Der Fall Nord Stream
Wer hat die Pipelines in der Ostsee gesprengt?
von Fabian Scheidler
Am 26. September 2022 erschütterten vier Explosionen den Boden der Ostsee in der Nähe der dänischen Insel Bornholm. Sie zerstörten drei Stränge der Nord Stream Pipelines 1 und 2, die – obwohl nicht in Betrieb – mit Gas gefüllt waren, sodass gewaltige Mengen Methan ausströmten. Das Attentat war zugleich ein massives Umweltverbrechen und einer der größten Sabotageakte der jüngeren Geschichte. Die Energiepreise in Deutschland und anderen europäischen Ländern stiegen infolge des Anschlags vorübergehend steil an.
Man sollte meinen, dass ein solches Ereignis mit erheblichen geopolitischen Konsequenzen den Aufklärungseifer der europäischen Behörden entfesselt hätte. Doch zwei Jahre nach der Tat ist die Bilanz bescheiden. Bislang gab es weder Festnahmen noch Verhöre noch Anklagen gegen mutmaßliche Täter. Anfang Juni wurde zwar vom deutschen Generalbundesanwalt ein europäischer Haftbefehl gegen einen ukrainischen Staatsbürger namens Wolodymyr Schurawlew erlassen, aber die polnischen Behörden, die zur Amtshilfe verpflichtet sind, ignorierten den Haftbefehl, der Verdächtige konnte unbehelligt entkommen. Statt dafür Erklärungen zu liefern, tadelte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am 17. August auf X die deutschen Behörden bemerkenswert unverfroren: „An alle Initiatoren und Förderer von Nord Stream 1 und 2. Das Einzige, was Sie heute tun sollten, ist, sich zu entschuldigen und den Mund zu halten.“
Die schwedischen und dänischen Ermittlungsbehörden hatten ihre Untersuchungen bereits im Februar überraschend eingestellt, ohne Ergebnisse zu veröffentlichen. Zuvor hatten sie lediglich erklärt, dass nur ein staatlicher Akteur für die Tat verantwortlich sein könne.1
Die USA haben, obwohl sie Untersuchungen angekündigt hatten und die gesamte Ostseeregion überwachen, nichts bekannt gegeben. Bitten von russischer Seite, an den Untersuchungen beteiligt zu werden, wurden stets abgelehnt. Deutsche Behörden ermitteln noch, doch die zuständige Bundesanwaltschaft und die Bundesregierung geben kaum Informationen heraus. Bei parlamentarischen Anfragen wird stets darauf verwiesen, dass Auskünfte das „Staatswohl“ gefährden – eine Formel dafür, dass befreundete Staaten oder Geheimdienste kompromittiert werden könnten.
Investigative Journalisten sprechen ebenso wie Bundestagsabgeordnete von einer Mauer des Schweigens. Holger Stark, Leiter des Investigativressorts der Zeit, etwa sprach von einem „brutalen Druck auf alle Behörden, mit keinem Journalisten zu sprechen“.2 Im Gespräch mit dem Verfasser bezeichnet es der Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner (SPD) als „sehr verwunderlich“, dass bei einem so großen Verbrechen in einem der bestüberwachten Meere der Welt zwei Jahre nach der Tat so wenig herausgekommen ist. Stegners Kollege Andrej Hunko vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) spricht sogar von „provokativem Desinteresse an einer Aufklärung“.
Über die politische Verantwortung für den Sabotageakt gibt es bis heute im Prinzip drei verschiedene Theorien. In den Monaten nach den Anschlägen wurde von einigen westlichen Regierungsvertretern und führenden westlichen Medien die These favorisiert, Russland sei für die Anschläge verantwortlich. Dabei haben die deutschen und schwedischen Ermittlungsbehörden wiederholt klargemacht, dass es keinerlei Hinweise auf eine russische Täterschaft gibt.
