10.10.2024

Kufija, Tatriz und Zaatar

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Kufija, Tatriz und Zaatar

Über die Aneignung palästinensischen Kulturerbes

von Olivier Pironet

Westjordanland, Oktober 2022: Palästinenser haben keinen freien Zugang zu ihren Olivenhainen NASSER ISHTAYEH/picture alliance/zumapress
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Ende 2017 sorgte die britische Fluggesellschaft Virgin Atlantic für einen Eklat, weil im neuen Bordmenü ein „palästinensischer Couscous-Salat“ angeboten wurde. Der Salat enthielt die in Palästina beliebte Couscous-Art Maftoul und anderen Couscous. Im Begleittext hieß es, er sei „inspiriert vom Geschmack Palästinas“. Ein empörter Passagier postete ein Foto der Speisekarte auf Twitter und bezeichnete die Fluggesellschaft und deren Personal als „Terror­sympathisanten“.

Das Bild wurde von proisraelischen Organisationen geteilt und ging viral. Einige wütende Social-Media-Nutzer behaupteten sogar, es handle sich um einen „jüdischen“ oder „israelischen“ Salat. Angesichts des öffentlichen Drucks entschuldigte sich die Airline und strich die Worte „palästinensisch“ und „Palästina“ aus ihrer Speisekarte.1

Die emiratische Billigfluggesellschaft Flydubai, die seit der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) 2020 eine Direktverbindung zwischen beiden Ländern anbietet, war sorgfältig bemüht, ähnliche „Beleidigungen“ zu vermeiden.

In ihrem Online-Reiseführer für Israel2 preist sie „den authentischen und köstlichen Geschmack“ von Hummus, Falafel und Musabaha (eine Hummus-Variante), die typisch für die israelische Küche seien – es handelt sich allerdings auch um traditionelle Gerichte Palästinas und der gesamten Levante. Im Gegensatz zu Virgin Atlantic ignorierte Flydubai jedoch die Kritik, die das bei palästinensischen und anderen arabischen Pas­sa­gie­r:in­nen auslöste.

Diese Bespiele sind alles andere als trivial. Sie stehen für den ideologischen Krieg, den Israel seit Jahrzehnten gegen die Palästinenser führt, um neben der territorialen Kontrolle auch die kulturelle Vorherrschaft zu behaupten. Dieser Kampf um die historische Legitimität der jüdischen Hegemonie im Heiligen Land wurde von den Zionisten Ende des 19. Jahrhunderts begonnen und nach der Staatsgründung im Mai 1948 vom israelischen Staat fortgeführt.

Einer der Leitgedanken des politischen Zionismus – formuliert vor allem von Nathan Birnbaum (1864–1937) und Theodor Herzl (1860–1904), um die Idee eines jüdischen Staats voranzubringen – stützt sich auf die Behauptung, alle modernen Juden seien Nachkommen der Hebräer. Daher besäßen sie ein historisches Recht auf das Gebiet Palästinas (von ihnen „Eretz Is­rael“ genannt), aus dem ihre Vorfahren im 1. Jahrhundert nach Christus von den Römern massenhaft vertrieben worden waren.

Nach dieser Erzählung war das Land danach verwaist; seine angestammten Bewohner:innen, die dort seit fast zwei Jahrtausenden gelebt hatten, vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Später hätten es dann „fremde“ Araber erobert, die es jedoch vernachlässigt und über Jahrhunderte großenteils brachliegen gelassen hätten.

Dieser Mythos vom erzwungenen Exil eines Volks mit einer gemeinsamen Religion, Kultur und Herkunft diente zu jener Zeit dazu, das kolo­nia­le Projekt der Zionisten zu rechtfertigen; man sprach von der „Rückkehr“ der Juden in ihre „Heimat“. Anführer der zio­nis­tischen Bewegung wie David Ben-Gurion (1886–1973) waren der Ansicht, ihr Staat müsse in Palästina gegründet werden, weil das „Gelobte Land“ gemäß der Bibel den Juden verheißen sei.

Die arabische Bevölkerung Palästinas3 galt ihnen, wie der Historiker Shlomo Sand schreibt, lediglich als „eine Ansammlung von Untermietern oder zeitweiligen Bewohnern eines Gebiets, das ihnen nicht gehörte“4 – also eine Bevölkerung, die sie mit gutem Recht vertreiben und ersetzen durften. Obwohl diese Gründungsmythen des Zionismus inzwischen von – vornehmlich israelischen – Historikerinnen und Archäologen widerlegt wurden,5 gehören sie nach wie vor zum ideologischen Fundament des Staates Israel und seiner nationalen Erzählung.

