Maduro mit Zähnen und Klauen
Wie sich Venezuelas Präsident an die Macht klammert
von Christophe Ventura
Am 2. September eröffnete Nicolás Maduro ein „Treffen der fünf Generationen der Revolution“. Der venezolanische Präsident, dessen dritte Amtszeit am 10. Januar 2025 beginnt, empfing im Präsidentenpalast Miraflores Aktivistinnen, Intellektuelle, Militärs, Milizionäre und andere Chavisten.
Der „Chavismus“ – abgeleitet von Hugo Chávez, Venezuelas Präsident von 1999 bis zu seinem Tod 2013 – meint die „zivil-militärische Allianz“ aus sozialen, politischen und militärischen Kräften „zur Verteidigung der Bolivarischen Revolution“. In ihrem Zentrum steht die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) mit ihren nach eigenen Angaben 4 Millionen Mitgliedern (bei einer Bevölkerung von rund 28 Millionen).
In den letzten Jahren hat sich jedoch in der Linken, insbesondere bei der Kommunistischen Partei (PCV), und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ein dissidenter Chavismus herausgebildet, der sich gegen den autoritären und repressiven Kurs der Regierung richtet.
Diese Gruppen positionieren sich zudem gegen die zunehmend liberale Wirtschaftspolitik Maduros in der anhaltenden Krise: gegen die Quasi-Dollarisierung (angesichts einer seit Jahren galoppierenden Inflation), die die soziale Ungleichheit noch vergrößert; gegen die Liberalisierung vor allem in der Rohstoffbranche und der Landwirtschaft; gegen die Sonderwirtschaftszonen nach chinesischem Vorbild; und gegen die Begünstigung ausländischer Investoren, wie Steuerbefreiungen und Erleichterungen bei der Repatriierung von Gewinnen.
Mit dem Empfang in Miraflores, wenige Wochen nach der Bekanntgabe der äußerst umstrittenen Wahlergebnisse, verfolgte der Präsident mehrere Ziele, vor allem aber die Stärkung der Einigkeit im Chavismus. Die Nationale Wahlkommission hatte am 28. Juli Maduros Sieg über den Kandidaten der Demokratischen Einheitsplattform (PUD), Edmundo González Urrutia, verkündet,1 was der Oberste Gerichtshof am 22. August bestätigte.
Kritik daran äußerte nicht nur die Opposition, sondern auch die US-Regierung, deren Verbündete und die lateinamerikanischen Nachbarstaaten: Die Ergebnisse seien nicht unabhängig bestätigt worden, die Listen der in den einzelnen Wahllokalen abgegebenen Stimmen seien nicht veröffentlicht worden und es sei keine Kontrolle des IT-Systems und der Ergebnisübermittlung erfolgt.
Brasilien und Kolumbien erkennen das bisherige Wahlergebnis nicht an und forderten die Regierung in Caracas zur detaillierten Veröffentlichung der Wahlergebnisse auf. Der chilenische Präsident Gabriel Boric entschied sich für einen Bruch mit der Maduro-Regierung und sprach auf X von einer „Diktatur, die die Wahlen fälscht“. Mexiko hatte sich zunächst der Position Brasiliens und Kolumbiens angeschlossen, nahm aber die Entscheidung des venezolanischen Obersten Gerichtshofs zu Protokoll. Edmundo González ist mittlerweile nach Spanien geflohen, nach dem die venezolanische Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte.
Laut den Wahlbeobachtern der UN und des auf Wahlmissionen spezialisierten Carter Center, die während der Wahlen anwesend waren, entsprachen die Wahlen nicht den Mindeststandards an Transparenz, um die korrekte Auszählung und die Richtigkeit der Ergebnisse bestätigen zu können. Bei früheren Wahlen war von beiden stets die Rechtmäßigkeit der venezolanischen Abstimmungen bescheinigt worden.
Die zu Recht angefochtene Wahl dürfte die multiple Krise – wirtschaftlich, sozial, politisch und geopolitisch –, die Venezuela seit zehn Jahren zu schaffen macht, auf eine neue Stufe heben. An der stetigen Verschlechterung der Lage tragen die USA nicht geringe Verantwortung. Immer wieder haben sie sich in die inneren Angelegenheiten des Landes eingemischt und alle Destabilisierungsversuche unterstützt, angefangen mit dem gescheiterten Putschversuch gegen Chávez im April 2002.
Die ersten Sanktionen wurden 2015 von US-Präsident Barack Obama gegen bestimmte Personen, meist Angehörige der Sicherheitskräfte, nach der Niederschlagung der Proteste von 2014 verhängt. 2017 folgten erste Wirtschaftssanktionen unter Donald Trump, der sie immer mehr ausweitete.2 2019 wurde der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA der Zugang zum US-Energiemarkt (von einigen Ausnahmen abgesehen) verwehrt, ebenso allen staatlichen Unternehmen der Zugang zum US-Finanz- und Bankensystem; zuvor waren die USA einer der größten Importeure von venezolanischem Öl gewesen.