Auch CIA-Direktor William Burns – der sicherlich kein Motiv hat, Russland reinzuwaschen – hat dies bekräftigt.3 Ein ausführlicher Artikel der Washington Post auf Grundlage von Gesprächen mit 23 Diplomaten und Geheimdienstmitarbeitern aus neun Ländern kam zu dem gleichen Schluss.4
Die Theorie vom russischen Komplott bietet auch keine Antwort auf die Frage, warum Russland Infrastrukturen im Wert von fast 20 Milliarden Euro, die zu 51 Prozent russischen Staatskonzernen gehören, hätte zerstören sollen – die zugleich ein Druckmittel gegenüber dem energiehungrigen Westeuropa darstellten. Das Argument, Russland habe damit Strafzahlungen bei einem Lieferstopp vorbeugen wollen, kann kaum überzeugen: Wahrscheinlich hätte Russland angesichts von Sanktionen und beschlagnahmtem russischen Vermögen eine Zahlung ohnehin verweigert.
Die zweite Theorie wurde erstmals am 8. Februar 2023 formuliert, als der investigative Journalist Seymour Hersh einen detaillierten Artikel veröffentlichte, der sich auf eine anonyme Quelle berief und behauptete, die USA hätten den Anschlag mit norwegischer Hilfe verübt..5
Der Pulitzer-Preisträger Hersh war in den 1970er Jahren durch seine Enthüllungen über US-Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg – Stichwort My Lai – berühmt geworden. Seit 1973 hatte er an der Aufklärung des Watergate-Skandals und der illegalen CIA-Programme zur Ausspionierung von US-Bürgern gearbeitet. Im Gefolge des Irakkriegs von 2003 enthüllte er die Geschichte des US-Foltergefängnisses in Abu Ghraib.
Am 7. März 2023, einen Monat nach dem Nord-Stream-Text von Hersh, brachte die New York Times, deren Starreporter Hersh früher gewesen war, eine eigene Geschichte. Demnach soll nicht die US-Regierung, sondern eine „proukrainische Gruppe“ die Anschläge durchgeführt haben.6 Die Quellen der Times, auch diese anonym, waren „US-Beamte, die Geheimdienstinformationen ausgewertet haben“.
Parallel zur NYT veröffentlichte die Zeit in einem Rechercheverbund mit anderen deutschen Medien eine detailreichere Version, die sich teilweise auf Angaben des deutschen Generalbundesanwalts bezieht und auf ein verdächtiges Segelboot fokussiert. Seitdem stützen sich die Veröffentlichungen in den großen westlichen Medien fast ausschließlich auf diese Geschichte, die mit vielen neuen Details angereichert wurde.
Im Zentrum der Geschichte steht die 15 Meter lange Segeljacht „Andromeda“, auf der im September 2022 eine Gruppe von fünf Männern und einer Frau vom deutschen Hafen Rostock auslief, um nach verschiedenen Stationen in der Region um die Insel Bornholm zu segeln. Dort sollen die Taucher in 80 Metern Tiefe die Bomben platziert haben. Die deutschen Ermittler geben an, an Bord des Schiffs, das von der Besatzung nicht gereinigt worden war, im Januar 2023 – also vier Monate nach den Anschlägen – auf dem Kajütentisch Spuren des Sprengstoffs HMX gefunden zu haben. HMX-Spuren sollen auch an den Tatorten sichergestellt worden sein.
Nach den ersten Veröffentlichungen zu dieser Geschichte wurden rasch Zweifel laut: Konnte ein so kleines Schiff eine so große quasimilitärische Operation durchführen? Konnten mit einer Hobbyjacht mehrere Tonnen Sprengstoff transportiert werden, die nach ersten Schätzungen benötigt wurden? Braucht man bei so tiefen Tauchgängen für den Druckausgleich keine Dekompressionskammer – die auf dem Boot keinen Platz gehabt hätte?
Inzwischen sind einige dieser Fragen beantwortet, und zwar auch dank einer privaten Expedition, die der schwedische Ingenieur Erik Andersson zusammen mit dem Journalisten Jeffrey Brodsky zu den Anschlagsorten unternommen hat.7
Das Rätsel „Andromeda“
Die Auswertung der detaillierten Unterwasseraufnahmen durch Experten ergab, dass zur Sprengung der Pipelines wesentlich geringere Mengen Sprengstoff ausreichten – schätzungsweise 50 Kilogramm oder sogar weniger pro Pipeline. Auch tiefe Tauchgänge sind von sehr gut ausgebildeten Profis ohne Dekompressionskammer möglich, wenn auch mit Risiken verbunden. Allerdings dauert eine solche Operation wesentlich länger – was die Gefahr, entdeckt zu werden, erheblich vergrößert.
