Indien – wo Cricket mehr ist als ein Sport
von David Garcia
Beim Cricket World Cup steht ganz Indien kopf. Erst recht, wenn die Meisterschaft im eigenen Land stattfindet, wie im November 2023. Gespielt wurde in zehn Städten, doch selbst in den entlegensten Gegenden des riesigen Landes feierten hunderte Millionen Inderinnen und Inder ihren Lieblingssport, dessen Popularität die des Fußballs bei Weitem übertrifft. Ein paar wenige Glückliche hatten Tickets ergattert, die große Mehrheit verfolgte die Spiele ihrer Mannschaft auf einem Spartensender im Fernsehen.
Der ehemalige Kapitän Virat Kohli wird vergöttert wie ein Bollywoodstar. Die Fans ließen keine Gelegenheit aus, ihre Verehrung zu zeigen. So auch am 5. November 2023, seinem Geburtstag, als Indien in Kolkata Südafrika besiegte. Auf den Tribünen des Eden-Gardens-Stadions schwenkten ekstatische Anhänger ein Transparent: „Virat, lang lebe die Mutter, die dich geboren hat“, und riefen „Herzlichen Glückwunsch, König Kohli“ in die Fernsehkameras.
Am Tag zuvor hatten sich in Bengaluru, der Hauptstadt des südwestlichen Bundesstaats Karnataka, riesige Schlangen vor dem Chinnaswamy-Stadion gebildet, wo Neuseeland gegen Pakistan antreten sollte. Ein Trikotverkäufer warb lautstark für seine Ware, vor allem für neuseeländische Trikots. „Und was ist mit den pakistanischen?“, fragte ich. „Die darf ich nicht verkaufen“, antwortete er und blickte zu Boden.
Cricket entstand im 16. Jahrhundert in England, bis zum 18. Jahrhundert hatte es sich zum aristokratischen Sport par excellence entwickelt. „Es ist nicht übertrieben zu behaupten, das Cricket mehr als jede andere Form der öffentlichen Interaktion die Werte der viktorianischen Oberschicht verkörperte“, schreibt der Anthropologe Arjun Appadurai.1 Cricket schuf das Bild des Gentleman im weißen Wollpullover mit Zopfmuster und V-Ausschnitt. Der Sport wurde in das gesamte British Empire exportiert und in Indien von lokalen Adeligen übernommen, die der Kolonialmacht gefallen wollten. Appadurai spricht von einer „Indigenisierung des Crickets“, das es zu einem durch und durch indischen Sport machte.
Cricket wird vor allem in Ländern gespielt, die dem historischen Commonwealth angehörten, für andere gilt es als Spiel mit undurchschaubaren Regeln. Bei der letzten Weltmeisterschaft 2023 kamen neun der zehn teilnehmenden Teams – Ausnahme waren die Niederlande – aus dem ehemaligen Empire.
Doch während es in Indien, Pakistan, Sri Lanka und Bangladesch äußerst beliebt ist, verliert es in seinem Mutterland, im südlichen Afrika sowie in Australien und Neuseeland zunehmend an Bedeutung. „Zwischen 1994 und 2004 ist in England und Wales die Zahl der Freizeit-Cricketspieler um 40 Prozent zurückgegangen“, schreibt der Sporthistoriker Stephen Wagg der Montfort University in Leicester, „vor allem wegen der hohen Kosten wird es an staatlichen Schulen kaum noch unterrichtet.“2
Mit 2,5 Milliarden Zuschauer:innen ist der Cricket World Cup nach der Fußball-WM (fast 5 Milliarden) und den Olympischen Spielen (mehr als 3 Milliarden) auf Platz drei der am meisten geschauten Sportereignisse weltweit. Cricket war bisher nur einmal olympische Disziplin, 1900 in Paris. 2028 in Los Angeles soll es wieder dabei sein, der Cricket-Weltverband (ICC) erhofft sich davon weiter steigende Zuschauerzahlen.
In den USA wird das nicht leicht sein, denn in dieser ehemaligen britischen Kolonie hat das schnellere, dynamischere Baseball seinen englischen Cousin und Vorfahr weitgehend verdrängt. In Lateinamerika, Europa und in der postsowjetischen Welt spielt Cricket überhaupt keine Rolle – Ausnahmen sind ein paar karibische Ex-Kolonien wie Dominica und Grenada.