Die Sanktionen ließen die Deviseneinnahmen versiegen und stellen für internationale Investoren ein untragbares Risiko dar. Nach gewissen Lockerungen unter Joe Biden im Zusammenhang mit der Energieknappheit durch den Ukrainekrieg 2022 zugunsten etwa des US-Konzerns Chevron3 wurde die Sanktionspolitik jedoch Anfang dieses Jahres wieder verschärft. Diese beschleunigt – im Widerspruch zu den US-Interessen – die Annäherung Venezuelas an Russland und China.
Sanktionen, Korruption innerhalb der PDVSA und fehlende Betriebsinvestitionen ließen die Ölproduktion von 2015 bis 2020 von rund 3 Millionen auf 340 000 Barrel pro Tag sinken.4 2024 erreichte die tägliche Fördermenge wieder 850 000 Barrel. Die Regierung schätzt die Verluste der Ölindustrie seit 2015 auf 232 Milliarden US-Dollar. Ein weiteres Beispiel ist die Blockierung von Finanzmitteln und die Beschlagnahmung venezolanischer Vermögenswerte im Ausland, wie Bankkonten, Goldreserven und die in den USA ansässige PDVSA-Tochter Citgo. Nach Regierungsangaben handelt es sich dabei um 24 bis 30 Milliarden US-Dollar.5
Freie und faire Wahlen kann es nicht geben in einem Land, das unter Sanktionen steht und dessen Institutionen seit zehn Jahren nicht mehr funktionieren. Ein Land, in dem sich politische Gegner als Feinde gegenüberstehen, die um die Macht und die Kontrolle über die Öleinnahmen kämpfen. Maduro weiß den Staatsapparat, die Armee, die Justiz und einen militanten Kern von Regierungstreuen hinter sich. Die Opposition, die aus sehr unterschiedlichen Gruppierungen besteht, setzt mal auf demokratische Veränderungen, mal nicht, je nach aktueller Lage.
Von 2002 bis 2013 hat sie keine Wahl gewonnen und die Ergebnisse angefochten, selbst wenn diese von Beobachtermissionen und der internationalen Gemeinschaft bestätigt wurden. Eine Fraktion boykottierte die Parlamentswahlen 2005 und 2020 sowie die Präsidentschaftswahlen 2018 und ließ damit den Chavisten freie Hand, etwa im Obersten Gerichtshof, dessen Richter von der Nationalversammlung für jeweils zwölf Jahre ernannt werden. Bei der Wahl 2015 errang sie jedoch eine Mehrheit im Parlament. Eine Fraktion von Hardlinern mobilisierte politische und finanzielle Unterstützung aus den USA – und rief sogar nach einer Militärintervention, wie 2019 der selbsternannte Präsident Juan Guaidó.6
Vermittlungsangebot von Brasilien und Kolumbien
Im Laufe der Jahre entstand eine destruktive Abwärtsspirale, mit Destabilisierungsversuchen vonseiten der Opposition: der Putschversuch 2002, der Ölstreik 2003, das Drohnenattentat auf Maduro 2018, die Einmischungen Kolumbiens 2019 und der versuchte Staatsstreich 2020 („Operation Gideon“). Die US-Regierung setzte 2020 ein Kopfgeld von 15 Millionen US-Dollar auf Nicolás Maduro aus, dem sie Drogenhandel und Geldwäsche vorwirft.
Aufseiten des chavistischen Machtapparats sind Korruption und Klientelismus gewachsen – was durchaus typisch ist für Länder, in denen eine enge Verbindung zwischen politischer Macht und Kontrolle über Erdöleinnahmen besteht.7 Die Schwächung der chavistischen Vorherrschaft mit Chávez’ Tod im Jahr 2013 brachte Maduro zudem dazu, die militärische Komponente des Chavismus zu stärken. Dies erschien ihm nötig, weil er durch sein Missmanagement während der Wirtschaftskrise der 2010er Jahre mit dem Ölpreisverfall und dem Produktionsrückgang der PDVSA politisch angeschlagen war. Hinzu kam, dass 2015 die erstmals von der Opposition dominierte, rechtsgerichtete Nationalversammlung versprach, den Präsidenten „innerhalb von sechs Monaten“ aus dem Amt zu werfen, und ihm eine Neuverhandlung der Staatsschulden verweigerte.
Beides zusammengenommen führten zu Maduros unwiderruflicher Radikalisierung. Die brutalen Kürzungen der Staatsausgaben und die Reduzierung lebenswichtiger Importe, zu denen er gezwungen war, lösten einen wirtschaftlichen Schock und eine soziale Explosion aus.
Diese dysfunktionale Phase hielt bis zu den diesjährigen Wahlen an. Zwischen 2017 und 2022 existierte im Land sogar ein doppeltes Machtsystem. Auf der einen Seite stand die Regierung, die sich auf eine verfassunggebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente) stützte, die niemals einen Entwurf für eine neue Verfassung vorlegen sollte. Ihre Funktion bestand vielmehr darin, unter Umgehung der Nationalversammlung die von der Exekutive vorgeschlagenen Gesetze zu verabschieden. Maduro hatte die Regeln einfach geändert, um seine Gegner zu lahmzulegen.
