wollten. Zugleich musste er jedoch das Image seiner Bewegung als Stütze des palästinensischen Widerstands bewahren, das er zerstört hätte, wäre er untätig geblieben. Deshalb beteuerte er ständig, die Hisbollah wolle Israel lediglich von weiteren Angriffsaktionen in Gaza abhalten und werde den Raketenbeschuss einstellen, sobald ein Waffenstillstand zustande käme.
Wiederholt versicherte Nasrallah auch, er sei nicht auf einen größeren Krieg aus, dasselbe erklärten seine Verbündeten in Teheran. So forderte der neue Präsident Massud Peseschkian vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen – in einem ungewöhnlich versöhnlichen Ton –, die Kämpfe im Libanon zu beenden. Die iranische Reaktion auf die israelischen Provokationen – speziell auf die Ermordung der Führungsfiguren von Hisbollah und Hamas in Beirut, Damaskus und Teheran – fiel entsprechend zurückhaltend aus.
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Folgenschwere Parteinahme für das Assad-Regime
Doch Nasrallah – dessen Analysen der Intentionen der israelischen Führung selbst israelische Beobachter in der Regel beachtlich fanden – hatte seinen Feind diesmal falsch eingeschätzt. Mehr noch: Er offenbarte eine erstaunlich naive Wahrnehmung der realen Kräfteverhältnisse.
Zwar war es der Hisbollah gelungen, gegenüber Israel eine Art Gleichgewicht der Abschreckung zu schaffen, doch dieser Zustand hat der Regierung Netanjahu nie gefallen. Und jetzt lieferte ihr Chef mit seinen als Solidaritätssignal gedachten Raketen den Israelis den seit Langem herbeigesehnten Vorwand, die Spielregeln zu ändern, die seit 2006 an der israelisch-libanesischen Grenze gegolten hatten.
Berichten zufolge wollte Israels Verteidigungsminister Joaw Galant nach dem 7. Oktober zunächst erst gegen die Hisbollah losschlagen – und nicht gegen die Hamas. Netanjahu soll dies abgelehnt haben. Aber der Plan für einen Krieg gegen die Hisbollah, auf den sich Israel fast 20 Jahre vorbereitet hat, blieb stets auf dem Tisch. Und das, obwohl Netanjahu vorgab, die Warnungen der Biden-Regierung vor einem Flächenbrand in der Region zu beherzigen. In Wirklichkeit war ihm klar, dass Biden und Blinken am Ende – nach eher zeremoniellen und halbherzigen „Vorbehalten“ und „Bedenken“ über das beste Vorgehen – kapitulieren würden.
Und so bombardierte die israelische Armee elf Monate lang den Südlibanon, tötete dabei hunderte Menschen und vertrieb fast 100 000 aus ihren Häusern. Doch das bedrückte das westliche Gewissen weit weniger als die Flucht der Menschen auf der israelischen Seite der Grenze. In den US-Medien jedenfalls wurde der Exodus arabischer Menschen wie eine Naturkatastrophe beschrieben, obwohl er vom israelischem Militär herbeigeführt wurde.
Mit den Attacken mittels manipulierter Pager und Funkgeräte am 17. und 18. September, bei denen mindestens 42 Menschen starben und über 3000 verletzt wurden, wurde noch deutlicher, dass die Israelis die Hisbollah und Nasrallah im Visier hatten. Denn der Angriff durch die Geräte zerstörte nicht nur das Kommunikationssystem der Organisation, er demonstrierte auch, wie weitgehend diese von den Israelis unterwandert war.
Die Hisbollah war seitdem wie gelähmt. Und dann folgte Schlag auf Schlag. Zunächst die mörderische Bombardierung des Libanon, durch die am ersten Tag mehr Menschen umkamen als jemals an einem Tag seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990. Dann die Ermordung von Nasrallah und vieler weiterer Hisbollah-Kommandeure. Mittlerweile wurden etwa 1,2 Millionen Menschen im Libanon – rund ein Viertel der Bevölkerung – vertrieben und weitere 1900 getötet.
Doch die Israelis haben es nicht nur auf die Hisbollah abgesehen. Es folgten Luftschläge gegen Hamas-Führer und Funktionäre der palästinensischen PFLP im Libanon und gegen die Huthis im Jemen. Und die ganze Zeit über sterben weiterhin Menschen im Gazastreifen bei neuen israelischen Luftangriffen, und im Westjordanland walzen israelische Bulldozer ganze Wohnviertel nieder.
Die Biden-Regierung steht weiter zu Israel, obwohl sie von Netanjahu mehrfach gedemütigt wurde. Entweder glaubt sie, mehr Druck auf Netanjahu könnte die Wahlchancen von Kamala Harris gefährden, oder sie billigt die israelischen Angriffe, weil damit die iranische Präsenz im Libanon geschwächt wird.
Netanjahu hat die US-Regierung wiederholt belogen. Nachdem er Washington versichert hatte, es werde nur eine „begrenzte“ israelische Bodenoffensive geben, ließ er am 1. Oktober die IDF in den Südlibanon einmarschieren. Die trifft dort allerdings auf gut ausgebildete Hisbollah-Kämpfer, deren Reihen dezimiert sein mögen, die aber das Terrain viel besser kennen als die Israelis. Allein in der ersten Woche nach Beginn der Bodenoperation wurden elf israelische Soldaten im Libanon getötet. Und die Hisbollah schießt weiterhin Raketen auf Nordisrael.
Israel behauptet, keine andere Wahl zu haben, was nachweislich falsch ist. Die Regierung Netanjahu hätte einen Waffenstillstand in Gaza aushandeln können. Oder sie hätte auf den amerikanisch-französischen Vorschlag für eine dreiwöchige Feuerpause zwischen Israel und der Hisbollah eingehen können, dem Nasrallah zugestimmt hatte und der womöglich zum Rückzug der Hisbollah hinter den Litani-Fluss geführt hätte. Dieser Vorschlag basierte, wie John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in Washington, hervorhob, „auf eingehenden Konsultationen, nicht nur mit den Ländern, die ihn unterzeichnet haben, sondern auch mit Israel selbst“.
Doch Netanjahu agierte so doppelzüngig wie schon mehrmals zuvor in den Verhandlungen über den Gazakrieg: Er half den Amerikanern, ein Konzept für einen Waffenstillstand zu entwerfen, das er nicht zu akzeptieren vorhatte; zugleich hatte er bereits angeordnet, gerade diejenigen arabischen Führer zu liquidieren, die dem Waffenstillstand zustimmen mussten: zuerst Ismael Hanijeh, der am 31. Juli in Teheran getötet wurde; und dann Nasrallah. Gegen dessen Ermordung soll Netanjahu zunächst Bedenken gehabt haben, gab aber seine Zustimmung kurz vor seinem Abflug zur UN-Vollversammlung in New York.
Die Hisbollah stellt sich gern als Organisation dar, deren Existenz nicht von einzelnen Persönlichkeiten abhängig ist. Doch in Nasrallah besaß sie eine Führungsfigur mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sein Tod ist für sie ein äußerst harter Schlag; auch für Teheran ist er ein schwerer Verlust. Am 1. Oktober feuerte Iran als Reaktion auf die Ermordung von Nasrallah und Hanijeh fast 200 ballistische Raketen auf Israel ab. Der Schaden blieb überschaubar, ebenso wie bei Israels Reaktion vom 26. Oktober, bei der vier iranische Soldaten starben (siehe den Artikel von Gilbert Achcar auf Seite 1).
Nachdem Israel bereits am 3. Oktober auch Nasrallahs Cousin Haschem Safi al-Din ermordet hatte, der als sein Nachfolger gehandelt worden war, erklärte die Hisbollah am 29. Oktober schließlich Naim Kassim zu ihrem neuen Führer. Kassim war schon seit 1991 stellvertretender Generalsekretär der Organisation, hatte aber unter Hisbollah-Anhängern nie ein ähnlich hohes Ansehen genossen wie sein Vorgänger.
Die Euphorie in Israel über die militärischen Erfolge gegen die Hisbollah dürfte indes nicht von langer Dauer sein. Wie andere „sekundäre“ Kriegshandlungen in Zeiten eines festgefahrenen Konflikts wird sich der Angriff auf den Libanon wohl als ein flüchtiges Erfolgserlebnis herausstellen.
Der Tod Nasrallahs wird weder die Niederlage der Hamas in Gaza beschleunigen, noch wird er die Rückkehr der noch lebenden Geiseln erleichtern (für deren Schicksal sich Netanjahu offenbar nicht mehr interessiert). Und er wird ganz bestimmt nicht dazu führen, dass die palästinensische Bevölkerung vor den Absichten der herrschenden Zionisten kapituliert.
Die Hisbollah wird sich wohl langsam erholen. Auf Nasrallah und seine Kader wird eine neue und nicht weniger zornige Generation folgen, die nicht vergessen wird, was das israelische Militär im Libanon angerichtet hat: Tod, Zerstörung und Vertreibung – durch Bombardierungen, die zu den massivsten des 21. Jahrhunderts zählen.
Der Tod Nasrallahs ist für seine Organisation ebenso demütigend, wie es für Nasser die Niederlage von 1967 war. Aber nichts taugt besser als Demütigungen, um Widerstand zu nähren.
1 Geoffrey Goldberg, „In the Party of God“, The New Yorker, 20. Oktober 2022.
3 Siehe Franklin Foer, „The War that Would Not End“, The Atlantic, 26. September 2024.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Adam Shatz ist Redakteur bei der London Review of Books.
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