Jeffrey Brodsky wirft eine weitere Frage auf: Warum sollte eine ohne Dekompressionskammer operierende Tätergruppe ausgerechnet eine 80 Meter tiefe Stelle auswählen, während andere Positionen in unmittelbarer Nähe nur 30 Meter tief sind? Und warum wurde einer der Sprengsätze 75 Kilometer von den drei anderen entfernt angebracht?8
Trotz offener Fragen: Die „Andromeda“ hätte die Operation theoretisch ausführen können. Allerdings verlieren sich die Spuren der mutmaßlichen Täter bisher im Nebel. Gefälschte Pässe, die zur Anmietung des Boots genutzt wurden, führten zu einem ukrainischen Soldaten und einer polnischen Briefkastenfirma, die von einem ukrainischen Unternehmer namens Rustem A. finanziert wird; andere zu dem ukrainischen Tauchlehrer Wolodymyr Schurawlew und weiteren Verdächtigen. In einem Beitrag vom 25. September 2024 gibt Der Spiegel an, die Identitäten der übrigen Besatzungsmitglieder festgestellt zu haben, ohne sie jedoch zu nennen.
Bis zum heutigen Tag ist keiner der Verdachtspersonen von den Untersuchungsbehörden vernommen worden, Rechtshilfeersuchen der deutschen Ermittler an die Ukraine sind nach heutigem Kenntnisstand nicht ergangen. Die deutschen Behörden haben Schurawlew sogar indirekt bei seiner Flucht geholfen, indem sie ihn nicht, wie in anderen Fällen üblich, in das Schengen-Register eintrugen. Eine solche Registrierung hätte es ermöglicht, den Verdächtigen an der Grenze festzunehmen. „Der polnische Grenzschutz hatte weder die Informationen noch die Grundlage, um ihn festzunehmen, da er nicht als Gesuchter aufgelistet war“, erklärte eine Sprecherin der polnischen Generalstaatsanwaltschaft.9
Nach einem CIA-Bericht, den die Washington Post vom 11. November 2023 zitierte, sollen die Drahtzieher des Anschlags der ukrainische Agent Roman Tscherwynsky und der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj sein, der heute Botschafter in London ist. Vernommen wurden aber auch sie nicht.
Während der CIA-Bericht betont hatte, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei nicht involviert gewesen, behauptete ein späterer Artikel des Wall Street Journal unter Berufung auf anonyme ukrainische Quellen, Selenskyj habe zunächst seine Zustimmung gegeben, nach Intervention der USA aber versucht, den Anschlag zu stoppen – ohne Erfolg.10
Der mangelnde Eifer westlicher Behörden und Regierungen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wirft eine wichtige Frage auf: Wird eine umfassende Aufklärung politisch behindert, weil man Angst hat, die Unterstützung für die Ukraine könnte ins Wanken geraten, sollte tatsächlich belegt werden, dass die Regierung in Kyjiw für die Zerstörung einer der wichtigsten Energie-Infrastrukturen ihrer Verbündeten in Westeuropa verantwortlich ist? Zumal dann auch ein Motiv zur Sprache kommen würde, das in allen Debatten unterschlagen wird: Die Ostsee-Pipeline war aus Sicht Kyjiws eine Konkurrenz zur Sojus-Pipeline, durch die russisches Gas (noch bis Ende 2024) über ukrainisches Territorium nach Mitteleuropa (Österreich, Ungarn, Slowakei) gelangt.
