10.10.2024

Jubeln und rätseln

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Jubeln und rätseln

Kamala Harris und die Kunst des Nichtssagens

von Thomas Frank

Desire Moheb-Zandi, Morning Sunrise, 2020, Baumwolle, Wolle, Seide, ­Akryl, Nylon, Polyfill, Seil, Holz, Farbe, 160 × 130 cm
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Auf dem Nominierungsparteitag der US-Demokraten, der vom 19. bis 22. August in Chicago stattfand, hielt auch Michelle Obama eine mitreißende Rede. Dabei sprach sie von ihrem „Hochgefühl“ angesichts einer „glänzenderen Zeit“, die nunmehr bevorstehe. Das Publikum war verzückt. Doch einige empfanden diesen Satz der ehemaligen First Lady als Fauxpas, hörten sogar einen Affront heraus. Der noch amtierende Präsident ist schließlich Joe Biden, und für loyale De­mo­kra­t:in­nen galt es bis dahin als Pflicht, die Biden-Jahre bereits als ziemlich „glänzend“ darzustellen.

Die Stimmung im Saal hatte Obama allerdings gut erspürt: Die Euphorie war wirklich ansteckend. Wenige Wochen zuvor hatten die Demokraten den bevorstehenden Nominierungsparteitag noch als sinnlose Zeitverschwendung empfunden. Doch als es dann so weit war, war das Auditorium bis zum letzten Platz besetzt. Und ich saß inmitten kreischenden Dems und dachte: Die Ablösung von Joe Biden durch seine Vizepräsidenten Kamala Harris ist der brillanteste politische Schachzug aller Zeiten.

Noch einen Monat zuvor hatten dieselben Demokraten frustriert mitansehen müssen, wie der unglückselige Biden immer weiter hinter Trump zurückfiel. Tatsächlich – hinter Trump! Dieser Albtraum von Republikaner, dieser Erzbösewicht, zugleich Clown, Verbrecher und Plutokrat, Hofnarr und Tyrann – ließ den armen Joe alt aussehen, im Fernsehduell wie in den Umfragen.

Doch plötzlich war alles anders. Auf einmal war Trump derjenige, der hilf- und ideenlos wirkte, während Harris die politische Mitte eroberte und in den Umfragen in Führung ging. Auf einmal war es die Demokratische Partei, die in Midwest die Massen mobilisierte, die Glanz, Energie, Leidenschaft, ja sogar einen Hauch von jugendlicher Frische ausstrahlte.

Lag es nur daran, dass die Dems endlich jemanden gefunden hatten, der Trump schlagen konnte? Angesicht der Begeisterung in Chicago fragte ich mich zum ersten Mal, ob es nicht tiefere Gründe geben könnte.

Während die Parteiveteranen reihenweise ihre üblichen Phrasen droschen, dachte ich bei mir: Endlich sind wir die laschen Langweiler los, die jahrzehntelang Mist gebaut haben, in der Partei und an der Regierung. Endlich nicht mehr diese duckmäuserische Angst der Alten vor den Reaktionen der Rechten, ihre Bewunderung für den Finanzsektor und dessen „Innovationen“, ihre Gefühllosigkeit gegenüber der arbeitenden Bevölkerung, ihre Weigerung, die Republikaner bei allen wichtigen Themen – von Krieg bis Sozialreform – direkt herauszufordern.

Sollte die Demokratische Partei tatsächlich einen neuen Lenz erleben, gibt es dafür drei Hoffnungszeichen. Da ist erstens Tim Walz, der Mann, den Kamala Harris zu ihrem Running ­Mate auserkoren hat: So einer wie der altmodische, bodenständige, arbeiterfreundliche Gouverneur von Minnesota hat der Demokratischen Partei viel zu lange gefehlt.

Da sind zweitens einige Gewerkschaftsführer: Viele von ihnen haben in Chicago das Wort ergriffen, allen voran der mitreißende Redner Shawn Fain, seit März 2023 Präsident der United Auto Workers (UAW).

Der dritte Faktor ist der Optimismus, den die Frohnatur Kamala Harris ausstrahlt. Anders als meine „seriösen“ Freunde finde ich ihre gute Laune gut – nach all den Pandemie- und Inflationsjahren und angesichts der verbissenen Schlammschlachten in den sozialen Medien.

