Russische Perspektiven
Wie der Kreml, die Eliten und die Bevölkerung auf den Krieg blicken
von Arnaud Dubien
Anfang August 2024 marschierten mehrere tausend ukrainische Soldaten in die russische Region Kursk ein. Zweifellos ein wichtiges Ereignis. Zum ersten Mal seit dem deutschen Überfall 1941 wurde russisches Territorium von ausländischen Truppen angegriffen und besetzt. Diese symbolische Dimension war ein zentrales Kalkül der ukrainischen Regierung, was auch die westlichen Medien hervorhoben.
Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die Operation ein großer Affront, zumal sie durch US-Kurzstreckenraketen unterstützt wurde, deren Einsatz auf russischem Territorium das Pentagon genehmigt hatte. Doch kann man deshalb von einer Wende im Ukrainekrieg sprechen?
Die neueste militärische Entwicklung spricht dagegen. Die russische Armee startete Mitte September in Kursk eine Gegenoffensive, zugleich setzt sie ihren Vormarsch im Donbass fort. Dagegen hatte der ukrainische Generalstab gehofft, Russland werde Truppen vom Donbass nach Kursk verlegen.
Der Vorstoß Kyjiws hat an Putins Strategie nichts geändert. Der glaubt weiterhin, dass die Zeit in diesem Abnutzungskrieg für ihn arbeitet. Verhandlungen über die Beendigung des Konflikts sind deshalb nicht in Sicht.
Anders, als man in Europa glaubt, spielt der US-Wahlkalender bei den Analysen in Moskau keine große Rolle. Aus russischer Sicht ändert ein Wechsel im Weißen Haus nichts am Grundkonflikt mit den USA. Zudem zweifelt man – nicht ohne Grund – an der Zuverlässigkeit Trumps, sollte er erneut Präsident werden. Im Kreml freut man sich zwar über seine isolationistischen Parolen, aber man traut ihm auch jederzeit eine plötzliche Wende zu.
Ähnlich wie im Herbst 2022 bei der ukrainischen Gegenoffensive oder im Juni 2023 beim Putschversuch des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin folgten die russischen Reaktionen auf die Kursk-Invasion dem Muster: erst Schock, dann Wut, schließlich Abfinden mit einer neuen „Normalität“: Die bissigsten Kommentare standen in den sozialen Netzwerken. Auf Telegram kritisierten die Militärblogger (voenkory), von denen einige schon im Juli auf die ukrainische Truppenkonzentration in der Region Sumi hingewiesen hatten, erneut die Unfähigkeit ihrer eigenen Militärführung.
Als über 130 000 Menschen (mehr als 10 Prozent der Bevölkerung der Region Kursk) aus dem Kampfgebiet evakuiert werden mussten, war die Hilfsbereitschaft groß. Das dürftige Entschädigungsangebot des Staats – eine Nothilfe von 15 000 Rubel (150 Euro) – stieß überwiegend auf Wut und Unverständnis.1
Der Kreml versuchte wie üblich die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen. Anstatt die Bevölkerung für die Verteidigung des „bedrohten Vaterlands“ zu mobilisieren, wurde der ukrainische Vormarsch wie eine Naturkatastrophe behandelt. In der Bevölkerung aber wuchs die Besorgnis. Ende August sagten 48 Prozent der vom FOM-Institut befragten Personen, dass sie diese Besorgnis in ihrer Umgebung spüren. Ein hoher Wert, der jedoch in den darauffolgenden Wochen wieder zurückging. Nach der Ankündigung der Teilmobilisierung im September 2022 hatte der Anteil der Besorgten bei 69 Prozent gelegen.
Bei Teilen der russischen Machtelite regen sich mittlerweile offenbar Zweifel angesichts der Beschwörung des garantierten Sieges. Der Oligarch und Gründer des Rusal-Konzerns Oleg Deripaska plädierte am 8. August in einem Interview mit Nikkei Asia2 für einen Waffenstillstand. Und am 17. August äußerte Alexander Chodakowski, ehemals Offizier der ukrainischen Spezialkräfte, der sich 2014 den russischen Separatisten angeschlossen hatte, seine Besorgnis über den Fortgang der „militärischen Spezialoperation“ in zwei Posts auf seinem Telegram-Kanal. Der wurde zwei Tage später stillgelegt, vermutlich unter politischem Druck.