Ursprünglich konnten Cricketspiele bis zu fünf Tage dauern. Der Trend geht aber zunehmend zu kürzeren Spielen, um sich den Wünschen der TV-Sender und Werbekunden anzupassen. Mittlerweile gibt es zwei Spielformate: das One-Day-Format mit einer Spieldauer von sieben Stunden wie bei der WM 2023 in Indien; und das T20-Format von etwa drei Stunden, das bei der WM im Juni 2024 in den USA und auf den Westindischen Inseln gespielt wurde. Die kürzere Spieldauer ist auch ein Versuch, Cricket spannender zu machen und das Image einer langsamen bis langweiligen Disziplin abzustreifen.
Vom kolonialen Hobby zum Volkssport
Der Oval Maidan gegenüber der Universität in Mumbai ist von eleganten Art-déco- und neugotischen Bauwerken aus der Zeit der britischen Kolonialzeit umstellt. Am späten Nachmittag und an den Wochenenden nehmen Freizeitsportler:innen die Grünfläche für Cricket in Beschlag.
Zwischen ockerfarbener Erde und spärlichem Rasen gibt es Netze, an denen Batter und Bowler üben (siehe Kasten). Ein Jugendlicher mit Beinschützern schlägt einen Ball zurück, den ein Mann mit angegrauten Schläfen geworfen hat. Ein paar Meter weiter besprengt ein junger Mann einen Pitch mit Wasser. Weiß gekleidete Kinder trainieren in Kleingruppen unter der Aufsicht eines Lehrers. Vor einem Festzelt in der Mitte des Platzes bekommen beglückte Jugendliche Pokale und Medaillen überreicht.
Hier, im Süden von Mumbai, auf ähnlichen Maidans (öffentliche Plätze zum Cricketspielen), hat sich die Dominanz der Sportart herausgebildet. Die ersten Inder, die aus eigenem Antrieb ab Mitte des 19. Jahrhunderts Cricket spielten, waren die Parsen.3 Zwar wurde Cricket in Indien bereits 1721 erwähnt, doch blieben die Briten dabei unter sich. Sie hatten „nicht die Absicht, es den Einheimischen beizubringen“, wie der Historiker Ramachandra Guha schreibt.4
Die Inder brachten sich das Spiel also selbst bei. Diesen Aneignungsprozess durch die kolonisierte Bevölkerung fasste der Psychologe Ashis Nandy in dem berühmten Satz zusammen: „Cricket ist ein indischer Sport, der zufällig von Briten entdeckt wurde.“
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand Cricket Anklang in allen sozialen Schichten. Im Gegensatz zu seinem großen Rivalen Fußball, bei dem „die Spieler fast ausnahmslos aus der Arbeiterklasse kamen. Ebenso ihre Fans. Rugby und Tennis hingegen waren eindeutig elitäre Sportarten.“ Nur dem Cricket ist es gelungen, alle zu vereinen.
Bis zu einem gewissen Grad zumindest. Lange waren Brahmanen, die Angehörigen der obersten Kaste, überrepräsentiert. Dalits, die früher als „Unberührbare“ bezeichnet wurden und ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, haben es hingegen noch immer schwer, sich in dem Sport einen Platz zu erobern. „Bis heute haben lediglich vier Dalits in der Nationalmannschaft gespielt“, sagt der Journalist Pradeep Magazine. Im Juni 2023 schnitten Cricketspieler aus den oberen Kasten einem Dalit einen Finger ab, weil sein Neffe ihren Cricketball berührt hatte.5
Die Kolonialverwaltung beförderte die Segregation der indischen Gesellschaft auch beim Cricket, indem sie „die Spieler in ethnische und religiöse Gruppe einteilte, die sich zum Teil schon im öffentlichen Leben als Antagonisten gegenüberstanden. Auf dem Cricketplatz lernten Spieler und Publikum, in Abgrenzung zu den Europäern, sich als Hindus, Parsen und Muslime zu identifizieren“, analysiert Appadurai.
Symbol dieser Teile-und-herrsche-Strategie war das Bombay Quadrangular Tournament. Hier traten alljährlich Mannschaften aus Parsen, Hindus, Muslimen und Europäern gegeneinander an – unter dem missbilligenden Blick von Mahatma Gandhi. Als Verfechter des religiösen Pluralismus und eines unabhängigen Indiens verurteilte er das Turnier wegen der „stillschweigenden Unterstützung für den muslimischen Separatismus, der später in die Gründung Pakistans mündete“, schreibt Sporthistoriker Wagg.