Der renommierte investigative US-Journalist und Geheimdienstspezialist James Bamford geht noch einen Schritt weiter. Er hält es für praktisch unmöglich, dass eine so komplexe Operation ohne Wissen der US-Geheimdienste möglich gewesen wäre.11 Zum einen sind die US-Dienste mit den ukrainischen ebenso eng verwoben wie die Militärstrukturen. Zum anderen verfügen die USA mit ihrem geheimen Integrated Undersea Surveillance System (IUSS), das mit schwedischer Hilfe aufgebaut wurde, über eine extrem feinmaschige Überwachung der Ostsee. Und das Signals-Intelligence-System der NSA (Sigint) überwacht sehr effizient die Telekommunikation der Ukraine bis zur höchsten Ebene von Militär und Regierung. Doch bislang hat keine US-Regierungsstelle, trotz der Ankündigung einer eigenen Untersuchung, irgendwelche Überwachungsdaten preisgegeben.
Die Rolle der USA wurde auch in einem Beitrag der Zeitung Die Welt am 14. Dezember 2023 thematisiert: So sei die „Andromeda“ bei einem Zwischenstopp im polnischen Kołobrzeg (Kolberg) am 19. September 2022 vom dortigen Grenzschutz inspiziert worden. Es sollen auch US-Bürger – mutmaßliche Geheimdienstmitarbeiter – beteiligt gewesen sein.
Die polnischen Behörden verweigern nähere Auskünfte über die Inspektion des Schiffes. Sie behaupten außerdem, die Videoaufzeichnungen der Hafenkamera, auf denen die Männer identifiziert werden könnten, würden nicht mehr existieren. Weiß die polnische Regierung – seit Langem ein erbitterter Gegner der Pipelines – also mehr, als sie zugibt? Ist sie gar in das Attentat verwickelt?
Laut der Washington Post vom 6. Juni 2023 soll die CIA bereits im Juni 2022 aufgrund eines niederländischen Geheimdienstberichts Kenntnis von einem ukrainischen Plan zur Sprengung der Pipelines gehabt haben und europäische Verbündete, darunter Deutschland, darüber informiert haben. Westliche Regierungen hätten demnach von Anfang an gewusst, dass die Ukraine ein Hauptverdächtiger ist – ohne die Öffentlichkeit zu informieren.
Das Wall Street Journal zitierte wenige Tage später, am 14. Juni, anonym bleibende US-Beamte, die behaupten, die CIA hätte damals versucht, die Ukraine von diesen Plänen abzubringen. Allerdings gibt es für diese Aussage keine unabhängigen Quellen. Erik Andersson hält sie für eine Schutzbehauptung der US-Regierung, um eine eigene Beteiligung „glaubwürdig abstreiten“ zu können.
Andersson und Jeffrey Brodsky sind im Gegenteil davon überzeugt, dass – sollte die „Andromeda“ tatsächlich an der Tat beteiligt gewesen sein – die USA zumindest grünes Licht für die Operation gegeben haben müssen. Denn sonst wäre das Risiko der Ukraine, von der umfassenden Überwachung der USA entdeckt zu werden, zu hoch gewesen – mit potenziell fatalen Konsequenzen für Kyjiws Beziehungen zu den westlichen Unterstützern.
Selbst eine aktive Beteiligung der USA an der Planung halten Andersson und Brodsky für denkbar. In diese Richtung weisen auch Medienberichte über frühere Pläne zur Sprengung der Pipelines, an denen „westliche Experten“, so das Wall Street Journal vom 14. August 2024, beteiligt gewesen sein sollen.
Die Frage nach der Rolle der USA bringt uns zur dritten Theorie über die Anschläge: Nach Darstellung von Seymour Hersh erteilte US-Präsident Biden im Dezember 2021 der CIA den Auftrag, einen Plan zu erarbeiten, um im Fall eines russischen Einmarschs in die Ukraine die Pipelines zu sprengen. Im Juni 2022 platzierten dann, so Hersh, spezialisierte Taucher der U.S. Navy in 80 Metern Tiefe den Sprengstoff, der mit einem akustischen Signal jederzeit gezündet werden konnte. Als Tarnung für die Operation nutzten sie die jährlich stattfindenden Nato-Manöver in der Ostsee (Baltops). Im September habe Biden dann den Befehl zur Sprengung gegeben.