Schaut man näher hin, ist das alles jedoch nichts von Substanz. Es geht vor allem um die Außenwirkung, um eine smartere Marketingstrategie. In Wahrheit ist so gut wie sicher, dass die Demokraten die alten Demokraten bleiben: Die an Konzerninteressen orientierte Politik wird wie immer die Oberhand behalten. Nicht zum ersten Mal präsentiert man den Bürgerinnen und Bürgern eine neue Generation von Demokraten, voll jugendlichem Idealismus und neuen Ideen, die sich dann als noch übler erweist als ihre Vorgängergeneration.

In derselben Halle in Chicago, in der sich die Salbung der Kamala Harris vollzog, wurde vor 28 Jahren Bill Clinton nominiert. Am 29. August 1996 saß auch ich im Publikum und hörte, wie der vor Idealismus strotzende Mann aus Hope, Arkansas, der US-Bevölkerung versprach, er werde eine „Brücke ins 21. Jahrhundert“ bauen. Es war ein elektrisierender Moment. Clinton war jung, intelligent, optimistisch. Und als er wiedergewählt wurde, baute er tatsächlich diese Brücke: Sie bestand aus Handelsabkommen, die zur Deindustrialisierung weiter Teile der USA führten, und einem Deregulierungsprogramm für die Wall Street, das die Weichen für die globale Finanzkrise von 2007 stellte.1 Dem Idealismus sei dank.

Vier Tage in einer Basketballarena hört sich nach nettem Zeitvertreib an, tatsächlich war es eher ein Härtetest, auf unbequemen Sitzen und bei mieser überteuerter Verpflegung. Zudem fühlte man sich als Beobachter wie in einem endlosen Werbespot. Tag um Tag verging und auf dem Podium passierte: nichts – weder Fragen aus dem Publikum noch Kontroversen noch spontane Momente; jeder Satz wie vorgefertigt. Das Publikum jubelte wie auf Knopfdruck und skandierte die ständig gleichen Parolen „We’re Not Going Back“ oder „When We Fight, We Win“.

Irgendwie war das Ganze eine bemerkenswerte Regieleistung. Schließlich hatten die Medien schon Monate vor dem Parteitag gemutmaßt, bei Themen wie dem Gazakrieg oder Klimaschutz könnte es zu hässlichen Szenen auf offener Bühne kommen. Doch da Kamala Harris erst knapp einen Monat vor Beginn des Parteitags nominiert worden war, mussten alle Reden die neue Kandidatin statt Joe Biden in den Mittelpunkt stellen. Die ganze Performance lief dann wie am Schnürchen ab, ohne eine einzige Stimme des Widerspruchs.

Wer einen Parteitag als Zuschauer erlebt, fühlt sich irgendwann zermürbt durch die nervtötenden Reden von Hinterbänklern, die nacheinander aufs Podium kommen, um ihre Statements vom Teleprompter abzulesen. Von dem wie geschmiert abgespulten Programm sind mir nur noch die gelegentlichen Pannen in Erinnerung, die allerdings von den politischen „Pannen“ der Partei selbst herrühren.

Einmal kam zum Beispiel Popstar Pink auf die Bühne und sang „What About Us?“ Der Song erzählt davon, wie es sich anfühlt, von den eigenen Anführern im Stich gelassen zu werden. „We are billions of beautiful hearts“, doch was soll aus uns werden, wenn wir alle verschaukelt werden? „What about us? / What about all the plans that ended in disaster?“

Ich lauschte Pinks todtraurigem Lied und dachte zum ersten Mal, dass es den Demokraten wirklich ernst war – dass es jetzt jemanden gab, der sich aus der Deckung wagt und zugibt, was die Partei im Laufe der Jahre alles vermurkst hat. Aber ich täuschte mich. Kaum war der Song zu Ende, ging das Programm mit einem Video weiter, in dem sich die Vizepräsidentin zu einer starken Armee und „globaler Stabilität“ bekennt, was immer das heißen mag.

Sekunden später kam Mark Kelly, der Senator aus Arizona, auf der Bühne, schwadronierte über seine vielen Kampfeinsätze und beschwor das verzückte Publikum, es müsse sich wieder zu militärischer Härte bekennen. Und kurz darauf zitierte Ex-Verteidigungsminister Leon Panetta den Ex-Präsidenten Ronald Reagan: Er vertraue darauf, dass die US-Armee die „stärkste auf der Welt“ bleibt. Kamala Harris sagte dann bei ihrem Auftritt am letzten Abend, sie bewundere die „most lethal fighting force of the world“, also „die schlagkräftigste Streitmacht der Welt“. Auf dass die endlosen Kriege endlos weitergehen.

