Eisiges Labor
Die Antarktis als Ort der Forschung und Modell internationaler Zusammenarbeit
von Philippe Descamps
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Nur etwa 1000 Menschen leben während des Südpolarwinters in der Antarktis; dabei erstreckt sich der Kontinent Antarktika über eine Fläche von 13,5 Millionen Quadratkilometer – 37-mal so groß wie Deutschland. Das sonstige terrestrische Leben beschränkt sich auf einige Flechten und Vögel, die sich der Kälte angepasst haben.
Ein durchschnittlich fast 2 Kilometer dicker Eisschild bedeckt den größten Teil des Festlandssockels. Manche Eisdome sind sogar mehr als 4 Kilometer dick. Das Inlandseis setzt sich im Meer als Schelfeis fort, das 4 Millionen Quadratkilometer umfasst. Das dem Schelfeis vorgelagerte Meereis bedeckt im September mehr als 17 Millionen Quadratkilometer – eine Fläche 7-mal so groß wie das Mittelmeer.
Hinzu kommen heftige, fast ständig wehende Fallwinde mit Spitzengeschwindigkeiten von über 300 Stundenkilometern und eine extreme Trockenheit – in einigen Regionen fällt weniger Niederschlag als in der Sahara. Kein Wunder also, dass Antarktika vom Trubel der bewohnten Welt größtenteils verschont bleibt.
Die starken Strömungen im Ozean rings um den südlichen Polarkreis haben zudem dafür gesorgt, dass der Kontinent erst spät entdeckt wurde: nämlich im 19. Jahrhundert (siehe nebenstehenden Kasten). Aufgrund der großen Entfernungen und klimatischen Bedingungen konnten Gas, Öl und andere Rohstoffe nicht abgebaut werden. Die Seemächte beschränkten ihre Raubzüge auf das Leben im Meer und jagten vor allem Wale, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beinahe ausgestorben wären.
Als der britische Polarforscher Ernest Shackleton 1908 ganz nah an den Südpol herankam, reklamierte London in imperialistischer Manier die entdeckten Gebiete für sich; Gleiches taten die britischen Dominions Neuseeland 1923 und Australien 1933. Frankreich beanspruchte 1924 Adélieland. Norwegen verlautbarte 1939 Gebietsansprüche, ebenso wie das nationalsozialistische Deutschland von 1939 bis 1945.
Die südamerikanischen Anrainer Chile und Argentinien wollten sich ebenfalls ihr Stück vom Kuchen sichern und dehnten ihre Hoheitsgebiete 1940 respektive 1942 bis zum Südpol aus, was sich zum Teil mit den Ansprüchen anderer Staaten überlappte. Nach 1945 meldeten auch die beiden Großmächte USA und UdSSR Ansprüche an, wiesen aber darauf hin, dass solche Verlautbarungen eigentlich keinen Sinn hätten, solange es keine dauerhaften Niederlassungen gäbe.
Seit den ersten Entdeckungsreisen sind die meisten „Bewohner“ des Südkontinents Wissenschaftler:innen. Mit ihrer Lage nahe dem Südpol und den extremen Wetterbedingungen bietet die Antarktis ein einzigartiges Labor, um die Erde und deren Atmosphäre zu untersuchen. Zur Vorbereitung des Internationalen Geophysikalischen Jahrs von Juli 1957 bis Dezember 1958 lancierten zwölf Staaten eine Kampagne zur Beobachtung der Sonnenaktivität.1 Sie errichteten rund 40 Forschungsstationen: Frankreich die Station Dumont-d’Urville, die UdSSR die Wostok-Station und die USA die Amundsen-Scott-Station, wenige hundert Meter vom geografischen Südpol entfernt.
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Der kosmischen Strahlung auf der Spur
Nach dieser erfolgreichen Zusammenarbeit unterzeichneten die Staaten am 1. Dezember 1959 in Washington den Antarktis-Vertrag, in dessen Präambel die Unterzeichnerstaaten anerkennen, „dass es im Interesse der ganzen Menschheit liegt, die Antarktis für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen und nicht zum Schauplatz oder Gegenstand internationaler Zwietracht werden zu lassen“.
