Wie die Agitation der AfD funktioniert
von Ulf Bohmann, Moritz Heinrich und Matthias Sommer
Heute ist in Deutschland vielerorts der Slogan „Nie wieder ist jetzt!“ zu vernehmen, als eindringliche Warnung vor einer sich wiederholenden Geschichte. Der jüngste Anlass waren die Wahlergebnisse im Osten der Republik. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg erzielte die rechtsextreme AfD Erfolge, die lange Zeit als unvorstellbar galten: Sie gewann jeweils rund ein Drittel der Stimmen, womit sie in Thüringen sogar zur stärksten Kraft wurde.
Wie konnte es zu derart verstörenden Wahlergebnissen kommen? Zeigt sich hier eine grundlegende Verschiebung politischer Werte? Wohl kaum: Undemokratische Einstellungen zu Themen wie Rassismus, Homophobie oder Antisemitismus werden seit Langem bei etwa einem Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung ermittelt, ohne dass sich dies in Wahlergebnissen niedergeschlagen hätte. Auch die These einer bloßen Protestwahl ist unplausibel. Dagegen spricht das kontinuierliche Wachstum der AfD.
Es muss sich also etwas anderes verändert haben. Das gilt etwa für die Art des politischen Sprechens, für die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren, für die Fähigkeit, eine vorhandene Desorientierung des Publikums zu nutzen. Solche Veränderungen beschrieb der Soziologe Leo Löwenthal in seinem 1949 erschienenen Buch „Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation“.1 Damals analysierte er die politische Sprache in den USA, wohin Löwenthal – wie andere Protagonisten der Kritischen Theorie – auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime emigriert war. Er gehörte zum inneren Kreis der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und war leitender Redakteur der Zeitschrift für Sozialforschung.
Laut Löwenthal soll die Agitation – anders als die klassische Propaganda – nicht so sehr bestimmte Inhalte durch beständige Wiederholung in die Köpfe eintrichtern. Agitation setzt vielmehr an bereits vorhandenen Gefühlen des Unbehagens an, die Löwenthal als typische Befindlichkeiten der moderne Gesellschaft beschreibt: „Mißtrauen, Abhängigkeit, Ausgeschlossensein und Enttäuschung vermischen sich zu einem Grundzustand des modernen Lebens: der Malaise, des Unbehagens.“
Woher diese Gefühle genau kommen, ist zweitrangig. Es genügt die Gewissheit, dass irgendetwas falsch läuft in der Welt. Der entscheidende Trick der Agitation besteht nun darin, dieses noch unartikulierte Unbehagen eben nicht in ein bearbeitbares Sachproblem zu überführen, das je nach politischer Position auf unterschiedliche Weise gelöst werden kann, sondern es mit vorhandenen Ressentiments zu verknüpfen.
„Der Agitator wird von dieser Malaise angezogen wie die Fliege vom Misthaufen. Im Unterschied zu vielen Liberalen vertuscht und verleugnet er sie nicht. […] Im Gegenteil, er watet in dieser Malaise, er genießt sie und trachtet danach, sie zu vertiefen bis zu einem Punkt, wo sie sich zu einer paranoiden Beziehung zur Außenwelt verdichtet. Und wenn sein Publikum diesen Punkt erreicht hat, ist es reif für seine Manipulation.“
Ziel der Agitation ist also mitnichten, das Unbehagen aufzulösen, sondern das diffuse Bedrohungsgefühl noch weiter zu steigern, um dann den Kampf gegen die vermeintliche Bedrohung als notwendig zu suggerieren. Diese Logik veranschaulicht Löwenthal mit dem Bild einer juckenden Hautkrankheit: Statt sie durch eine lindernde Salbe nachhaltig zu behandeln, fordert die Agitation zum Kratzen auf, also zu einer Spontanreaktion, die das Jucken nur weiter verschärft.
Zur Agitation gehören unterschiedliche Techniken des politischen Sprechens, die je nach Intensität die Stimmungslage der Angesprochenen beeinflussen, was wiederum bestimmte Wahlentscheidungen wahrscheinlicher macht. Sehr viele rhetorische Versatzstücke, die in ihrer Kombination die Agitation ausmachen, kommen auch bei Debatten im Parlament zum Einsatz. Das ist insofern bemerkenswert, als diese Institution – die für die moderne Demokratie steht – zu rhetorischer Mäßigung anhält und diese zum Teil auch durchsetzt, etwa mittels Ordnungsrufen.
Das schließt nicht aus, dass parlamentarische Prozeduren, wie unlängst in der konstituierenden Landtagssitzung in Thüringen, gezielt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Löwenthal hatte jedoch Situationen auf einer anderen politischen Ebene im Auge, etwa lokale Veranstaltungen in den USA, bei denen vor einem kleines Publikum eine Figur „zwischen ehrgeizigem Politiker und kleinkariertem Stammtischbruder“ so etwas wie ein Schauspiel aufführte: eher „eine Art Zwischending von tragischem Monolog und Clownspantomime als eine politische Rede“. Im heutigen Deutschland dagegen liefert die AfD das reichhaltige Anschauungsmaterial für ihre agitatorische Techniken nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch bei den Auftritten ihrer Repräsentanten in den Parlamenten.
Eine ihrer einfachsten, aber wichtigsten Tricks ist es, Bedrohungsszenarien zu konstruieren. Ein Thema wird mithilfe von Ressentiments, Verzerrungen und Übertreibungen so dargestellt, als wäre es eine Bedrohung für Leib und Leben, für die Demokratie und die gesamte Lebensweise der Deutschen. Schuld sind immer die politischen Feinde, die den Untergang willentlich herbeiführen wollen.
Besonders gut funktioniert diese Technik bei den Themen Migration, Gender und Klimaschutz: Migranten sind angeblich gewalttätig und überlasten das Sozialsystem; Klimaschutz ist unnötig und führt in den „Ökokommunismus“; geschlechtergerechte Sprache zersetzt die „normalen Verhältnisse“.
Die instrumentalisierten Vorurteile sind oft plump, die beschworenen Bedrohungen offensichtlich übertrieben, die Behauptungen über den politischen Feind meist absurd und vage.
Die Wirkung dieser Erzählungen hängt nicht davon ab, ob sie plausibel sind oder nicht. Wichtig ist, dass sie Emotionen erzeugen, vor allem Angst und Wut. So behauptete ein AfD-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, die Bundesregierung ziele mit ihrer Migrationspolitik darauf, den Deutschen zu schaden. „No-go-Areas sollen bis in den letzten Winkel des Landes installiert werden.“ Das sei typisch für „die Ampel, die unser Land nicht schnell genug zerstören kann“.
Die Bedrohungsszenarien werden immer wieder auch mit Themen assoziiert, bei denen ein Zusammenhang nur mühsam oder gar nicht zu konstruieren ist. Zum Beispiel geht es bei einer Debatte um steigende Mieten auf einmal um die „Zuwanderung in unseren Wohnungsmarkt“; oder bei den Problemen des sächsischen Kleingartenwesens um den schädlichen Einfluss „unseriöser Klimastaatsbürgerkundler“. Damit wird zum einen suggeriert, die Bedrohungen seien die Hauptursache einer ganzen Reihe von konkreten Problemen. Zum anderen stilisiert sich die AfD mit dieser Technik zur einzigen Partei, die sich dieser wichtigen Themen tatsächlich annimmt.
Die Bedrohungsszenarien setzen gezielt auf Techniken der Feindbildkonstruktion, wobei die Grünen als Hauptfeind ins Visier genommen werden. Im Sächsischen Landtag etwa erklärte die AfD: „Es gibt eine Fraktion, von der, wenn sie hier vorn steht, erwartbar und verlässlich ist, dass Hass und Hetze im Parlament verbreitet werden. Das ist die grüne Fraktion.“ Die Grünen werden für die „Deindustrialisierung“ und die „Vernichtung zehntausender Industriearbeitsplätze“ verantwortlich gemacht. Ihr wird zudem unterstellt, sie verachte die Demokratie und träume von einem „Systemwechsel“.
Mit der Technik des „Alles-in-einen-Topf-Werfens“ wird die politische Landschaft auf einen stark vereinfachten Gegensatz reduziert. In den Landtagen von Sachsen, Thüringen und Brandenburg spricht die AfD von einem „Altparteienkartell“ oder den „selbsternannten demokratischen Kräften der Einheitsparteien“, die der AfD als geschlossener ideologischer Block gegenübertreten. Sie verurteilt die „grün-rot gefärbten Ideologien“ (Brandenburg), den „links-grün-ideologiedurchtränkten Ungeist“ (Sachsen) oder die „rotgrünen Ideologiemonster“ (Thüringen). Die Behauptung einer „Einheitsfront von Linken, Grünen, SPD bis hin zu den Christdemokraten“ wirft in einen Topf, was eigentlich nicht zusammenpasst. Die politischen Unterschiede werden übergangen, um ein homogenes Feindkollektiv zu konstruieren.
In diesem Narrativ spielen die Grünen eine paradoxe Rolle: Sie erscheinen als übermächtig und gleichzeitig als schwach. Einerseits wird der „grüne Zeitgeist“ als allgegenwärtig und dominant dargestellt; andererseits werden die Grünen als realitätsfremd, unfähig und feige charakterisiert. Die Haltung der AfD zur CDU ist auf andere Weise ambivalent: Einerseits wirft man der CDU den Verrat an traditionellen Werten vor, andererseits sieht man in der CDU einen potenziellen Verbündeten einer imaginären bürgerlichen Mehrheit, die als Vehikel dienen könnte, um die rechtsextremen Forderungen der AfD umzusetzen. Daher der Vorwurf an die CDU, die „Brandmauer“ gegen die AfD sei ihr wichtiger als eine „konstruktive Zusammenarbeit“ zum Wohle der Menschen.
Die AfD stilisiert sich mithin als kooperative Kraft: „Wir blockieren ja nicht aus Prinzip alles. Wir sind die Demokraten. Sie blockieren!“ Im Gegensatz dazu inszeniert sich die Partei als politische Fürsprecherin des „Normalbürgers“: „Die AfD versteht sich als Partei des Respekts vor den Bürgern und ihren Interessen – vor allem jener Bürger, die sonst von den politischen Eliten unbeachtet und ohne uns unsichtbar blieben.“
Der Konstruktion solcher Feindbilder dient die Technik des Ständigen-in-Zweifel-Ziehens. Dazu gehört etwa die Unterstellung, überall herrsche Korruption und Verschwendung, Vetternwirtschaft und Selbstbereicherung, Manipulation und Bevormundung. Dazu gehört auch das spezielle Feindbild der Medien, das die Presse und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als parteiisch und politisch gesteuert zeichnet.
Diese Strategie hat drei Funktionen. Erstens baut die AfD eine emotionale Gegnerschaft auf, indem sie den politischen Kontrahenten eine bewusste Täuschungsabsicht unterstellt. Zweitens stilisiert sie sich zu der Kraft, die eine verborgene, demokratiefeindlichen Strategie ihrer Gegner aufdeckt und entlarvt. Und drittens fördert sie den allgemeinen Verlust des Vertrauens gegenüber anderen politischen Akteuren und demokratischen Institutionen (wie Rechtsstaat oder Medienfreiheit).
Was bringt die Analyse der agitatorischen Techniken für die Beurteilung der politischen Lage nach den drei genannten Landtagswahlen? Ein tieferes Verständnis der agitatorischen Logik macht klar, dass zwei politisch wie medial gängige Reaktionen auf den Wahlerfolg der AfD in der Sache verfehlt und in der Praxis unbrauchbar sind.
Das ist zum einen die Unterschätzung der Gefahr, indem man sich einredet, es hätte ja noch schlimmer kommen können (vor allem mit Blick auf die SPD in Brandenburg oder die CDU in Sachsen). Eine AfD, die in drei Landtagen größte oder knapp zweitgrößte Fraktion ist, kann sich als starke Kraft inszenieren und zugleich als Opfer, indem sie durch die anderen Parteien auf undemokratische Weise von der Macht ferngehalten wird.
In allen drei Parlamenten sind die komplizierte Regierungsbildung, der Anspruch auf mehr Posten und längere Redezeiten sowie die Rolle als parlamentarische Sperrminorität (in Thüringen und Brandenburg) ideale Voraussetzungen für die Politik der AfD. Sie ermöglichen es, demokratische Lösungsprozesse zu verlangsamen oder sogar zu verhindern. Und zugleich wird damit der Spielraum für genau die Agitation erweitert, mit der die Partei die allgemeine Unzufriedenheit anheizt. Deshalb ist die beschwichtigende Formel „Es ist noch einmal gutgegangen“ schlicht unverantwortlich.
Die zweite verfehlte Reaktion ist die Hoffnung, dass sich die Agitation der AfD von selbst entzaubern werde, etwa wenn man sie in die Regierungsverantwortung einbindet. Die Erwartung, dann werde die AfD ihre Anziehungskraft verlieren, weil sie ihre Inkompetenz bloßlegen, ihre Wahlversprechen brechen oder ihre widersprüchliche Anti-Establishment-Haltung aufgeben müsste, wird sich nicht erfüllen. Im Gegenteil.
Die Agitation der AfD ist kein Übergangsphänomen, das sich mit der Erfüllung eines bestimmten politischen Ziels auflöst. Warum sollte die Partei ihre destruktive Eigenlogik aufgeben, auf der ja ihr Erfolgsrezept beruht? Zudem wird sich das politische Klima umso mehr verschärfen, je stärker andere Parteien auf rechtsradikale politische Diskurse einsteigen – wie es sich in den letzten Wahlkampagnen schon ansatzweise gezeigt hat.
Ein besseres Verständnis agitatorischer Themen und Techniken löst zwar keine sozialen Probleme und kann die Agitation nicht einfach unwirksam machen. Es ist aber eine notwendige Bedingung, um unter den herrschenden politischen Verhältnissen über Möglichkeiten der Selbstverteidigung demokratischer Gesellschaften nachzudenken und einer extremen Rechten entschlossen entgegenzutreten. Das ist die Lehre, die wir von Löwenthal heute mitnehmen können. Und sie gilt keineswegs exklusiv für den Osten.
1 Leo Löwenthal, „Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation“, Berlin (Suhrkamp) 2021.
Ulf Bohmann, Moritz Heinrich und Matthias Sommer forschen am Lehrstuhl für Soziologische Theorien an der TU Chemnitz.
© LMd, Berlin