Doch das herausragende Thema des Parteitags war die Demokratie als solche. Da hieß es, der „American Way of Life“ werde von dem Monster Trump, dem Tyrannen- und Rassistenfreund und Möchtegern-Diktator bedroht. Trump wolle seine Rivalen vor Gericht zerren, Wahlen aussetzen, Medien zensieren. Und falls die Dinge nicht so laufen, wie er sich das vorstellt, werde er gewaltbereite Mobs von der Kette lassen, wobei es für diese Anschuldigung tatsächlich eine Menge handfester Anhaltspunkte gibt.

Eine Rednerin brachte es auf den Punkt: „Ihr stimmt nicht für eine Demokratin, ihr stimmt für die Demokratie.“ Doch genau darum geht es: Parteitage sind nicht nur dazu da, um Reden über die Verteidigung der Demokratie zu lauschen, Parteitage sind gelebte Demokratie. Zu Parteitagen gehen die Leute, um über konkrete Probleme zu diskutieren, um zu entscheiden, wofür ihre Partei steht, und um ihre Parteiführer zu wählen. Parteitage sind Teil des demokratischen Prozesses. Demokratie, so könnte man sagen, fängt in der Partei selber an. Jedenfalls war das früher so.

Präsident Biden hatte trotz seiner Gebrechlichkeit bei den diesjährigen Vorwahlen der Demokraten keinen ernsthaften Herausforderer. Es gab keine Vorwahldebatten, und die wenigen Mitbewerber gaben ihre Kandidatur vorzeitig auf. Doch als dann Bidens gebrechlicher Zustand nicht mehr geleugnet werden konnte, zog er sich aus dem Rennen zurück und übergab an seine Vizepräsidentin Kamala Harris.

Die neue Kandidatin hatte bis dahin auf nationaler Ebene keine besonders große Publicity genossen. Bei den Vorwahlen von 2020 hatte sie zwar ihre Kandidatur angekündigt, aber schon vor den ersten Vorwahlen wegen niedriger Umfragewerte aufgegeben. Doch jetzt bekannten sich sämtliche Parteigrößen binnen weniger Tage zur Vizepräsidentin und kürten Harris drei Wochen vor dem Nominierungsparteitag zu ihrer Kandidatin. Damit war das Horrorszenario abgewendet, dass es in Chicago keine totale Einigkeit geben könnte.

Angesichts dieses minutiös inszenierten Schauspiels erinnerten einige Beobachter an den historischen Heldenmut der Schwarzen Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer (1917–1977), die 1964 für einen Senatssitz von Mississippi kandidiert hatte, und zwar gegen den altgedienten Senator John C. Stennis.

Eine ähnlich kühne Rebellion gegen die Parteioberen war 60 Jahre später natürlich nicht zu erwarten. Was stattdessen geboten wurde, war ein kunstvoll choreografiertes Spektakel. Die eigentliche Funktion eines Parteitags – das Abstimmen – wie nebenbei abgewickelt, fast wie eine humoristische Einlage, „celebratory roll call vote“ genannt. Während die Delegierten den Nominierungsritus vollzogen, turnte auf der Bühne ein DJ – mit Sonnenbrille und Riesenhut – herum, der sie anfeuerte und beliebte Songs auflegte. Auf allen Sitzplätzen flammten die Smartphones auf wie Kerzen. Die Delegierten jubelten und klatschten. Von abweichenden Meinungen keine Spur. Das Ganze war eher eine Parodie auf die Demokratie.

Die Veranstaltung sollte vor allem der Führungsspitze der Demokratischen Partei die Chance geben, der Welt von sich zu erzählen. Konversation als Einbahnstraße, wobei „wir“ erfahren durften, was „sie“ wichtig finden.

Die beste Performance lieferte jedoch Oprah Winfrey ab. Der mittlerweile 70 Jahre alten ­Grande Dame der US-Talkshow wird nachgesagt, dass sie in ihren besten Jahren stets wusste, wie die Durch­schnitts­ame­ri­ka­ne­r:in­nen ticken. Winfrey erklärte diese Wahl zu einem Kampf, bei dem es darum gehe, nicht in alte Zeiten zurückzufallen (was sich auf das Thema Abtreibung bezog, implizit auch auf die Rassentrennung im Süden). Wer sich dagegen wehrt, sei ein „Freiheitskämpfer“.