Aussagen wie diese spiegeln eine Skepsis in der russischen Wirtschaftselite und in gewissen Militärkreisen in Moskau wider, die selten offen geäußert wird, weshalb sich ihre Verbreitung schwer ermessen lässt. In die Öffentlichkeit gelangen solche Stimmen nicht. Wenn sich die sozioökonomische oder militärischen Situation nicht dramatisch verschlechtern sollte, ist vom Kreml auf absehbare Zeit kein Nachgeben zu erwarten.
Mehrheit gegen neue Mobilisierung
Putin selbst hat beim Östlichen Wirtschaftsforum (Eastern Economic Forum) Anfang September in Wladiwostok erneut verkündet „Wenn es in der Ukraine den Wunsch gibt, zu verhandelt, werden wir das nicht ablehnen.“ Es gibt reihenweise ähnliche Erklärungen russischer Politiker – vor allem von Außenminister Lawrow –, die darauf abzielen, die Schuld an der Blockade der Ukraine zuzuschieben und die Istanbuler Verhandlungen vom Frühjahr 2022 als Gesprächsgrundlage wieder ins Spiel zu bringen.3
Tatsächlich aber sind die Bedingungen, die Moskau für die Rückkehr an den Verhandlungstisch stellt, so weit von der aktuellen militärischen Lage entfernt, dass sie einer Gesprächsverweigerung gleichkommen. Zuletzt wurden sie von Putin am 14. Juni formuliert, als er den kompletten Rückzug der ukrainischen Truppen aus den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja forderte. Weitere Vorbedingungen sind: der Verzicht Kyjiws auf einen Nato-Beitritt, die Entmilitarisierung (auf der Diskussionsgrundlage vom Frühjahr 2022) wie auch die „Entnazifizierung“ der Ukraine und die Aufhebung aller Sanktionen.
Vor diesem Hintergrund ist der ukrainische Vorstoß in der Region Kursk für Russland geradezu ein Segen. Denn nun hat der Kreml – vor allem gegenüber seinen Brics-Partnern vor dem für Ende Oktober vorgesehenen Gipfel von Kasan – ein gewichtiges Argument dafür, dass Verhandlungen in nächster Zeit ausgeschlossen sind.
Was der Kreml wirklich will, ist unklar. Umso klarer ist, was er nicht zu akzeptieren bereit ist. Der Rückzug aus den in der Ukraine besetzten Gebieten wird von keinem Beobachter in Moskau ernsthaft in Betracht gezogen. Das gilt für die bereits 2014 annektierte Krim, für die Teile der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die vor dem 24. Februar 2022 von den Separatisten kontrolliert wurden, und auch für die seitdem von der russischen Armee eroberten Gebiete.
Ein bloßes Einfrieren des Konflikts ohne Friedensvertrag, also das „koreanische Szenario“, ist für den Kreml keine wünschenswerte Option, denn die strategischen Bedenken Russlands (wie Nato-Erweiterung und Bewaffnung der Ukraine) blieben weiter bestehen. Putin droht zwar auch mit der formellen Annexion der vier Donbass-Regionen, doch dass er tatsächlich auf der Anerkennung seiner territorialen Gewinne bestehen wird, gilt als unwahrscheinlich, denn das würde Russland in Gegensatz zu seinen wichtigsten Partner China und Indien bringen.4
Aus russischer Sicht sind die USA der einzige wirklich relevante Verhandlungspartner. Das hat mindestens drei Gründe: In Washington denkt man in strategischen Kategorien; die USA sind als Nato-Kopfmacht der Grundpfeiler des Sicherheitssystems in Europa; und allein sie können der Ukraine einen Frieden aufzwingen.
Allerdings hätte Russland im Fall von Verhandlungen neben den USA und ihren europäischen Verbündeten gern auch die Brics-Staaten und die UNO mit am Tisch. Denn Moskau will seine große, als unumkehrbar erachtete Wende hin zum „Globalen Süden“ nutzen. Auf keinen Fall würde man sich, was die Garantien für die Nachkriegszeit betrifft, allein auf den Westen verlassen. Diesen Schluss hat Putin aus dem Scheitern des Minsker Abkommens gezogen, das 2015 unter der Schirmherrschaft von Frankreich und Deutschland abgeschlossen wurde. Bekanntlich hat Russland weder das Vertrauen der USA noch der EU und schon gar nicht der Ukraine. Aber das gilt auch umgekehrt.
Die am 24. Februar 2022 begonnene „Spezialoperation“ mit dem Ziel, die Regierung in Kyjiw zu stürzen, hat sich rasch zu einem Desaster entwickelt. Vermutlich dachte man zunächst an eine Neuauflage der Invasion von 1968 in der Tschechoslowakei.5 Doch diese Annahme beruhte offensichtlich auf einer politisch-militärischen Fehleinschätzung. Nachdem die russische Armee im Herbst 2022 in Schwierigkeiten geraten war, konnte sie ihre Kampfkraft ab Frühjahr 2023 wieder aufbessern, und zwar durch massive Anwerbung neuer Soldaten (ungefähr 30 000 pro Monat), die einen nie zuvor gezahlten Sold bezogen.
Parallel dazu startete die Regierung eine umfassende militärische Aufrüstung, ohne jedoch – wie gelegentlich behauptet wird – das Land komplett auf eine „Kriegswirtschaft“ auszurichten. Der militärisch-industrielle Komplex läuft zwar auf Hochtouren, aber zivile Betriebe wurden nicht auf Waffenproduktion umgestellt.
Die Militärausgaben von rund 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen nach wie vor weit unter denen der UdSSR zur Zeit des Kalten Kriegs. Dank der beschleunigten Aufrüstung konnte die russische Armee jedoch die ukrainische Gegenoffensive in der Region Saporischschja im Sommer 2023 zurückdrängen und im Donbass Ende 2023 wieder die Initiative ergreifen.
Aktuell steht Putin vor einer schwierigen Entscheidung. Das russische Militär kann weiter ukrainisches Territorium „anknabbern“ und die Energieinfrastruktur und Militäranlagen im Landesinnern bombardieren. Diese wenig dynamische Strategie hat den Vorteil, die scheinbare Normalität zu bewahren, auf der die Akzeptanz des Kriegs, der nicht so genannt werden darf, in der russischen Gesellschaft beruht. Doch sie bietet keine Perspektive, die Kräfteverhältnisse an der langen Frontlinie wesentlich zu verändern.
Das alternative Szenario wäre eine neue Eskalationsstufe des Kriegs. Die meisten russischen Experten schätzen, dass mindestens 500 000 zusätzliche Soldaten vonnöten wären, um die Oberhand zu gewinnen und große Städte wie Charkiw, Saporischschja oder gar Odessa zu erobern. Bisher hat der Kreml diese Option immer abgelehnt. Er kann nicht ignorieren, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung (57 Prozent nach den letzten Umfragen) gegen eine zweite Mobilisierungswelle ist.6 Das Szenario eines „Kriegs bis zum Ende“ wird nur von einer ultrapatriotischen Minderheit unterstützt, die 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
Putin gibt sich derweil zuversichtlich und wiederholt unentwegt, man werde „alle Ziele erreichen“. Dass diese Ziele nicht klar formuliert sind, lässt ihm einen gewissen Handlungsspielraum, über den die ukrainische Seite nicht verfügt. Der Herrscher im Kreml wäre sicher in der Lage, angesichts seines Machtmonopols und einer Stimmung im Lande, die wenig kriegsbegeistert ist, seinem Volk auch einen „mittelmäßigen“ Sieg zu verkaufen.
Doch womöglich scheut Putin auch davor zurück, in den Augen der Elite wie ein zweiter Chruschtschow nach der Kubakrise dazustehen – und nicht wie der neue Triumphator im Stile Peters des Großen. Das heißt als ein Leader, der Russland beträchtlichen Risiken ausgesetzt hat, die sich strategisch gesehen kaum ausgezahlt haben.
Vieles deutet darauf hin, dass man in Moskau den Ukrainekrieg bis Anfang 2026 beendet haben will. Dann stehen wichtige Parlamentswahlen an und zahlreiche aufgeschobene Entscheidungen – vor allem mit Blick auf die Nachfolge im Kreml – müssen getroffen oder angedacht werden. Zudem könnte die russische Wirtschaft, die sich bisher als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen hat,7 irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Putin muss sich bald entscheiden. Der Fortgang des Kriegs hängt weitgehend von seiner Abwägung der Risiken ab.
2 Nikkei Asia, Tokio, 8. August 2024.
7 Siehe David Teurtrie, „Warum die Sanktionen gegen Russland scheitern“, LMd, Juni 2024.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Arnaud Dubien ist der Direktor des Observatoire franco-russe in Moskau, Mitarbeiter des Institut de relations internationales et stratégiques (IRIS) und Berater des Präsidenten des Institut Choiseul.