Um keine Unruhe zu verbreiten, wurden die früher erhobenen Gebietsansprüche nicht angetastet, aber gemäß Artikel IV „während der Geltungsdauer dieses Vertrags“ eingefroren. Artikel I untersagt südlich des 60. Grads südlicher Breite „alle Maßnahmen militärischer Art“ (Einrichtung von Stützpunkten, Manöver, Waffenversuche). Die Freiheit der Wissenschaft wird durch konkrete Regelungen zum Austausch von Informationen, Personal und Publikationen, aber auch durch den garantierten Zugang zur gesamten Antarktis gefördert. Dieser Vertrag, der auf einem ganzen Kontinent ausschließlich friedliche Handlungen erlaubt, trat am 23. Juni 1961 in Kraft.
Auf zahlreichen Gebieten – wie Seismologie, kosmische Strahlung oder Meeresbiologie – erbrachten internationale Zusammenarbeit und die Forschung vor Ort wichtige Erkenntnisse und erhöhten das Bewusstsein für die Umweltschäden des Industriezeitalters. So entdeckten 1984 britische Chemiker von der Halley-Station erstmals das „Ozonloch“, dessen Ausdehnung in erster Linie die Menschen in Südamerika und Australien bedrohte. Diese Entdeckung führte zum Montreal-Protokoll und zum Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW).
1987 konnte ein französisch-sowjetisches Team durch Tiefenbohrungen an der Wostok-Station eine direkte Verbindung zwischen der Erdtemperatur und der CO2-Konzentration in der Atmosphäre nachweisen. Was maßgeblich zum Verständnis der Klimakrise beigetragen hat.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts weckt die Antarktis zunehmend Interessen und Begehrlichkeiten. Weitere Länder, wie China und Indien, haben Stationen in den Larsemann Hills errichtet, wo das Klima weniger rau ist. Bis heute haben 57 Staaten den Antarktis-Vertrag ratifiziert. 29 davon sind „Konsultativstaaten“, weil sie größere Forschungsvorhaben finanzieren. Die 28 übrigen haben Beobachterstatus und nehmen an den Konferenzen teil, dürfen aber nicht abstimmen.
Seit ihrer Ankunft in der Antarktis haben die Menschen die empfindlichen Ökosysteme permanent gestört, vor allem durch das Einschleppen invasiver Arten (Katzen, Ratten, Mäuse, Hasen), die die Albatrosse und endemische Sturmvogelarten auf den Inseln bedrohen. Die Jagd auf Wale und Robben im Südpolarmeer überstieg bald deren Reproduktionsfähigkeit.
Heute ist es der Mangel an Metallen und fossilen Energiequellen, der zur risikoreichen Ausbeutung der antarktischen Rohstoffe verführt; der technische Fortschritt würde es möglich machen. Kürzlich sollen russische Delegationen Öl- und Gasreserven entdeckt haben, die 10-mal so groß sind wie die in der Nordsee.2
Zum Schutz der zusehends bedrohten Antarktis wurden weitere internationale Abkommen aufgelegt. Sie bilden gemeinsam mit dem Vertrag von 1959 ein umfangreiches völkerrechtliches System. Nachdem man die Waljagd seit 1946 mit immer restriktiveren Quoten eingeschränkt hatte, wurde die Robbenjagd 1978 ganz verboten.
Französisch-sowjetische Tiefenbohrungen
Seit 1982 verwaltet eine im australischen Hobart ansässige Kommission die Meeresressourcen und verfolgt dabei einen Ansatz, der das gesamte Ökosystem im Blick hat und die möglichen Auswirkungen jeglicher Nutzung auf sämtliche Lebewesen berücksichtigt.
Ein 1988 in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington verabschiedetes Übereinkommen sollte die Exploration und Förderung der mineralischen Ressourcen der Antarktis regeln – sprich erlauben. Doch kurz nach der Ölpest, die durch die Havarie des Tankers „Exxon Valdez“ im März 1988 vor der Küste Alaskas verursacht wurde, machten verschiedene NGOs auf die Gefahren der Ölförderung in den Polarmeeren aufmerksam. Der französische Premierminister Michel Rocard und sein australischer Amtskollege Robert Hawke blockierten daraufhin die Ratifizierung dieses Übereinkommens und begannen neue Verhandlungen, um einen breiteren rechtlichen Rahmen zum Verbot der Ausbeutung mineralischer Ressourcen zu schaffen.3
Diese Bemühungen führten schließlich zum Umweltschutzprotokoll, das im Oktober 1991 in Madrid unterzeichnet wurde und 1998 in Kraft trat. Es untersagt „jede Tätigkeit im Zusammenhang mit mineralischen Ressourcen mit Ausnahme wissenschaftlicher Forschung“. Das Protokoll geht sogar noch einen Schritt weiter als der Antarktisvertrag von 1959, denn hier wird die Antarktis als „ein dem Frieden und der Wissenschaft gewidmetes Naturreservat“ bezeichnet.