Stark war auch, wie sich Winfrey auf „die amerikanischen Werte“ berief, die von den Republikanern seit Langem als ihr Eigentum reklamiert würden. Werte wie Charakterstärke, Optimismus, Anstand und Respekt. Die Verfassung selbst, und sogar wählen gehen, was Trump nach eigenem Bekunden nicht so mag. Ich wähle, erklärte sie, „weil ich Amerikanerin bin und weil Amerikanerinnen das so machen“.

Jahrzehntelang hatten sich die Demokraten patriotischer Bekundungen enthalten, die sie als borniert und bellizistisch ablehnten.2 Das hat sich geändert. Trumps mangelhafte Geschichtskenntnisse und seine Kritik am Militär haben eine Leerstelle hinterlassen, die jetzt die Demokraten besetzt haben. Und so boten sie in Chicago ein Bild, das ich bisher noch nie auf einem Parteitag der Demokraten erblickt habe: Die Delegierten stimmten – genau wie die Republikaner – immer wieder „U-S-A“-Sprechchöre an und wedelten mit Stars-and-Stripes-Papierfähnchen.

Als Kamala Harris in ihren Präsidentschaftswahlkampf startete, war sie die große Unbekannte. Wofür steht sie? Übernimmt sie Bidens Agenda? Oder hat sie eine eigene? Ein Großteil des Parteitags war dazu da, die Privatperson Kamala Harris erkennbar zu machen – vor allem mit rührseligen Anekdoten.

Man erfuhr, dass Kamala einmal für jemanden gebetet hat, der gerade sehr traurig war. Dass sie jemanden zum Geburtstag angerufen und ein Ständchen gesungen hat. Dass sie mal ein Kompliment gemacht hat und dabei genau die richtigen Worte fand. Dass sie, wenn sie dich anblickt, „dich wirklich sieht“. Dass sie „nicht anders kann, als sich für andere Menschen einzusetzen und für ihre Überzeugungen einzustehen“. Und natürlich, dass sie in einer sympathischen Mittelschichtsfamilie aufgewachsen ist.3

Harris selbst trat am letzten Abend des Parteitags auf. Sie sprach nicht mal halb so lang wie Trump einen Monat zuvor auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner.4 Sie wirkte ernst und konzentriert, ihr typisches Lachen ließ sie weg; ihre Stimme klang wie die einer Rettungshelferin, die in einer Notsituation beruhigend auf uns einredet.

Dennoch schaffte sie es bei ihrem kurzen Auftritt, ein unglaubliches Spektrum von Themen abzudecken. Sie beschuldigte Trump, demokratische Grundprinzipien zu verletzen und die Interessen der Nation zu schädigen. Sie überholte die Republikaner von rechts (stärkeres Militär, bessere Sicherung der Grenzen, härter gegen China). Letztlich versprach sie allen alles: Die Verbraucher kriegen niedrigere Preise, die Start-up-Unternehmen erleichterte Investitionen. Arbeit und Kapital sollen eine Einigung finden. Wohnraum soll bezahlbar werden. Außerdem werde sie hart gegen Schusswaffengewalt vorgehen, für saubere Luft sorgen, den Gazakrieg beenden, gegen Iran Härte zeigen und sich überall auf der Welt der „Tyrannei“ entgegenstellen.

Und die Schlusskadenz: Eine Stimme für Harris, sagte Kamala Harris, verschafft uns „das größte Privileg auf Erden: das Privileg und den Stolz, Amerikaner zu sein“.

Es ist natürlich einfach, sich über die Versprechen der Demokraten lustig zu machen. Aber vergessen wir nicht: Der blasse Joe Biden ist aus Sicht der Gewerkschaften tatsächlich der beste Präsident seit vielen Jahrzehnten. Er sorgte für gigantische Investitionen in die Infrastruktur und das verarbeitende Gewerbe.

Diese Errungenschaften kamen auf dem Parteitag auch häufig zur Sprache. Nicht aber Bidens ambitionierteste und visionärste Leistung: Er sorgte erstmals seit den frühen 1980er Jahren dafür, dass die US-Kartellgesetze angewandt werden. Und gar nicht erwähnt wurde, dass Bidens Justizministerium gerade gegen das arroganteste aller Monopole, also Google, ein Kartellverfahren gewonnen hat. Vermutlich ist ein Schlag gegen die Konzernmacht schwer zu erklären. Oder ein zu heikles Thema, weil es großzügige Spender der Demokraten verstören könnte.

Was indes erstaunlich ausführlich thematisiert wurde, war die überlegene moralische Qualität der Demokraten. Die Rednerinnen und Redner bescheinigten sich der Reihe nach, dass sie, wie Kamala Harris, vorbildlich gute Menschen seien. Bei allen hatten die Eltern hart gearbeitet und die richtigen Werte gepflegt. Sie selbst haben stets das Richtige getan und nie das Ziel aus den Augen verloren. Dafür hatten sie allerhand Auszeichnungen erhalten, die sie alle aufzählten. Man hörte gar nicht mehr richtig hin, wenn die Delegierten eine nach dem anderen ihre tollen Tugenden aufzählten.

Außerhalb der Arena fiel dieser moralische Narzissmus wie Zuckerwatte in sich zusammen. Am dritten Tag sah ich auf dem Bürgersteig gleich hinter der Polizeiabsperrung vor dem Convention Centre eine Frau mit Kufija, die durch ein riesiges Megafon die Namen von Kindern verlas, die bei israelischen Angriffen im Gazastreifen ums Leben gekommen waren, wie sie sagte. Nach etwa jedem zehnten Namen kamen wie mechanisch dieselben anklagende Sätze: Die USA seien für den Tod der Kinder verantwortlich; schuld sei vor allem die Demokratische Partei; die Delegierten hätten Blut an ihren Händen.

Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlt, wenn man stundenlang gebetsmühlenartig aufgefordert wurde, die eigene hohe Moral zu bestaunen, und sich dann vor der Tür das Gegenteil anhören muss: Man sei ein Teufel und keineswegs ein Engel. Würde er oder sie ins Nachdenken geraten? Würde das tugendhafte Selbstbild ins Wanken geraten?

Zweieinhalb Wochen später führte Harris im TV-Duell gegen Trump den unbeherrschten Tycoon mehrfach vor, indem sie ihn mit Beleidigungen provozierte und dazu brachte, seine Redezeit mit eitler Selbstdarstellung aufzubrauchen. Trump habe, ätzte Harris, viel mehr Vermögen von seinem Vater geerbt, als er behauptet; und seine Wahlkampfauftritte seien so öde, dass die eigenen Anhänger „vor Erschöpfung und Langweile“ vorzeitig nach Hause gingen.

Ein ums andere Mal tappte Trump in die Falle. Er musste, da es um sein Ego ging, unbedingt ausführlich antworten: Ja, er sei stolz auf seine Milliarden und auf seine Wahlkundgebungen. Während sich Trump in Rage redete, lachte Harris und signalisierte dem Publikum durch ihr Mienenspiel, was sie von den Schmähreden des republikanischen Schaumschlägers hält.

Für die Zunft der politischen Kommentatoren sind es diese bühnenreifen Momente, die das parteipolitische Geschehen im Kern ausmachen. Und einer nach dem anderen feierte Kamala Harris für ihr Geschick, mit dem sie Trump ausmanövriert hatte. Allerdings bekommt man die Tricks, die Harris bei dem Duell anwandte, schon im Debattierkurs an der Highschool beigebracht. Sie sind nützlich, wenn man den Gegner dazu bringen will, seine Zeit zu verplempern. Dabei sollte der eigentliche Zweck einer Debatte darin bestehen, die großen Fragen von öffentlichem Interesse umfassend und von allen Seiten zu beleuchten.

So gesehen stellt sich die Frage nach den Positionen, die Kamala Harris zu den wirklich wichtigen Themen vertritt. Seit sie von den Demokraten nominiert wurde, klagen meine linken Freunde, dass Harris zu den Sachfragen, die für sie wichtig sind, bislang nur wenig oder gar nichts gesagt habe. Die Republikaner wiederum werfen Harris vor, dass sie ihre Positionen nach Belieben auswechsle. So habe sie etwa 2019 einen linken Wahlkampf geführt, während sie sich 2024 auf einmal gemäßigt gebe.