Dieser Kulturkrieg gegen die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen erstreckt sich auf viele Bereiche, auf Geschichte, Traditionen und Kunst, aber auch auf das mate­riel­le und immaterielle Erbe, bis hin zur Umwelt – mit anderen Worten, auf alles, was das kollektive Gedächtnis und die Identität eines Volks ausmacht.

Wie sehr das kulturelle Erbe Palästinas im Visier der israelischen Regierung ist, wird deutlich, wenn man die Politisierung der Archäologie in der Region betrachtet. Bei der Eroberung Ostjerusalems, des Westjordanlands und Gazas durch israelische Truppen im Sechstagekrieg im Juni 1967 übernahm Israel auch die Kontrolle über das Na­tio­na­le Archäologische Museum in Ostjerusalem, obwohl Israel 1957 der Haager Konvention von 1954 zum Schutz von Kulturgütern bei bewaffneten Konflikten beigetreten war.

Das palästinensische Museum, das die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer ebenso wie zahlreiche antike Kunstgegenstände und Bücher verwahrte, wurde in „Rockefeller-Museum“ umbenannt und der israelischen Altertumsbehörde (Israel Antiquities Authority, IAA) unterstellt. Schätzungen zufolge beschlagnahmte Israel zwischen 1967 und 1992 etwa 3 Millionen archäologischer Objekte in den palästinensischen Gebieten und seit 1995 jedes Jahr fast 120 000.6

Etwa 200 der über 6000 archäologischen Stätten und Denkmäler im Westjordanland befinden sich innerhalb jüdischer Siedlungen, und rund 1000 wurden beim Bau der Sperranlagen, die das Gebiet von Israel trennt, beschädigt oder zerstört. Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen haben zu den meisten antiken Stätten und Denkmälern keinen Zugang, sie bleiben jüdischen oder ausländischen Be­su­che­r:in­nen vorbehalten.7

Im Gazastreifen wurden seit Oktober 2023 von mehr als 350 erfassten historischen Stätten und Bauten 200 durch israelische Bombardierungen schwer beschädigt oder zerstört, darunter die Al-Omari-Moschee aus dem 7. Jahrhundert und die St.-Por­phy­rius-­Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Aber auch Bauwerke der Kanaaniter, Philister, Ägypter, Römer und Ottomanen wurden von israelischen Bomben schwer beschädigt oder komplett zerstört.8

Teils kam es auch zu Plünderungen durch israelische Truppen: Am 12. Januar 2024 veröffentlichte der Leiter der israelischen Altertumsbehörde (IAA) auf Instagram ein Foto mit gestohlenen Antiquitäten, die im Knessetgebäude ausgestellt wurden.9

Sich palästinensisches Land und Eigentum anzueignen ist Teil einer von zionistischen Denkern erdachten Kampagne zu „Entarabisierung“ des Landes. Mit dieser Mission betraute der 1901 in der Schweiz gegründete Jüdische Nationalfonds (JNF) die „Pioniere“ aus Europa, die nach Palästina gingen, um dort Siedlungen zu errichten.

Der JNF war für den Erwerb palästinensischen Landes zuständig und förderte zugleich die Einführung europäischer Baumarten, vor allem Nadelbäume. Dieses Aufforstungsprogramm trug auch dazu bei, aus der als allzu „orientalisch“ empfundenen Landschaft eine vertraute Umgebung für die Einwanderer zu machen (siehe den nebenstehenden Artikel).

Die Strategie der kulturellen Enteignung betrifft auch die Kleidung. Die Kunst der palästinensischen Stickerei (Tatriz) entstand in der ka­na­ani­ti­schen Zeit vor mehreren tausend Jahren und wurde hauptsächlich innerhalb der Familien weitergegeben. Jedes Dorf in Palästina besitzt seine eigenen Farben, geometrischen Muster und Motive, die von der Fauna und Flora vor Ort inspiriert sind. In den letzten Jahren ist Tatriz jedoch zu einem Trend auf dem israelischen Modemarkt und in der internationalen Prêt-à-porter-Szene geworden. Inzwischen tragen auch junge Hipster in Tel Aviv Kleidung mit Tatriz-Stickereien.

Selbst die Kufija hat sich die Modeindustrie angeeignet und ihrer politischen Botschaft entleert. Das traditionelle palästinensische Kopf- oder Halstuch gilt seit dem arabischen Aufstand von 1936 bis 1939 als Symbol des palästinensischen Widerstands. Die israelische Designerin Dorit Baror (Label Dodo Bar) entwarf 2016 eine Kollektion mit Kufija-Motiven, die in ihren Boutiquen zu horrenden Preisen verkauft wurden. Das französische Luxusunternehmen Louis Vuitton sorgte 2021 international für Kritik, als es für 700 US-Dollar einen Kufija-Schal mit seinem Logo anbot.

Wie die Vorfälle bei Virgin Atlantic und Flydubai zeigen, werden viele palästinensische Speisen mittlerweile auch in Israel als Nationalgerichte betrachtet. Und auch in New York, London oder Paris halten heute viele Hummus, Taboulé oder Tahina (Sesammus) für israelische Spezialitäten, was auch an den kulturellen Werbefeldzügen der israelischen Regierung im Ausland liegen dürfte.

Zaatar (wilder Thymian) und Akkoub (eine wilde Distelart) waren ebenfalls Gegenstand von Angriffen auf die palästinensische Identität. Beide Pflanzen wachsen wild und werden von Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen sowohl wegen ihres Geschmacks als auch wegen ihrer Heilkraft geschätzt. Doch Gesetze aus den Jahren 1977 und 2005 verbieten das Sammeln sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten unter dem Vorwand, dass es sich um bedrohte Arten handele, obwohl wissenschaftliche Studien das widerlegen.10

Wer gegen das Verbot verstößt muss mit empfindlichen Geldstrafen rechnen. Wer diese nicht bezahlt, kann sogar im Gefängnis landen. Derweil werden Zaatar und Akkoub mittlerweile von israelischen Landwirtschaftsunternehmen angebaut, die sie hauptsächlich an arabische Kunden verkaufen.

Der Film „Foragers“ („Sammler“, 2022) der palästinensischen Künstlerin Jumana Manna zeigt im Detail die Absurdität solcher willkürlichen und diskriminierenden Vorschriften, erzählt aber auch vom Widerstand der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen, die trotz des Risikos pflücken gehen.

In einer Szene wird der Kräutersammler Samir auf den 1981 von Is­rael annektierten Golanhöhen mit einem Sack voller Akkoub von israelischen Parkrangern erwischt. Vor seiner Gerichtsverhandlung hält ihm eine Richterin seine zahlreichen früheren Vergehen beim illegalen Kräuterpflücken vor. Doch Samir, dem eine Gefängnisstrafe droht, weil er nicht vorhat, auch nur die kleinste Geldstrafe zu bezahlen, bleibt standhaft.

„Ihr werdet mich auch noch 2050 mit meinen Kindern und Enkeln beim Pflücken erwischen. Ich folge dem Weg meiner Großeltern“, erklärt Samir. Es sind Worte, die die Standhaftigkeit („Sumud“) widerspiegeln, die die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen angesichts eines Kulturkriegs, der seit über einem Jahrhundert gegen sie geführt wird, jeden Tag beweisen.

1 Siehe Michael Bachner, „Virgin Atlantic removes ‚Palestinian’ from couscous description“, The Times of Israel, 13. Februar 2018.

2 „Israel travel guide“, flydubai.com.

3 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte Palästina über 750 000 Einwohner, davon waren 80 Prozent Muslime, 12 Prozent Christen und 8 Prozent Juden.

4 Shlomo Sand, „Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit“, Propyläen (Berlin) 2012.

5 Ben-Gurion selbst war überzeugt davon, dass die Mehrheit der Palästinenser von antiken Juden abstamme, die im Verlauf der Jahrhunderte zunächst zum Christentum und später zum Islam konvertiert seien, während nur eine Minderheit das Judentum bewahrt hätten; siehe Tom Segev, „David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis“, München (Siedler) 2018.

6 Siehe Luma Zayad, „Systematic cultural appropriation and the Israeli-Palestinian conflict“, in: DePaul Journal of Art, Technology & Intellectual Property Law, Bd. 28, Chicago (DePaul University) 2019.

7 Siehe „Palestine’s cultural property and the Israeli occupation“, 16. Dezember 2020, und „Palestine’s tourism and archeology under Israel’s colonial occupation“, 20. Juni 2022, Abteilung für Verhandlungen (NAD) der Palästinensischen Autonomiebehörde.

8 Clothilde Mraffko und Samuel Forey, „Dans la bande de Gaza, les bombes israéliennes détruisent le patrimoine et effacent la mémoire“, Le Monde, 14. Februar 2024.

9 „Israel: army displays artefacts stolen from Gaza in the Knesset“, Middle East Monitor, 22. Januar 2024.

10 Siehe Rabea Eghbariah, „The struggle for za’atar and akkoub. Israeli, nature protection laws and the criminalization of Palestinian herb-picking culture“, Oxford Food Symposium, Juni 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Olivier Pironet ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2024, von Olivier Pironet