10.10.2024

Chancen für Bangladesch

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Chancen für Bangladesch

Nach dem Sturz des korrupten Regimes kann sich das Land demokratisch erneuern – oder in den Autoritarismus zurückfallen

von Nafis Hasan

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Am Morgen des 5. August 2024 lag eine seltsame Ruhe über Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Militärfahrzeuge und Polizeiwagen standen an den großen Kreuzungen; Lastwagen blockierten die wichtigsten Einfallstraßen. Die Antidiskriminierungsbewegung, die das Land seit drei Wochen in Atem hielt, hatte zu einem „langen Marsch nach Dhaka“ aufgerufen. Der sollte nun aufgehalten werden.

Kurz zuvor war die Internetsperre wieder aufgehoben worden, und sofort kursierten in den sozialen Medien jede Menge Gerüchte und Updates zur aktuellen Situation. Waker-uz-Zaman, der Generalstabschef der Armee, kündigte an, er werde in einer Fernsehansprache zur allgemeinen Forderung nach dem Rücktritt der Premierministerin Stellung nehmen. Sheikh Hasina Wajed war seit 2009 zum zweiten Mal an der Macht, nachdem sie Bangladesch bereits von 1996 bis 2001 regiert hatte.

Als der General um 16 Uhr auf Sendung ging, hatte sich bereits wie ein Lauffeuer die Nachricht verbreitet, dass Hasina das Land verlassen habe. Und uz-Zaman bestätigte mit besorgter Miene, dass sie sich zwei Stunden zuvor in einem Militärhubschrauber nach In­dien abgesetzt hatte.

Kurz darauf stürmte eine jubelnde Menge den Ganabhaban, Hasinas Amtssitz. Die – zumeist männlichen – Eindringlinge plünderten ihre Kleiderschränke und den Kühlschrank und machten im Schlafzimmer Selfies auf Hasinas prunkvollen Bett. Derweil bat der General im Fernsehen um Ruhe und Zurückhaltung und kündigte an, dass er sich gleich am nächsten Tag mit den Spitzen der Oppositions­par­teien treffen wolle, um über die Frage zu entscheiden, die in den letzten Jahren niemand zu stellen gewagt hätte: wer das Land nun regieren soll.

Nach Sonnenuntergang wurde die Stimmung immer aggressiver. In manchen Stadtvierteln wurden Polizeistationen in Brand gesteckt. Die ganze Nacht über kam es zu Zusammenstößen mit regimetreuen Sicherheitskräften und Aktivisten der Bangladesh Chhatra League (BCL), einer Stu­den­ten­organisation von Hasinas Partei, der Bangladesh Awami League (BAL). Erst am Morgen hatte die Armee die Lage wieder unter Kontrolle, und die studentische Vorhut der Protestbewegung, die Hasina gestürzt hatte, kehrte die Scherben der Diktatur auf.

So endete mit mehr als 1000 Toten und hunderten Verletzten der „blutige Juli“ von Bangladesch – die gewaltvollste Episode in der Geschichte des Landes seit dem Unabhängigkeitskrieg vor mehr als 50 Jahren.

Hasinas Vater, Sheikh Mujibur Rahman (1920–1975), führte Ostpakistan unter dem Namen Bangladesch (Land der Bengalen) 1971 in die Unabhängigkeit von Pakistan. Die erste Verfassung des Landes beruhte auf den vier Prinzipien Nationalismus, Sozialismus, Demokratie und Säkularismus, die der Parteilinie der von Rahman 1949 gegründeten Awami-Liga entsprachen.

Auch Hasina war einst eine erklärte Demokratin. Den Militärputsch gegen ihren Vater, bei dem 1975 fast ihre gesamte Familie ausgelöscht wurde, hat sie nur überlebt, weil sie sich damals in Karlsruhe aufhielt, wo ihr Mann als Atomphysiker forschte. Doch während ihrer zweiten Amtszeit ab 2009 wurde ihr Regierungsstil immer autoritärer.

2013 formierte sich erstmals der Protest gegen die Einstellungspolitik im öffentlichen Dienst; als er im Juli 2024 erneut aufflammte, hätte niemand damit gerechnet, dass er mit Hasinas Sturz enden würden.

Das umstrittene Quotensystem in der Einstellungspraxis war 1972 eingeführt worden, um die Wiedereingliederung der Unabhängigkeitskämpfer ins zivile Leben zu erleichtern. Damals wurden 30 Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst für Mukti Bahini (Befreiungskämpfer) und deren Kinder reserviert, 10 Prozent für Birangonas (Frauen, die von pakistanischen Soldaten und deren bengalischen Kollaborateuren sexuell missbraucht worden waren) und 40 Prozent für Anwärter aus armen Regionen, die bis dato kaum Chancen auf eine Stelle im öffentlichen Dienst gehabt hatten. Nur 20 Prozent wurden nach Leistung vergeben.

Dieser Prozentsatz stieg zwar 1976 auf 40 Prozent; doch als die Regierung ausgerechnet in einer Zeit zunehmender Jugendarbeitslosigkeit 2010 beschloss, dass fortan auch die Enkel der Unabhängigkeitskämpfer Anspruch auf die Veteranenquote haben sollen, kam es zu ersten Protesten. Trotz massiver Unterdrückung, unter anderem durch die paramilitärischen Verbände der Chhatra-Liga, ließ die Mobilisierung über die Jahre nicht nach.

2018 beschloss Hasina daher in einer Art Flucht nach vorn, das gesamte Quotensystem abzuschaffen. Sie wollte damit auch der Protestbewegung den Wind aus den Segeln nehmen, hatte die Lage aber offensichtlich falsch eingeschätzt. Die Bevölkerung applaudierte zwar. Doch die bisherigen Nutznießer der Quote waren äußerst unzufrieden. Drei Jahre später zogen die Kinder der Befreiungskämpfer vor den Obersten Gerichtshof und verklagten die Regierung: Die Abschaffung der Quote sei verfassungswidrig gewesen. Im Juli 2024 bekamen sie recht, und das Quotensystem trat wieder in Kraft.

An einigen staatlichen Universitäten kam es daraufhin zu – vorerst noch dünn gesäten – Protesten. Bis zwei Ereignisse die Massen endgültig auf die Barrikaden brachten: Zuerst belegte eine journalistische Recherche zu den Aufnahmeprüfungen für den öffentlichen Dienst, über die inzwischen 44 Prozent der Stellen vergeben wurden, dass Awami-Anhängern die Prüfungsfragen vorab zugänglich gemacht worden waren.

Und dann verunglimpfte die Premierministerin die De­mons­trierenden bei einem Fernsehauftritt als „Razakars“ – so wurden im Unabhängigkeitskrieg die bengalischen Kollaborateure (Razakar bedeutet wörtlich übersetzt Freiwillige) der pakistanischen Armee genannt. Die Razakars verrieten den Soldaten damals, welche Häuser sie niederbrennen, welche Familien sie wegen eines kämpfenden Sohns bestrafen und welche Frauen sie vergewaltigen sollten; teilweise beteiligten sie sich auch selbst an den Schandtaten. Unter Tikka Khan, dem damaligen Gouverneur von Ostpakistan und Befehlshaber des Ostkommandos, wurden 1971 innerhalb von neun Monaten hunderttausende Menschen umgebracht.

Damit hatte Hasina den Bogen überspannt. Am 21. Juli entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Quotensystem geändert werden muss. Seither werden 93 Prozent der Stellen nach Leistung vergeben, nur noch 5 Prozent an Veteranen beziehungsweise deren Kinder und jeweils 1 Prozent an indigene Adibashi, Menschen mit Behinderung oder nichtbinäre Personen.

Doch die Gerichtsentscheidung kam zu spät. Der Flächenbrand ließ sich nicht mehr aufhalten. Und das hatte nicht nur mit dem Konflikt um die Quoten und Hasinas verbalen Ausfällen zu tun, sondern auch damit, dass sich ihr Regime vor allem durch eine hemmungslose Vetternwirtschaft auszeichnete.

Der Bankensektor wurde von Industriemagnaten beherrscht, die meinten, sie bräuchten wegen ihrer Nähe zur Macht ihre Kredite nicht zurückzahlen. Der Geschäftsmann Salman F Rahman, Hasinas Investment- und Industrieberater im Ministerrang, erfand immer wieder neue Tricks, um die Regeln der Zentralbank zu umgehen. Am 13. August wurde er verhaftet; ihm wird unter anderem Anstiftung zum Mord während der jüngsten Proteste zur Last gelegt.

Die Awami-Liga hat in ihrer Regierungszeit Bangladesch zur Fabrik für Billigtextilien mit billigen Arbeitskräften gemacht: 2020 bestanden 86 Prozent der Gesamtexporte aus Bekleidung.1 Sowohl das 2010 erlassene Gesetz zur Einrichtung von 100 privaten Wirtschaftszonen als auch die staats­eige­nen Sonderwirtschaftszonen dienten nur einem einzigen Zweck: Die Tex­til­ar­bei­te­r:in­nen schufteten außerhalb des Geltungsbereichs des Arbeitsrechts. Bis 2021 durften in diesen Zonen die mehr als 500 000 Beschäftigten keiner Gewerkschaft beitreten und an keinen Tarifverhandlungen teilnehmen.

2013 brannte die Rana-Plaza-­Fa­brik, mehr als 1000 Menschen kamen dabei um.2 In der Folge kam es zu mehreren Streiks in der Textilbranche, die von der Regierung brutal unterdrückt wurden. Die Sicherheitskräfte zielten mit Gummigeschossen auf die protestierende Menge, ­Ge­werk­schaf­te­r:in­nen wurden verschleppt und ermordet. 2022 listete der Internationale Gewerkschaftsbund (Ituc) Bangladesch als eines der zehn „schlimmsten Länder der Welt für erwerbstätige Menschen“.3

Im August 2022 traten tausende Tee­­pflü­cke­r:in­nen in einen dreiwöchigen wilden Streik. Sie forderten lediglich angemessene Löhne, denn die Arbeit auf den Plantagen gehört zu den am schlechtesten bezahlten Jobs in Bangladesch. Die Regierung speiste sie mit einer Erhöhung von umgerechnet 50 US-Cent ab – ein Tageslohn von 1,70 Dollar, immer noch deutlich unter der Armutsgrenze von 2,15 Dollar.

Hasinas Verachtung für die arbeitende Bevölkerung spiegelte sich auch im Umgang mit den Arbeitsmigrantinnen. Sie sind für Bangladesch ebenfalls ein wichtiger „Exportartikel“. Dass sie häufig Opfer von Missbrauch und Misshandlungen werden, dazu schwieg die Regierung und gewährte ihnen keinerlei Schutz. Als 2019 die Leichen von 119 Migrantinnen aus Saudi-Arabien nach Bangladesch überführt wurden, sprach Außenminister A. K. Abdul Momen von einer „unbedeutenden“ Zahl, wenn man bedenke, wie viele Frauen aus Bangladesch insgesamt dort beschäftigt seien. 2022 kamen 3838 Särge aus dem Ausland zurück.4

Unterdrückung der Arbeiterschaft, steigende Jugendarbeitslosigkeit, Einkommensungleichheit, fehlende soziale Sicherheiten sowie die weit verbreitete Korruption: All diese Übel spielten den islamistischen Bewegungen in die Hände. Gefördert wurden sie oft von den Rückkehrern aus Afghanistan, die in den 1980er Jahren an der Seite der Mudschaheddin gegen die Russen gekämpft hatten.

Für die ländliche Arbeiterklasse waren sie attraktiver als die in Verruf geratenen traditionellen muslimischen Parteien, die sich in den 1990er und 2000er Jahren bei der Regierung anbiederten. Mit Geldern aus dem Nahen Osten und insbesondere aus Saudi-Arabien konnten dagegen die Islamisten massenweise Anwärter für ihre Madrassen rekrutieren und damit teilweise den Staat – etwa im Hinblick auf Bildung und Beschäftigung – in Bereichen ersetzen, aus denen er sich weitgehend zurückgezogen hatte.

Die Regierung, die im „Krieg gegen den Terror“ stets betont hat, sie unterstütze einen „gemäßigten Islam“, hätte sich keinen besseren Gegner wünschen können. Als sie 2013 die eigentlich gemäßigte Dschamaat-i-Islami verbot, nahmen weitaus radikalere Organisa­tio­nen deren Platz ein, gegen die sie nun mit massiven Repressionen vorgehen konnte. Im gleichen Jahr mobilisierte Hasina Sicherheitskräfte und Polizisten gegen eine Demonstration für ein Blasphemiegesetz, zu der die islamistische Gruppe Hefazat-e-Islam im Finanzviertel von Dhaka aufgerufen hatte.

Damals begrüßten die Linken und Progressiven in Bangladesch den „Mut“ der Premierministerin – eine ziemlich blauäugige Reaktion. Wenig später richteten sich die Repressionen gegen alle, die es wagten, die Regierung öffentlich zu kritisieren.

In den letzten Jahren häuften sich die Fälle von „Verschwundenen“ und außergerichtlichen Hinrichtungen. 2022 enthüllte die Nachrichtenseite Netra News, dass der militärische Geheimdienst eine Haftanstalt namens Aynaghor (Spiegelkammer) betrieb, über die schon lange finstere Gerüchte kursierten.5 Und 2018, während der Schülerproteste für mehr Sicherheit im Straßenverkehr ließ die Awami-Liga die Sicherheitskräfte und ihre paramilitärische Jugendorganisation BCL von der Leine. Als der Fotojournalist Shahidul Alam darüber berichtete, wurde er auf Grundlage des 2018 in Kraft getretenen Digitalen Sicherheitsgesetzes wegen „Anstiftung zu antinationaler Verschwörung“ zu 107 Tagen Haft verurteilt.6

Hasinas Politik galt offiziell immer noch der „nationalen Befreiung“, für die ihr Vater einst gekämpft hat und als deren Garantin sie sich inszenierte. Gegner der Regierung galten automatisch als Feinde der Freiheit – auch wenn sich die Kritik gegen die dubiosen Deals richtete, mit denen sich Hasinas Regierung in die Abhängigkeit von Indien manövriert hat. Bangladesch grenzt rundherum fast vollständig an Indien (siehe Karte). Der Kontakt zwischen den beiden Ländern ist naturgemäß eng, Indien genoss nach 1971 stets Vorteile im Handel mit Bangladesch. Doch in den letzten 15 Jahren wurden sie extrem ungleich, Indien konnte den kleinen Nachbarn übervorteilen, ohne Gegenmaßnahmen befürchten zu müssen.

Ein Beispiel: Das 2016 mit indischen Mitteln gebaute Kraftwerk in Rampal unweit der Sundarbans, der größten Mangrovenwälder der Erde, wird mit aus Indien importierter Kohle betrieben – und das Land, das wie kein anderes seit Jahren extrem von der Klimakrise betroffen ist, bekommt den Schaden ab.7 2017 unterzeichnete die Hasina-Regierung einen Vertrag mit dem indischen Stromversorger Adani Power, der Gautam Adani gehört, dem reichsten Mann Indiens und engen Freund Präsident Modis. Bangladesch zahlt hier für teuren Strom, den es nicht einmal braucht.8

Während die Regierungsparteien beider Länder – Hasinas Awami-Liga und Modis Bharatiya Janata Party (BJP) – einander innig verbunden waren, vergrößerte sich die Kluft zwischen den Bevölkerungen: In Indien gelten die Ban­gla­de­sche­r:in­nen als Eindringlinge und Bettler, die sich illegal ins Land schleichen und keine Dankbarkeit gegenüber Indien zeigen, das Bangladesch im Unabhängigkeitskrieg gegen Pakistan unterstützt habe.

Umgekehrt beschweren sich die Bangla­de­sche­r nicht nur über die unfairen Handelsabkommen, sondern auch über antimuslimische Gewalt und willkürliche Erschießungen durch indische Grenzschützer. In Dhaka kursierten Gerüchte über indische Geheimagenten, die das hiesige Militär und die Polizei infiltriert hätten, oder über Inder, die in der Regierung hohe Posten bekleideten. Dafür gibt es zwar keinerlei Belege, aber kaum jemand in Bangladesch wäre überrascht, wenn es wahr wäre.

Im Juni erreichte die antiindische Stimmung ihren Höhepunkt, als die Hasina-Regierung der indischen Bahn die kostenfreie Nutzung des Streckennetzes gewährte, damit indische Züge von Westbengalen durch Bangladesch in den östlich gelegenen Bundesstaat Assam fahren können. Nach dieser Entscheidung kam es zu einer regelrechten Boykottbewegung gegen Indien.

Hasina war überzeugt, die Proteste mit äußerster Brutalität ersticken zu können. Mitte Juli verhängte ihre Regierung nach einem fünftägigen Studentenprotest eine Internet- und Ausgangssperre. Todesschwadronen, die aus Kadern der Awami-Liga, Polizisten und paramilitärischen Kräften bestanden, begannen auf den Straßen zu patrouillieren und wahllos auf Unbeteiligte zu schießen. Unter den mindestens 1000 Opfern waren auch Kinder, von denen manche in ihrem eigenen Zuhause getötet wurden.

Selbst nach diesem Terror hätte Hasina noch eine Chance gehabt, wenn sie auf die Forderungen der Studierenden eingegangen wäre und die Verantwortung für die Massaker übernommen hätte. Stattdessen legte sie noch nach. Als die Proteste sich auf das ganze Land ausweiteten, verbreiteten die Parteiführer der Awami-Liga über Rundfunk und soziale Medien, dass sie von den „Feinden der Befreiung“ ausgingen.

Die anhaltenden Repressionen hatten zur Folge, dass am Ende nur noch eine einzige Forderung im Raum stand: Sheikh Hasina muss gehen. Dieses eindeutige Ziel gab der Bewegung neuen Auftrieb. Immer mehr Menschen aus allen Gesellschaftsschichten gingen nun auf die Straße und widersetzten sich der Ausgangssperre. Nur wenige Stunden vor ihrer Flucht forderte Hasina das Militär sogar noch auf, das ­Feuer auf die Demonstrierenden zu eröffnen. Doch General Zaman verweigerte den Befehl.9

Todesschwadronen der Awami-Liga

In den Stunden und Tagen nach dieser „zweiten Unabhängigkeit“ Bangla­deschs schlug die Freude und Erleichterung bei manch einem in Wut um – als würde sich der jahrelang angestaute Ärger jäh entladen. Vereinzelt kam es auch zu Raubüberfällen.10 Andererseits stellten sich viele Menschen schützend vor Tempel und Kirchen oder die Häuser von Minderheiten. In einer Desinformationskampagne von indischen Hindu-Nationalisten, die in Absprache mit der Awami-Liga handelten, wurden die gewaltsamen Ausschreitungen massiv übertrieben. Später wurde durch geleakte Whatsapp-Chats und Telefongespräche publik, dass Awami-Aktivisten im Voraus Angriffe auf Hindu-Tempel geplant hatten, um Chaos zu verbreiten.11

Am 8. August wurde eine Interimsregierung vereidigt. An ihrer Spitze steht Muhammad Yunus, der wegen seiner Mikrokreditbank Grameen auch „Bankier der Armen“ genannt wird und für dieses Projekt 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Globalen Norden wird Yunus als Neoliberaler geschätzt. Sein interna­tio­nales Ansehen, dazu Hasinas persönlicher mit juristischen Mitteln geführter Rachefeldzug gegen ihn und seine Bank haben Yunus in Bangladesch viel Ansehen verschafft.

Hasina glaubte allen Ernstes, sie hätte an seiner Stelle den Nobelpreis verdient, nämlich für die Unterzeichnung des Friedensabkommens von 1997, das einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen den indigenen Adivasi und der Regierung in den Chittagong Hill Tracts im Südosten des Landes beendete.

Viele Bangladescher begrüßten mit Yunus die Wahl einer Persönlichkeit, die weder mit der bisherigen Regierungspartei noch mit der wichtigsten Oppositionspartei, der konservativen Bangladesh Nationalist Party (BNP), verbandelt ist. Das neue Kabinett lässt indes wenig Zweifel an seiner neoliberalen Ausrichtung. Es besteht vor allem aus Ex-Generälen, ehemaligen Ministern und Botschaftern, die die Privatisierung nationaler Ressourcen und Industrien befürworten.

An der Interimsregierung sind aber auch der Menschenrechtsanwalt Adilur Rahman Khan, die Anwältin für Umweltrecht Rizwana Hasan und in beratender Funktion die Umweltaktivistin und Feministin Farida Akhter beteiligt. Zwei Studentensprecher der Antidiskriminierungsbewegung sitzen im Kabinett, ein weiterer, Mahfuz Abdullah, der als theoretischer Kopf der Bewegung gilt, wurde sogar zu Yunus’ Chefberater ernannt. Und mit Bidhan Ranjan Roy und Supradip Chakma sind auch die Minderheiten der Hindus beziehungsweise der Adivasi vertreten.

Bislang hat die neue Regierung weder einen Zeitplan für die Wahlen noch eine politische Agenda vorgelegt, abgesehen von der an Indien gerichtete Bitte um die Auslieferung Hasinas.

Derweil dreht sich das Politkarussell weiter. So nutzte die BNP das von Hasina hinterlassene Vakuum und hat die von der Awami-Liga betriebenen Schmuggelgeschäfte an sich gezogen – während sie sich gleichzeitig als Kämpferin gegen die Korruption geriert, indem sie in den eigenen Reihen „aufräumt“. Und nachdem das Verbot der Muslimpartei JIB aufgehoben ist, agitiert ihr studentischer Flügel Chhatra Shibir emsig an den Universitäten.

Sowohl die konservative BNP als auch die Interimsregierung haben Vorschläge zu Verfassungsänderungen unterbreitet, um eine Rückkehr zum Autoritarismus zu verhindern. Unter den Stu­dierenden tun sich unterdessen ideologische Spaltungen auf: Einige fordern, dass sich die Parteien vom Campus, wo sie in der Regel das Sagen haben, komplett fernhalten sollen; andere plädieren für politische Aktivitäten, jedoch „ohne Parteien“, obwohl unklar ist, wie das funktionieren soll.

Der erfolgreiche Aufstand gegen Hasina ist keinesfalls als das Ergebnis linker Agitation zu betrachten. Die Studentenführer kommen aus verschiedenen ideologischen Richtungen, befürworten aber in ihrer Mehrheit eine liberale Demokratie. Die traditionell linken Parteien hingegen – die Kommunistische Partei von Bangladesch, die Jatiya Samajtantrik Dal (Nationale Sozialistische Partei) und die Arbeiterpartei – fielen bei den Protesten durch Abwesenheit auf, vor allem weil sie Teil der bisherigen Regierungskoalition waren.

Während Hasinas autokratischer Amtszeit unternahmen diese Parteien und deren führende Po­li­ti­ke­r:in­nen wenig gegen Korruption und Machtmissbrauch; in einigen Fällen waren sie sogar selbst daran beteiligt. Selbst als die Studentenorganisation der Kommunistischen Partei, die Bangladesh Youth Union, und andere linke Studentengruppen an den Demonstra­tio­nen teilnahmen und die staatlichen Repressionen zu spüren bekamen, gab es vonseiten der linken Re­gie­rungs­poli­ti­ke­r:in­nen keinerlei öffentlichen Protest gegen die Gewalt.

Wirklich überraschend ist das allerdings nicht: Die traditionelle Basis der linken Parteien, die Gewerkschaften, sind entweder korrupt oder werden unterdrückt. Und an den Universitäten konzentrierten sich die linken Studentenorganisationen, die unter der Vorherrschaft der Jugendorganisation der Awami-Liga (BCL) litten, auf den Kampf gegen Islamisten – der wiederum ebenfalls von der Awami-Liga, die ihn als Teil ihrer politischen DNA betrachtet, dominiert wurde.

Jenseits der Parteien gruppiert sich Bangladeschs Linke um das National Commitee to Protect Oil, Gas, Mineral Resources, Power and Ports (NCBD), das für klimafreundliche Politik zum Nutzen der Bevölkerung eintritt. Die Gruppe ist zwar selbst zu klein, um eine linke Basis aufzubauen. Doch die neue Lage böte ihr eine Chance, etwa indem sie sich mit den Textilarbeiterinnen und Teepflückern verbündet und an der Reform der Gewerkschaften – zumindest derjenigen, die nicht vollständig von den großen politischen Parteien vereinnahmt wurden – mitarbeitet. Ratsam wäre es für sie gewiss, den Begriff „Sozialismus“ fallen zu lassen, den die Bangladescher gewöhnlich mit Sheikh Mujibur und damit auch mit dessen Tochter Hasina und der Awami-Liga in Verbindung bringen.

Bangladesch erlebt derzeit zahlreiche Proteste unterschiedlicher Interessengruppen aus unterschiedlichen Motiven: Rikschafahrer, die unter unfairer Konkurrenz leiden, Ärzt:innen, deren Arbeitsplätze bei den jüngsten Demonstrationen zerstört wurden, Mitglieder der awaminahen paramilitärischen Truppe Ansar, die heimatlos geworden sind, Polizisten, die sich weigern, wieder ihren Dienst zu verrichten. Diese Proteste haben zwar mancherorts die Befürchtung einer Konter­revo­lu­tion oder eines Eingreifens reaktionärer Kräfte aufkommen lassen, sie stehen aber auch für eine neu gewonnene Freiheit in Bangladesch: die Freiheit der Meinungsäußerung.

Mit Ausnahme eines kurzen Moments im Jahr 1990, nach der Absetzung des Diktators Hossain Mohammad Ershad, hat Bangladesch nie wirklich eine solche Freiheit erlebt. Der Preis dafür war hoch. Dennoch hat die gewaltsame Erneuerung Chancen auf eine Zukunft eröffnet, die die Bangla­de­sche­r erstmals selbst bestimmen können.

1 Siehe Guillaume Gaulier und Soledad Zignago, „­BACI: International Trade Database at the Product-level“, cepii.fr, Version 2022.

2 Siehe Olivier Cyran, „Unsere Toten in Bangladesch“, LMd, Juni 2013.

3 „ITUC Global Rights Index 2022“, International Trade Union Confederation, 30. Juni 2022, www.ituc-csi.org/.

4 „Migrant workers from Bangladesh: Too many die on foreign shores“, Dhaka Tribune, 30. Dezember 2019.

5 „Secret prisoners of Dhaka“, Netra News, 14. August 2022.

6 Md. Sanaul Islam Tipu, „Case against Shahidul Alam: CID again asked to submit probe report“, Dhaka Tri­bune, 9. Februar 2023.

7 Siehe Donatien Garnier, „Klimaflüchtlinge in Bangladesch“, LMd, April 2007.

8 „How questionable Adani deal makes electricity costlier“, The Business Standard, Dhaka, 20. August 2024.

9 „Exclusive – Bangladesh army refused to suppress protest, sealing Hasina‘s fate“, Reuters, 7. August 2024.

10 Siehe Jacqui Wakefield, „The far-right-videos distorting the truth of Bangladesh minority attacks“, BBC, 18. August 2024.

11 Farhana Sultana, „Bangladesh’s New Democracy Under Threat From Flood of Misinformation“, The Diplomat, 14. August 2024, thediplomat.com.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Nafis Hasan ist Autor und Wissenschaftler in Bangladesch sowie Herausgeber der linken Online-­Me­dien­platt­form Jamhoor mit Schwerpunkt auf Südasien und seiner Diaspora.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2024, von Nafis Hasan