76 Jahre nach der Ermordung Gandhis erfreut sich Cricket in dem bevölkerungsreichsten Land der Welt mit 1,4 Milliarden Einwohnern nicht nur einer immensen Beliebtheit. Es bietet auch in einer ethnisch, kulturell und sprachlich stark fragmentierten Nation „eine seltene Form von Zusammenhalt und Einheit, die die Menschen begeistert und verbindet“, befindet der Wirtschaftswissenschaftler Mohit Anand.6
Doch das Verbindende wird von der regierenden hinduistischen Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premier Narendra Modi immer häufiger hintertrieben. Seit seinem Amtsantritt 2014 betreibt Modi eine umfassende Diskriminierungspolitik gegen die 175 Millionen Muslime im Land, knapp 15 Prozent der indischen Bevölkerung. Er will sein Land mit allen Mitteln hinduisieren und hat sogar erwogen, das Blau der Cricket-Nationalmannschaft durch Safrangelb zu ersetzen, die Farbe des Hinduismus.
Muslimische Cricketfans werden auf Schritt und Tritt von den Behörden überwacht. 2017 wurden 19 von ihnen angeklagt, „Zwietracht in der Gemeinschaft“ zu säen, ein Delikt, das als Aufwiegelung bewertet und mit lebenslanger Haft bestraft werden kann. Ihr Verbrechen war, dass sie sich über den Sieg Pakistans über Indien bei der vom ICC organisierten Champions Trophy gefreut hatten.7 „Kein Gesetz verbietet, Pakistan zu unterstützen. Das hält die Polizei aber nicht auf“, sagt der frühere Geschäftsführer der indischen Sektion von Amnesty International, Aakar Patel.
Den Einfluss der Regierungspartei BJP auf den BCCI hat die in Bangaluru ansässige Journalistin Sharda Ugra dokumentiert: Generalsekretär des BCCI ist Jay Shah,8 der Sohn von Innenminister Ahmit Shah, von 2014 bis 2020 Parteivorsitzender der BJP war und ein enger Vertrauter Modis. Jay und Ahmit Shah leiteten den Cricketverband von Gujarat, als Modi Regierungschef dieses Bundesstaats war.
Und damit nicht genug: Der 2022 gewählte Schatzmeister des BCCI, Ashish Shelar, ist auch Vorsitzender der Mumbaier BJP. Nach seiner Wahl auf den prestigeträchtigen Posten bedankte sich Shelar öffentlich beim indischen Premier und seinem Innenminister.9 „Die Unterstützung des Staatsapparats ist unerlässlich“, räumt der ehemalige Spitzenspieler und einstige BCCI-Funktionär Saba Karim ein. Ohne sie wäre es aufgrund bürokratischer Hindernisse fast unmöglich, Spiele zu organisieren.
Cricket kann jedoch auch als Gesprächskanal zwischen Feinden dienen. In den 1960er und 1970er Jahren brachen Indien und Pakistan ihre diplomatischen Beziehungen ab und führten zweimal Krieg gegeneinander. Nach zwei Jahrzehnten fast ununterbrochenen Konflikts erleichterte es 1978 eine Reihe sportlicher Begegnungen, den Dialog wiederaufzunehmen. Die „Cricket-Diplomatie“ war geboren.
„Jedes Mal, wenn die bilateralen Beziehungen zwischen Indien und Pakistan wieder angespannt wurden, kam Cricket zu Hilfe“, sagt der Historiker und Journalist Boria Majumdar.10 Im Jahr 1987, als Islamabad und Neu-Delhi kurz vor einem weiteren Krieg um Kaschmir standen, entschärfte der pakistanische Präsident Zia-ul-Haq die Krise, indem er sich selbst zu einem Cricketspiel in Jaipur im indischen Bundesstaat Rajasthan einlud.
Bei fremdenfeindlichen Teilen der indischen Bevölkerung stieß die Cricket-Diplomatie jedoch auf erbitterten Widerstand. Als Anfang 1999 die pakistanische Nationalmannschaft auf Einladung des BCCI ihre erste Indienreise nach zwölf Jahren unternahm, griffen Aktivsten der ultranationalistischen Shiv-Sena-Partei die pakistanische Botschaft in Neu-Delhi an. Außerdem gruben sie das Spielfeld des dortigen Feroz-Shah-Kotla-Stadion um, um den Auftritt der pakistanischen Mannschaft zu verhindern.