Hershs Bericht wurde im Februar 2023 von der westlichen Presse, die damals fast geschlossen auf Russland als vermeintlichem Täter setzte, entweder ignoriert oder als Verschwörungstheorie abgetan. Einige Zeitungen bemühten sich auch, Hershs Reputation infrage zu stellen, ohne sich mit seinen Thesen inhaltlich auseinanderzusetzen. Die Hauptkritik lautete, er berufe sich auf eine einzige anonyme Quelle, während solider Journalismus mindestens zwei Quellen erfordere.
Tatsächlich hat Hersh die meisten seiner Geschichten, die sich als wahr erwiesen, auf nur einer anonymen Quelle aufgebaut. Und im Fall von Nord Stream konnte er sogar eine Art Kronzeugen präsentieren: US-Präsident Biden selbst. Der hatte am 7. Februar 2022 in einer Pressekonferenz im Weißen Haus, in Gegenwart des deutschen Kanzlers Olaf Scholz, für den Fall eines russischen Einmarsches in der Ukraine verkündet: „Dann wird es keine Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende bereiten.“ Auf Nachfrage einer Reporterin, wie man das bewerkstelligen wolle, antwortete Biden lächelnd: „Ich verspreche Ihnen, wir sind in der Lage, es zu tun.“12
Tarnung und Täuschung
Nach den Anschlägen erklärte die US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland, die einst mit ihrem Ausspruch „Fuck the EU“ von sich reden gemacht hatte, in einer Anhörung im Senat: „Die US-Regierung ist sehr zufrieden, dass Nord Stream 2 jetzt ein Haufen Metall am Meeresboden ist“ – eine bemerkenswerte Reaktion auf einen schwerwiegenden Fall von internationalem Terrorismus.13
Dass die USA die Pipeline ablehnten, war nie ein Geheimnis. Geopolitisch fürchtete Washington schon lange ein Zusammenwachsen Eurasiens, insbesondere eine engere Bindung der Hi-Tech-Industrienation Deutschland an das rohstoffreiche Russland. Laut Hersh kam hinzu, dass die USA nach der russischen Invasion in die Ukraine die Sorge hatten, Russland könne das Erdgas als Druckmittel benutzen, um die deutsche Unterstützung für die Ukraine einzuschränken. Diese Option sollte durch die Sabotage vom Tisch genommen werden. Auf ökonomischer Ebene drängten die USA die Europäer schon lange, verflüssigtes US-Fracking-Gas anstelle von russischem Gas zu kaufen. Motive gab es also aufseiten der USA genug. Aber gibt es Belege für Hershs Version?
Erik Andersson unternahm seine Expedition zunächst, um Hershs Thesen zu belegen. Allerdings ergab seine Untersuchung der Tatorte, dass es pro Pipeline nur einen Sprengsatz gegeben hatte, und nicht zwei, wie Hersh ursprünglich behauptet hatte. Inzwischen hält Andersson die „Andromeda“-Theorie für durchaus plausibel, will aber zugleich nicht ausschließen, dass Hersh trotz Fehlern im Detail grundsätzlich recht behalten könnte.
Zum Beispiel konnte Andersson anhand einer ausführlichen Auswertung der „Open Source Intelligence“-Daten (Osint), die Schiffs- und Flugverkehrsbewegungen dokumentieren, den Beleg erbringen, dass die Positionen von US-Kriegsschiffen und Flugzeugen mit Hershs Darstellung vereinbar sind.14 Damit widerlegte er frühere Osint-Analysen, die zum gegenteiligen Schluss gekommen waren. Wobei sie ignoriert hatten, dass sich Osint-relevante Signale nicht nur beliebig an- und ausschalten, sondern auch vollständig fälschen lassen; und zwar nicht nur was die Identität von Schiffen und Flugzeugen betrifft, sondern auch deren Position.
Andersson hält auch den Vorwurf, Hersh habe sich bei der Sprengstoffart geirrt, nicht für stichhaltig. Der von Hersh genannte C-4-Sprengstoff kann tatsächlich neben dem Hauptbestandteil RDX auch das chemische Derivat HMX enthalten.
Auch wenn Hershs Thesen bisher nicht widerlegt werden konnten, glaubt Holger Stark von der Zeit, dass sein Kollege sich diesmal geirrt hat, denn seine Thesen seien bisher durch keinerlei Ermittlungsergebnisse erhärtet worden. Der renommierte Investigativjournalist Jeremy Scahill, Mitbegründer von The Intercept, hat dagegen zwei Möglichkeiten ins Spiel gebracht, die eine Verbindung zwischen der Hersh-Version und der Fahrt der „Andromeda“ herstellen könnten.
Die erste Möglichkeit besteht darin, dass Hershs Quelle Kenntnis von einem früheren Plan hatte, der aber später verworfen und durch eine andere Operation ersetzt wurde – was auch Andersson für möglich hält. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die „Andromeda“-Fahrt tatsächlich Teil eines komplexen Ablenkungsmanövers war.
Steven Aftergood, der von 1991 bis 2021 das Forschungsprogramm zu Geheimoperationen der US-Regierung bei der Federation of American Scientists leitete, weist darauf hin, dass die Verbreitung falscher Narrative mit dem Ziel, eine Operation zu verschleiern, „gängige Praxis bei militärischen Operationen und nachrichtendienstlichen Aktivitäten ist“. Sie werde oft als „Tarnung und Täuschung“ bezeichnet.15
Im Fall „Andromeda“ weist Scahill darauf hin, dass das Hinterlassen von Sprengstoffspuren auf der Jacht „entweder Beweis für totale Unprofessionalität ist oder eine vorsätzlich gelegte ‚Spur‘, die in der Absicht hinterlassen wurde, zu täuschen.“16 Dass die Täter „nicht ausreichend Zeit hatten, ihre Spuren zu verwischen“17 , wie Holger Stark vermutet, scheint angesichts der wochenlangen Reisen des Boots wenig plausibel. Während der viermonatigen Ruhephase der „Andromeda“ vor der Untersuchung durch die Ermittler wäre im Übrigen Zeit genug gewesen, Spuren nachträglich zu verwischen oder neue zu legen. Für die Ablenkungshypothese, die auch Seymour Hersh vertritt, gibt es allerdings bisher keine handfesten Belege.
Die Nord-Stream-Anschläge müssen nach wie vor als ungelöster Fall gelten. Die Gruppe (ehemals Fraktion) der Linken und andere Abgeordnete im Deutschen Bundestag haben deshalb seit langem eine unabhängige Untersuchungskommission gefordert, zum Beispiel unter der Schirmherrschaft des UN-Sicherheitsrats. Doch eine entsprechende von Russland eingebrachte und von China und Brasilien unterstützte Resolution fand keine Unterstützung bei den USA und ihren Partnern. Auch die deutschen und schwedischen Regierungen haben sich stets ausdrücklich gegen eine solche Untersuchungskommission ausgesprochen, mit der Begründung, dass die laufenden Ermittlungen nicht gestört werden sollen.
Der wahre Grund für die Widerstände gegen eine umfassende Aufklärung ist unschwer zu erraten: Sollten die Spuren tatsächlich zum ukrainischen Präsidenten oder gar nach Washington führen, wären die geopolitischen Folgen womöglich unabsehbar – auch für die Zukunft der Nato. Das Versteckspiel um den explosivsten Politkrimi unserer Epoche geht also weiter.
1 „Schweden sieht Schuld bei staatlichem Akteur“, ARD-„Tagesschau“, 6. April 2023.
5 Seymour Hersh, „How America Took out the Nord Stream Pipelines“, Substack, 8. Februar 2023.
7 Erik Andersson, „A Trip to the Nord Stream Blast Sites“, Substack, 28. Juni 2023.
9 „Erster Haftbefehl wegen Nord-Stream-Anschlägen“, ARD-„Tagesschau“, 14. August 2024.
12 „President Biden on Nord Stream 2 Pipeline...“, youtube.com, ab Min. 1:25.
13 „Ted Cruz Confronts Top Biden Official Over Nord Stream 2 Decision“, youtube.com, ab Min. 0:58.
16 Scahill (siehe Anmerkung 15).
17 Holger Stark, „Nord-Stream-Ermittlungen; Spuren führen in die Ukraine“, Die Zeit, 7. März 2023.
Fabian Scheidler ist Journalist und Autor unter anderem von: „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, Wien (Promedia) 2015.