Und tatsächlich blickt man bei Harris nicht durch. Neuerdings protzt sie damit, dass Ex-Vizepräsident Dick Cheney sie unterstützt, der bei den Demokraten einst als böses Genie verschrien war. Ihr wirtschaftspolitisches Konzept nennt sie „opportunity economy“ (Wirtschaft der ­Chancen) – was auffällig der „opportunity so­cie­ty“ (Chancengesellschaft) ähnelt, die einst die Republikaner Ronald Reagan und Newt Gingrich „erfunden“ haben. Harris’ Kampagne mutet an wie schludrig zusammengeschustert, gedankenarm und ohne Überzeugung.

Schwach bei Wirtschaftsthemen

In ihrem Rededuell mit Donald Trump gab es nur zwei Themen, bei denen Harris engagiert wirkte und überzeugend argumentierte: Erstens die politische Gefahr, die von Trump ausgeht und die seit neun Jahren nicht nur die juristischen Kreise beschäftigt; in diesem Punkt war Harris’ Anklage kurz, knapp und vernichtend. Das zweite Thema war das Abtreibungsrecht. Hier wirkte Harris leidenschaftlich und empathisch, stellenweise auch rhetorisch brillant.

Vor zwei Jahren hat der Supreme Court – zwei Rich­te­r und eine Richterin waren noch von Trump berufen worden – das liberale Abtreibungsrecht in den USA abgeschafft. Harris beschrieb, was in vielen Bundesstaaten heute Realität ist: „Frauen, die eine Gewalttat überlebt haben und verletzt wurden, haben nicht das Recht zu entscheiden, was als Nächstes mit ihrem Körper geschieht. Das ist unmoralisch. Und niemand muss seinen Glauben oder seine tiefsten Überzeugungen über Bord werfen, um der Meinung zu sein, dass keine Regierung – und schon gar nicht Donald Trump – einer Frau vorschreiben dürfe, was sie mit ihrem Körper tun soll.“

Dagegen scheint sich Harris bei allen Wirtschaftsthemen – wie etwa Vermögens- und Einkommensverteilung oder Handel oder Infla­tion – nicht sicher zu fühlen. Zum Beispiel wich sie bei der allerersten Frage zum Thema Inflation aus und erzählte stattdessen, dass sie seit ihrer Kindheit ein Herz für Kleinunternehmen habe, eine Freundin ihrer Mutter sei nämlich Kleinunternehmer gewesen.

Ich habe den Verdacht, dass sie solche Themen einfach nicht interessieren. Ihr wirtschaftspolitisches Konzept, das auf ihrer Webseite skiz­ziert wird5 , ist ein Mischmasch aus allen möglichen Versprechen und ein allgemeines Bekenntnis zu der Erfolgsbilanz von Joe Biden. Kurzum: Sie ist gegen das, was schlecht ist, und für das, was gut ist. Nichts ist schwer zu bewerkstelligen. Alles wird irgendwie hinhauen.

Wie wenig inspiriert und engagiert die Demokratische Partei in Wirtschaftsfragen auftritt, lässt sich an der Häufigkeit ermessen, mit der sie das Wort „Innovation“ benutzt. Es war eine Lieblingsvokabel von Barack Obama wie auch von Bill und von Hillary Clinton. Unter dem Begriff „Innovation“ kann man eine bankenfreundliche Wirtschaftspolitik durch ein progressives oder sogar radikal klingendes Etikett tarnen. Auch die Wirtschaftskommentatoren lieben die Zauberformel, auf die sich die Regierungen berufen können, wenn sie die Steuern immer weiter absenken, wenn sie die Aktienmärkte deregulieren, wenn sie das Silicon Valley massiv begünstigen und wenn sie Handelsabkommen abschließen, die große Pharmakonzerne schützen und weniger begünstigte Branchen ungeschützt einem ruinösen Wettbewerb aussetzen.

Bidens Vizepräsidentin hatte noch keine Zeit, in Sachen „Innovation“ ein eigenes Profil zu entwickeln, im Fernsehduell mit Trump erwähnte sie das Thema nur ein einziges Mal. Doch Handelsministerin Gina Raimondo versichert, Harris sei geradezu „besessen von noch mehr Innovation“: Sie wolle unbedingt Start-ups und kleine Unternehmen unterstützen, dagegen „Milliardäre und Großkonzerne mehr Steuern zahlen lassen“.6

Es wäre das erste Mal, dass die Notwendigkeit von Innovation angeführt wird, um Steuererhöhungen – statt Steuersenkungen – zu begründen. Doch die Zaubermacht dieses Worts ist offenbar so unbegrenzt, dass es jedem Zweck dienen kann.