Zudem sollte ein Umweltschutzausschuss gebildet werden, der jedes Vorhaben auf seine Umweltverträglichkeit prüft. Die Anlagen zum Protokoll sehen verschiedene Modalitäten zum Umgang mit Abfällen und Verschmutzung sowie mögliche Notfallmaßnahmen vor. Sie schufen auch einen Rahmen für die Einrichtung von besonders geschützten Gebieten der Antarktis (Antarctic Specially Protected Area, Aspa) mit eigenem Verwaltungsplan und Verhaltenskodex, für die eine Zugangsgenehmigung erforderlich ist, und für besonders verwaltete Gebiete der Antarktis (Antarctic Specially Managed Area, Asma). Damit sollten die Umweltauswirkungen in den Bereichen, in denen Menschen tätig sind, auf ein Mindestmaß beschränkt werden.
Dieses Vertragssystem wurde teilweise auch in die nationalen Gesetzgebungen übernommen. So werden in der französischen Umweltgesetzgebung in Artikel L713-5 „Tätigkeiten zur Prospektion oder Ausbeutung mineralischer Ressourcen“ mit zwei Jahren Gefängnis bestraft.
Der Kommission in Hobart gelang bereits die Einrichtung zweier Meeresschutzgebiete (MPA), 2009 an den Südlichen Orkney-Inseln und 2016 im Rossmeer. Doch seitdem stockt die Zusammenarbeit aufgrund wachsender internationaler Spannungen. 2022 und 2023 blockierten Russland und China die Ausweisung dreier neuer Meeresschutzgebiete an der Westküste der Antarktischen Halbinsel, im Weddell-Meer und in der Ostantarktis.
Obwohl der Verdacht, manche Staaten verfolgten durchaus andere Interessen, die vertrauensvolle Zusammenarbeit beeinträchtigt, bekräftigten die 57 Unterzeichnerstaaten 2021 „ihr festes und unbedingtes Engagement“ für die Vertragsziele. Moskau, das besonders im Fokus stand, bestätigte seine Doktrin am 31. März 2023: „Russland ist daran interessiert, die Antarktis als demilitarisierten Raum des Friedens, der Stabilität und der gleichberechtigten Zusammenarbeit zu erhalten, die ökologische Nachhaltigkeit aufrechtzuerhalten und seine Präsenz in der Region auszubauen.“4
Trotz alarmistischer Spekulationen läuft der Antarktisvertrag nicht automatisch im Jahr 2048 aus. Das Ausbeutungsverbot für mineralische Ressourcen könnte zu diesem Zeitpunkt zwar aufgehoben werden, doch das ist sehr unwahrscheinlich. Ein Staat, der das Madrider Protokoll verändern möchte, müsste entweder zum jetzigen Zeitpunkt alle Konsultativstaaten auf seine Seite bringen – oder im Jahr 2048 die Zustimmung von mindestens drei Vierteln der 26 Konsultativstaaten von 1991 gewinnen.
Das Vertragssystem zur Antarktis schafft eine Art Gemeinschaft zwischen den Ländern und bleibt damit ein Paradebeispiel internationaler Zusammenarbeit. Es kann als Vorbild für die Verwaltung anderer Gebiete oder des Weltraums dienen. Seine Grenzen liegen eher darin, dass die Verträge selbst keine konkreten Sanktionen vorsehen, da diese durch nationale Gesetzgebung geregelt werden sollen.
Obwohl es natürlich immer möglich ist, dass diese Abkommen aufgekündigt werden, sollte die logische und wünschenswerte Weiterentwicklung dieses Systems letztlich zur Schaffung eines Weltnaturparks unter UN-Verwaltung führen.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Was wann geschah
7. Jahrhundert Vermutlich haben die Maori zu dieser Zeit als Erste das Südpolarmeer befahren. In den mündlich überlieferten polynesischen Sagen ist von dem Seefahrer Ui-te-Rangiora die Rede, der ein schneebedecktes Meer entdeckt, aus dem Felsen herausragen.
1775 Der britische Kartograf James Cook entdeckt die Südlichen Sandwichinseln und kreuzt mehrmals den Polarkreis.
7. Februar 1821 John Davis, der amerikanische Kapitän eines Robbenfängers, betritt vermutlich den Südkontinent.
22. Januar 1840 Der vom französischen König Louis Philippe entsandte Jules Dumont d’Urville segelt an der Küste von Adélieland entlang und hisst eine Fahne auf dem Rocher du Débarquement.
1898 Dem Belgier Adrien de Gerlache gelingt auf einer Expedition mit einer internationalen Crew, an der unter anderem Frederick Cook und Roald Amundsen beteiligt sind, die erste Überwinterung.
1903 Jean-Baptiste Charcot kartografiert die Antarktische Halbinsel.
1908 Ernest Shackleton nähert sich bis auf 180 Kilometer dem Südpol. Großbritannien erhebt Anspruch auf einen Teil der Antarktis.
14. Dezember 1911 Der Norweger Roald Amundsen erreicht den Südpol.
1928 Der Amerikaner Richard Byrd errichtet die erste Station in Little America nahe der Rossbarriere. Er unternimmt zahlreiche Expeditionen, vor allem mit Flugzeugen, und überwintert 1934 als Erster allein in der Antarktis.
2. Dezember 1946 Die Internationale Konvention zur Regelung des Walfangs wird verabschiedet.
1947 Erste französische Polarexpeditionen in Adélieland unter Leitung von Paul-Émile Victor.
1950 Bau der französischen Station Port-Martin.
1956/57 In Vorbereitung des Internationalen Geophysikalischen Jahrs 1957/58 errichten zwölf Länder in der Antarktis Forschungsstationen, darunter Frankreich, die UdSSR und die USA.
1. Dezember 1959 Unterzeichnung des Antarktisvertrags.
1. Juni 1972 Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben, die Jagd wird 1978 verboten.
28. Juni 1974 Die Chemiker Mario Molina und Frank Sherwood Rowland veröffentlichen in Nature einen Artikel, in dem sie belegen, dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) die Ozonschicht in der Stratosphäre schädigen.
20. Mai 1980 Unterzeichnung des Canberra-Übereinkommens und Gründung der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis.
16. Mai 1985 Joe Farman und zwei seiner Partner vom British Antarctic Survey warnen in Nature vor einem „Loch“ in der Ozonschicht über der Antarktis. Beginn der internationalen Verhandlungen zum Verbot von FCKW.
1. Oktober 1987 Ein französisch-sowjetisches Team veröffentlicht drei Artikel in Nature, die eine Korrelation zwischen Temperaturschwankungen und der CO2-Konzentration in der Atmosphäre belegen. Bohrungen an der Wostok-Station ermöglichen es, das Erdklima der letzten 160 000 Jahre zu rekonstruieren.
1988 Gründung des Weltklimarats (IPCC).
2. Juni 1988 Unterzeichnung des Übereinkommens zur Regelung der Tätigkeiten im Zusammenhang mit mineralischen Ressourcen der Antarktis (Cramra) in Wellington; es wurde jedoch von keinem Staat ratifiziert und trat nie in Kraft.
4. Oktober 1991 Unterzeichnung des Umweltschutzprotokolls in Madrid, das die Ausbeutung mineralischer Ressourcen untersagt.
2000 Frankreich und Italien bauen die Station Concordia auf 3233 Meter Höhe und sammeln mit Bohrungen Daten über 800 000 Jahre Erdgeschichte.
2009 Die Südlichen Orkneyinseln werden zum Meeresschutzgebiet erklärt.
2016 Das Rossmeer wird Meeresschutzgebiet.
Oktober 2023 Die Kommission zum Erhalt der lebenden Meeresschätze scheitert bei der Einrichtung von drei neuen Meeresschutzgebieten.