Auf der anderen Seite stand die Nationalversammlung mit suspendierten Kompetenzen und einem selbsternannten Interimspräsidenten, Juan Guaidó, der von den USA und rund 60 weiteren Ländern anerkannt und unterstützt wurde. Dies geschah vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und der brutal unterdrückten Proteste 2017 (in Venezuela als guarimbas bezeichnet). In der Folge nahm der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) 2021 Ermittlungen gegen Maduro wegen des Vorwurfs von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf.
Konfrontation, Ressentiments und wiederholte Einflussnahme von außen kennzeichnen die Erosion der venezolanischen Demokratie. Maduro geriet in eine autoritäre Dynamik. Der staatliche Chavismus von heute stellt sich als eine zivil-militärische Macht dar, die um ihr Überleben kämpft. Die Aussicht auf Exil, Gefängnis, einen internationalen Prozess und Säuberungen für den Fall, dass die Opposition wieder an die Macht kommt, stellt für Maduro keinen Anreiz dar, den Druck zu lockern. Durchhalten um jeden Preis ist zum Selbstzweck geworden.
Auf dem „Treffen der fünf Generationen“ verteidigte der Präsident seine Position vehement. Ziel war, die unverbrüchliche „zivil-militärisch-polizeiliche“ Einigkeit des offiziellen Chavismus angesichts der „terroristischen“ Gewalt zu demonstrieren, die von der „faschistischen“ Opposition im Rahmen eines von Washington unterstützten „Putschversuchs“ ausgehe. Mit keinem Wort ging Maduro auf die von Brasilien und Kolumbien vorgeschlagenen regionalen Vermittlungsangebote ein.
Das Treffen sollte ein Zeichen setzen und warnen, dass keine Destabilisierungsversuche geduldet werden. Maduro schickte zugleich eine klare Botschaft an seine Kritiker und Regierungen in aller Welt: „Wenn es an der Zeit ist, mein Amt abzugeben, werde ich es einem chavistischen, bolivarischen und revolutionären Präsidenten oder einer Präsidentin anvertrauen“, der oder die die Revolution auch in den „nächsten 30 Jahren“ fortsetze.
Die Opposition wiederum spricht von einem „historischen Betrug“ und bezeichnet die chavistische Herrschaft als „Staatsterrorismus“. Das Land steckt somit in einer Sackgasse. Es geht nicht länger nur um Kritik am sozialistischen Charakter eines politischen Prozesses, der seit Jahren seine Antriebskraft verloren hat, oder an einer Führungsriege, die auf eine orthodoxe Wirtschaftspolitik setzt und auf Repressionen zurückgreift, um sich an der Macht zu halten. Doch je länger westliche Staaten ihre Politik des „maximalen Drucks“ und der Sanktionen fortsetzen, desto mehr wird Venezuela mit Unterstützung Chinas, Russlands und Irans einen Kurs nach dem Vorbild Nicaraguas einschlagen: politische Abschottung und eine militarisierte Staatsmacht und Gesellschaft.
Könnte eine solche Aussicht in einem Land, in dem Millionen von Waffen im Umlauf sind, zum Bürgerkrieg führen? Die Folgen – Massenflucht, Instabilität an den Grenzen und militärisches Chaos – wären insbesondere für die Nachbarländer Brasilien und Kolumbien sowie für die USA verheerend.
Dieses Szenario erklärt die Zurückhaltung mehrerer Regierungen und der EU, die nach dem Scheitern des Versuchs mit Guaidó dieses Mal keinen Wahlsieger anerkennen und stattdessen zu einer Verhandlungslösung aufrufen. Ähnliches gilt auch für die US-Regierung, die zwar den Sieg der Opposition anerkannt hat, aber den von Brasilien und Kolumbien vorgelegten Vorschlag für eine Neuwahl unterstützt, obwohl dieser von allen Protagonisten in Caracas abgelehnt wird. Wobei an die 60 Staaten wiederum Maduro als Sieger anerkennen.
Um das schlimmstmögliche Szenario zu vermeiden, müssen unbedingt – ohne Druck durch Sanktionen – Verhandlungen in Gang gebracht werden.
2 Vgl. Florantonia Singer, „How US sanctions have affected Venezuela“, El País, 19. April 2024.
3 Davon profitieren auch der spanische Multi Repsol oder das französische Unternehmen Maurel & Prom.
5 „The numbers of the blockade 2015–2023“, Venezuelan Anti-Blockade Observatory, 9. Juni 2023.
6 Siehe Julia Buxton, „Was will die Opposition in Venezuela?“, LMd, März 2019.
7 Siehe Gregory Wilpert, „Venezuelas Öl und der Klassenkampf“, LMd, Dezember 2013.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert