10.10.2024

Landnahme mit Pinie

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Landnahme mit Pinie

Nach der Staatsgründung setzte Israel auf Aufforstung, um die Spuren palästinensischer Besiedlung zu überdecken – die Praxis dauert an

von Aïda Delpuech

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An einem Morgen im ­Januar 2022 versammelten sich knapp einhundert Beduinen aus der Negevwüste im Süden Israels, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Seit Jahrzehnten beklagt diese stark marginalisierte Minderheit die gewaltsame Aneignung ihres Landes durch den israelischen Staat. Den Grund für die damaligen Proteste lieferte ein – inzwischen verworfenes – Aufforstungsprojekt des Jüdischen Nationalfonds (JNF), einer privaten Organisation, die den Großteil der israelischen Wälder verwaltet.

„Sie sind eines Morgens in das Dorf Sa’wa gekommen und haben angefangen, mitten zwischen den Häusern Bäume zu pflanzen, um dort einen Wald anzulegen. Das war verrückt“, erinnert sich Khalil al-Amur, ein Anwalt und Aktivist für die Rechte der Beduinen im Negev. Der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir, heute Minister für nationale Sicherheit, war damals persönlich angereist, um die Initiative zu unterstützen und Bäume rund um das Dorf zu pflanzen.

„Dieses Aufforstungsprojekt ist ein Krebs, den sie uns in den Körper pflanzen wollen“, schimpfte damals Attia al-Asam, der Vorsitzende des Regionalrats der nicht anerkannten arabischen Dörfer im Negev (RCUV).

Die Demonstrationen, die seinerzeit von der israelischen Polizei gewaltsam unterdrückt wurden, waren nur eine Episode in dem langen Kampf gegen die Politik der Vertreibung palästinensischer Beduinen und der Aneignung ihres Landes, die der israelische Staat als Maßnahme gegen Wüstenbildung rechtfertigt. „Jedes Mal wenn eine Beduinenfamilie von ihrem Land vertrieben wird, kommen sie am nächsten Morgen und pflanzen Bäume“, erklärt al-Amur.

Wenige Kilometer von dem – von Israel nicht anerkannten – Beduinendorf Sa’wa entfernt liegt Umm al-Hiran, das seit 2003 ebenfalls von der Zerstörung bedroht ist. Damals hatte der israelische Nationalrat für Planung und Bau die Gründung einer jüdischen Siedlung am selben Ort genehmigt.

Am Rande des knapp 700 Einwohner zählenden Dorfs erstreckt sich der Yatir-Wald,1 der größte künstlich angelegte Wald Israels. Benannt ist er nach „einer levitischen2 Stadt, deren Ruinen sich darin befinden“, wie es auf der Website des JNF heißt. Die ersten Bäume wurden 1964 gepflanzt, der Wald wuchs dank Spenden aus Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien und mehreren südamerikanischen Ländern.

Pinien, so weit das Auge reicht, Pick­nick­plät­ze, Wanderwege – ein Hauch Europa am Rande der Wüste. Der Anblick des Yatirwalds lässt erahnen, welches Schicksal auch den umliegenden Beduinendörfern bevorsteht. Seit mehreren Jahren wohnt bereits eine Gemeinschaft orthodoxer Juden im Yatirwald, die ungeduldig auf die Vertreibung der benachbarten Beduinen warten, um die Siedlung Hiran zu gründen und damit die „Judaisierung des Negev“ voranzutreiben.

Derzeit wohnen die Familien in Wohnwagen, die vom US-amerikanischen JNF gesponsert wurden. „Der JNF existiert angeblich nur, um Bäume zu pflanzen und ‚die Wüste zum Blühen zu bringen‘“, sagt al-Amur. „Aber das stimmt nicht. Der Fonds ist ein Grundpfeiler der Bevölkerungs- und Siedlungspolitik Israels.“ Man bringt die Pflanzung von Bäumen nicht automatisch mit dem Nahostkonflikt in Verbindung. Doch auch Irus Braverman, Professorin für Jura, Geografie und Nachhaltigkeit an der Universität Buffalo (New York), hält den JNF wahrscheinlich für „die bedeutendste zionistische Organisation aller Zeiten“.3

Laut Website des JNF fanden „die ersten jüdischen Pioniere, die Ende des 19. Jahrhunderts auf israelischem Boden ankamen, eine trostlose Landschaft vor, die keinerlei Schatten bot“. Der 1901 gegründete, gemeinnützige Verein rühmt sich, seit seiner Gründung fast 250 Millionen Bäume gepflanzt zu haben.

Heute verwaltet der JNF nicht nur die meisten Wälder, er ist auch die wichtigste Planungs- und Entwicklungsagentur Israels. Von Anfang an war das Ziel, Land „für das jüdische Volk“ zu erwerben – mit Verweis auf die Bibel: „Das Land soll nicht für immer verkauft werden; denn das Land ist mein …“ (Levitikus 25:23).

Bei der Gründung Israels 1948 und nach der Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung während der Nakba (Arabisch „Katastrophe“) besaß der JNF bereits 100 000 Hektar Land. Der junge Staat beschlagnahmte „verlassene“ Ländereien und übertrug ihre Verwaltung dem JNF, später in Kooperation mit der staatlichen Israel Land Administration (ILA, ab 2009 Israel Land Authority).

Das Leitbild des JNF hat sich seit seiner Gründung nicht verändert, gemäß seiner Statuten ist er dazu bestimmt, allein den Interessen des jüdischen Volkes zu dienen. Deshalb vertritt er die Position, dass seine Ländereien „ausschließlich für Juden erschlossen und an diese verpachtet werden dürfen“, obwohl fast 25 Prozent der heutigen israelischen Bevölkerung nicht jüdisch sind.

Aleppo-Kiefer gegen Olivenbaum

Der Historiker Ilan Pappé bezeichnete den JNF als „wichtigstes zionistische Werkzeug für die Kolonisierung Palästinas“.4 Eine zentrale Rolle spielte Joseph Weits, der von 1932 bis 1966 die Land- und Forstabteilung des JNF leitete. Weits wurde der „Vater der Wälder“ genannt und war einer der Köpfe des 1948 gegründeten „Transfer Comitee“, einer zunächst inoffiziellen Kom­mis­sion, die die Vertreibung der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen während der Nakba organisierte.5

„Wir haben die Operation der Säuberung begonnen, die Trümmer beseitigt und die Dörfer für Kultivierung und Besiedlung vorbereitet. Manche werden zu Parks werden“, schrieb Weits am 30. Mai 1948 in sein Tagebuch, zwei Wochen nach der Staatsgründung Israels. „In der Person Josef Weits wird die Verbindung zwischen Landschaftsplanung und Kolonisierung deutlich erkennbar“, meint Nadav Joffe, Landschaftsarchitektin, Aktivistin und Mitverfasserin einer Studie über „die Aufforstung in Palästina/Israel als Waffe des zionistischen Projekts“.

2022 verfügte der JNF nach offiziellen Angaben über ein Budget von fast 500 Millionen US-Dollar. Bei seiner Finanzierung kann er sich auf die Unterstützung der jüdischen Diaspora verlassen. Zum Symbol dafür wurde die sogenannte Blue Box. Die blauen Spendendosen des JNF wurden seit 1904 millionenfach in alle Welt verschickt.

Die Organisation hat auch die Bedeutung des kleinen jüdischen Feiertags Tu Bischwat gestärkt, „das Neujahr der Bäume“. Joffe beschreibt, wie an diesem Tag Busse Menschen „zu vorbereitete Parzellen bringen. Dort pflanzen sie einen Setzling und kehren mit ­einer Fahne zurück, auf der steht: ‚Ich habe einen Baum in Israel gepflanzt.‘“

Entlang der Schnellstraße Nr. 1, die Tel Aviv mit Jerusalem verbindet, erstreckt sich auf mehr als 1.200 Hektar der Ayalon-Canada-Park. Mit seinen Naturschwimmbecken, Wanderwegen und Mountainbike-Trails ist er ein beliebtes Ausflugsziel. Im gesamten Park erläutern Infotafeln den jährlich rund 300 000 Be­su­che­r:in­nen die Geschichte des Ortes. Man hat dort Ruinen aus der Zeit des Zweiten Tempels (516 v. Chr. – 70 n. Chr.), römische Bäder und Aquädukte gefunden.

Auf den Infotafeln wird jedoch nicht erwähnt, dass sich hier auch die palästinensischen Dörfer Imwas, Yalu und Beit Nuba befanden. 1967 wurden aus ihnen knapp 6000 Menschen vertrieben, nachdem Israel dieses Gebiet, das jenseits der Waffenstillstandslinie von 1949 lag, im Sechstagekrieg erobert hatte. Fast alle Gebäude wurden 1967 abgerissen; 1972 bei der offiziellen Eröffnung des Parks überdeckte neue Vegetation jede Spur palästinensischer Besiedelung. „Als hätte es die Pa­läs­ti­nen­se­r nie gegeben“, meint Ghada Sasa, die an der kanadischen McMaster-Universität zum grünen Kolonialismus in Palästina promoviert.

Die Geschichte des Ayalon-Canada-Parks ist kein Einzelfall. Nach einer Untersuchung unter Leitung der israelischen Wissenschaftlerin Noga Kadman befanden sich auf dem Gebiet der israelischen Parks, Wälder und Naturschutzgebiete fast 200 palästinensische Dörfer, die zerstört wurden.6

Die Aufforstung verdeckt nicht nur diesen Teil der jüngeren Geschichte, sondern verhindert auch die Rückkehr der vertriebenen Palästinenser:innen. Die Wälder fungieren als pflanzliche Festungen, die dazu dienen, die israelische Präsenz aufrechtzuerhalten und die Grenzen des Staats bis in die besetzten Gebiete hinein zu verschieben.

„Einen Baum zu pflanzen, bedeutet, die eigene Präsenz in die Landschaft einzuschreiben. So kann man sich auch niederlassen, ohne dass es direkt an eine gewaltsame Form der Enteignung erinnert“, erläutert die Wissenschaftlerin Braverman: „Mit anderen Worten: Die Entwurzelung der einen ermöglicht die Verwurzelung der anderen.“ In manchen Fällen dienten Bäume auch als Werkzeug einer vorläufigen Landnahme, um später durch Häuser oder andere Infrastruktur ersetzt zu werden.

Um gegen dieses absichtliche Vergessen vorzugehen, versucht die is­rae­li­sche NGO Zochrot (Hebräisch „sich erinnern“) seit 20 Jahren, die Israelis über Geschichte und Folgen der Nakba aufzuklären. Freiwillige bieten Touren durch die Parks des Landes an, bei denen auch Zeugen oder Nachkommen der Opfer der Vertreibung anwesend sind, um die andere Seite der Geschichte zu erzählen.

„Im Zionismus ist viel davon die Rede, das Land und seine Geschichte zu kennen. Aber dieses Wissen bleibt unvollständig, wenn wir nicht über die palästinensische Geschichte dieses Landes sprechen“, erklärt Eitan Bronstein Aparicio, der Gründer von Zochrot.

2005 gewann die NGO vor dem Obersten Gericht Israels einen Prozess gegen den JNF, in dem es um dessen Informationspolitik im Ayalon-Canada-Park ging. Der JNF musste da­raufhin den Text auf den Infotafeln ändern, allerdings verschwanden einige davon kurze Zeit später auf mysteriöse Weise.

Der Ayalon-Canada-Park besteht hauptsächlich aus Nadelbäumen, vor allem aus Aleppo-Kiefern (Hebräisch „Jerusalem-Kiefern“), die der JNF in all seinen Aufforstungsprojekten vorrangig einsetzt. „Das ist der ideale Baum für die zionistische Landnahme“, erläutert Nadav Joffe: Er ist trockenresistent, wächst schnell und ist das ganze Jahr grün.

Diese Bäume „sind Symbole für die jüdisch-israelische Kontrolle über das Land, während fruchttragende Bäume, vor allem Olivenbäume, auf palästinensische landwirtschaftliche Tätigkeit hinweisen“, erklärt Braverman.

Seit 1967 wurden über 800 000 palästinensische Olivenbäume von israelischen Behörden und Siedlern gefällt. In jüngster Zeit gibt es jedoch auch eine Tendenz zur Aneignung. Der Olivenbaum ist zwar das stärkste Symbol für die Bindung der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen an ihr Land, wurde aber dennoch 2022 vom JNF zum „Baum des Jahres“ ernannt. Begründung: „Der Olivenbaum ist einer der symbolträchtigsten Bäume Israels, der für Segen, Gesundheit und Verwurzelung steht.“

Obwohl die Baumpflanzungen vorgeblich einem ökologischen Zweck dienen, sind nicht alle Um­welt­schüt­ze­r:in­nen in Israel mit der Kiefernmonokultur einverstanden. „Manche sprechen sogar von einer ‚Kiefernwüste‘, weil der Baum die lokalen Ökosysteme so stark verarmen lässt“, erklärt Ghada Sasa. Die Kiefernnadeln lassen den Boden der Wälder versauern und machen es der einheimischen Flora und Fauna unmöglich zu überleben.

So kritisiert die Gesellschaft für Naturschutz (Society for the Protection of Nature in Israel, SPNI), die wichtigste israelische Umwelt-NGO: „Die willkürliche Aufforstung trägt weder zur Bodenerhaltung noch zum Klimaschutz bei und erhöht die Waldbrandgefahr.“

Im August 2021 zerstörte ein Feuer in der Umgebung von Jerusalem über 2000 Hektar Kiefernwald. Der Brand legte die Ruinen palästinensischer Dörfer und Terrassenfeldern frei, die zuvor vom Wald verborgen wurden.

Heute sind die Olivenhaine und die palästinensischen Familien, die sie bewirtschaften, vorrangige Zielscheiben für Angriffe und Vandalismus durch jüdische Siedler und israelische Behörden im Westjordanland. Deren Brutalität hat seit dem 7. Oktober 2023 stark zugenommen. Bei der Ernte 2023 wurden nach Angaben der Palästinensischen Autonomiebehörde über 3000 Olivenbäume entwurzelt.

1 Vgl. Ariel Dloomy, „The ‚new Zionism’ is turning Negev Bedouin into a myth“, +972 Magazine, 26. Juni 2015.

2 Nach biblischer Überlieferung dienten die Leviten als Priestergeschlecht für die 12 Stämme Israels.

3 Autorin von „Planted Flags: Trees, Land, and Law in Israel/Palestine“, New York (Cambridge University Press) 2009.

4 Ilan Pappé, „Die ethnische Säuberung Palästinas“, Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 2007.

5 Siehe auch den Dokumentarfilm „Blue Box“ (2021) von Weits’ Urenkelin Michal Weits.

6 Noga Kadman, „Erased from Space and Consciousness. Israel and the Depopulated Palestinian Villages of 1948“, Bloomington (Indiana University Press) 2015; Siehe auch Charlotte Wiedemann, „Auf der Suche nach Palästina“, LMd, Juni 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Aïda Delpuech ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2024, von Aïda Delpuech