Näheres über die möglichen Folgen dieser Fixierung auf das Thema Innovation war im August in einem Gastbeitrag von Reid Hoffman für die New York Times zu erfahren: Darin versichert uns der Risikokapitalinvestor, Kamala Harris sei dank ihrer Vertrautheit mit dem Silicon Valley aus Sicht „der Wirtschaft“ die beste Kandidatin. Dem „Populisten“ Donald Trump warf Hoffman dagegen vor, er habe in seiner Amtszeit dem Onlineversandhändler Amazon mit Kartellklagen gedroht, Kritik an „Unternehmensikonen“ geübt und Handelskriege begonnen, die schädlich für die Wirtschaft waren. Unter Präsident Biden dagegen habe die Wall Street einen Boom und das Risikokapital einen neuen Aufschwung erlebt. Zwar sei Bidens strikte Anwendung der Kartellgesetze für „Innovatoren“ weniger positiv, aber solche Einschränkungen, so ließ Hoffman anklingen, würde eine „innovationsfreundliche“ Harris-Regierung wohl abmildern.7

Darüber, was Kamala Harris als Präsidentin möglicherweise tun wird, kann man nur spekulieren. Meine Vermutung: Was an der Biden-Regierung visionär und erfrischend war, wird nach und nach in der Versenkung verschwinden. Sollte Trump dauerhaft besiegt werden (und er dürfte nach einer Niederlage nicht noch einmal antreten), entfällt für die Demokraten die Notwendigkeit, an das Erbe der linken Populist Party und deren Sozialpolitik anzuknüpfen.8

Bidens progressive Arbeitsmarktpolitik und seine kartellfeindlichen Initiativen, die von Roose­velt inspiriert sind, werden eine ferne Erinnerung sein – und das beherrschende Thema wieder die „Innovation“. Wir können uns auf hohe Verteidigungsausgaben, silicon-valley-freundliche Gesetze und eine Demokratische Partei einstellen, die immer stärker die Vorlieben und Meinungen der Menschen mit hohem Bildungsniveau bedienen wird – und deren moralischen Über­le­gen­heits­an­spruch.

Ich hoffe, dass ich mich täusche. Aber ich habe gelernt, nicht zu viel von den Demokraten zu erwarten. Immerhin würde ihr Sieg das Ende der Trump-Ära bedeuten. Mehr kann man fürs Erste wohl nicht erwarten.

1 Siehe Frédéric Lordon, „Die Mechanik der Finanzkrise“, LMd, September 2007.

2 Robert S. McElvaine, „ ‚Liberals go back to the flag‘ 40 years later“, Musings & Amusings of a B-List Writer, 29. August 2024.

3 Mit Mittelschicht ist hier die professionelle Mittelschicht gemeint. Harris’ Vater ist emeritierter Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Stanford University. Ihre Mutter war promovierte Biologin und arbeitete in einer berühmten Forschungseinrichtung. Kamala wuchs in verschiedenen Collegestädten in diversen Bundesstaaten auf, aber die meiste Zeit in Berkeley in Kalifornien – der für ihre exotische Spielart des Liberalismus weltberühmten Heimat der University of California.

4 Siehe Serge Halimi, „Warum sie Trump lieben“, LMd, September 2024.

5 Siehe A New Forward: kamalaharris.com/issues/.

6 „Harris campaign: 'I don’t think the American public are interested in the minutiae of the mechanism of how she’ll increase taxes on billionaires‘ “, RealClear Politics, 9. September 2024.

7 Siehe Reid Hoffman, „Why Silicon Valley should get behind Kamala Harris“, The New York Times, 3. August 2024.

8 Siehe „Populisten und Experten. Einst kämpfte die populistische Bewegung in den USA für sozialen Fortschritt – und ihre Eliten-Kritik war alles andere als wissenschaftsfeindlich“, LMd, September 2020.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Thomas Frank ist Journalist und Historiker sowie unter anderem Autor von „People, No: A Brief History of Anti-Populism“, New York (Metropolitan Books) 2020.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2024, von Thomas Frank