Das Spiel musste von der Hauptstadt nach Chennai verlegt werden und statt drei Begegnungen zwischen Indien und Pakistan gab es nur zwei. Obwohl als Friedensinstrument gedacht, führte Cricket also mitunter auch zu Gewalt.
Doch nicht immer. Als am 1. Oktober 2001 ein tödlicher Terroranschlag auf die Regionalversammlung von Jammu und Kaschmir in Srinagar verübt wurde, gaben die indischen Behörden kaschmirischen Islamisten die Schuld. Indien und Pakistan standen kurz vor einer nuklearen Konfrontation, die durch diplomatische Bemühungen auf beiden Seiten noch abgewendet werden konnte.
In dieser extrem angespannten Atmosphäre kam der Vorschlag des BCCI, die indische Cricketauswahl 2004 für Spiele nach Pakistan reisen zu lassen, wie gerufen.11 Der indische Premierminister Atal Vajpayee stimmte dem Vorschlag zu, und die pakistanische Regierung zeigte ihren guten Willen, indem sie tausenden indischen Fans Visa ausstellte.
2005 besuchten Indiens Premier Manmohan Singh und Pakistans Präsident Pervez Musharraf gemeinsam ein Cricketspiel in Neu-Delhi. Der Besuch wurde zu einem bilateralen Treffen; beide Politiker sprachen von „herzlichen“ Gesprächen. Doch am 22. November 2008 wurde Mumbai zum Ziel blutiger Attentate. Die islamistischen Kommandos hatten den Tag nicht zufällig gewählt. Am Abend fand das Match Indien gegen England statt, und das ganze Land, einschließlich der Polizeikräfte, starrte gebannt auf die Bildschirme.
Nach dem Anschlag verschärften sich die Spannungen zwischen den beiden Ländern erneut: Indien machte Pakistan für das Blutbad verantwortlich, Pakistan wies jede Schuld von sich. Bis dann Cricket ein weiteres Mal die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz aufzeigte, als Indien und Pakistan 2011 im WM-Halbfinale aufeinandertrafen. Erneut lud Premier Singh seinen pakistanischen Amtskollegen ein, gemeinsam das Spiel anzuschauen. Pakistans Premier Yusuf Raza Gilani akzeptierte. Nach dem Spiel bekräftigten beide, den indisch-pakistanischen Konflikt im Dialog lösen zu wollen.
Doch seit die BJP an der Macht ist, „ist die Cricket-Diplomatie tot“, meint die Journalistin Sharda Ugra. Und der Politikwissenschaftler Avispu Halder stellt fest, dass der Lieblingssport des Subkontinents zu einem „Projekt des aggressiven Nationalismus und einer Arena für machtpolitische Inszenierungen“ geworden sei.12
Der Cricket World Cup wird vom Cricket-Weltverband ICC veranstaltet, die teilnehmenden Länder müssen sich an dessen Vorgaben halten. Die Regierung Modi kann also nicht verhindern, dass Indien und Pakistan in diesen Turnieren aufeinandertreffen. Aber sie hat über die BCCI ein Veto gegen Freundschaftsspiele zwischen Indien und Pakistan eingelegt.
Der Asia Cup 2023 sollte eigentlich in Pakistan stattfinden, doch Jay Shah, der Vorsitzende des BCCI, verkündete, dass die indische Mannschaft nicht nach Pakistan reisen würde. Shah sitzt auch dem Asiatischen Cricket-Verband (ACC) vor, der den Asia Cup organisiert. Nach einigem Hin und Her wurde Sri Lanka zum Co-Gastgeber gemacht, wo dann sämtliche Spiele der indischen Mannschaft stattfanden.
Das Ende der Cricket-Diplomatie
Der Präsident des pakistanischen Cricketverbands wollte die explosive Atmosphäre entschärfen und lud einen indischen Freund ein, mit ihm zusammen ein Asia-Cup-Spiel zwischen Indien und Pakistan in Sri Lankas Hauptstadt Colombo zu sehen. Dieser Freund war Arun Singh Dhumal, Vorsitzender der Indian Premier League (IPL), Ex-Schatzmeister des BCCI und Bruder des indischen Sportministers. „15 Minuten nach Spielbeginn bekam er die Order aus Neu-Delhi, das Stadion zu verlassen“, erzählt Sharda Ugra.
Dhumal kennt das politische und diplomatische Gewicht der IPL und des BCCI – und ihrer vollen Kassen: Etwa 715 Millionen, das sind 93 Prozent der insgesamt 766 Millionen Zuschauer:innen indischer Sportsendungen, sahen sich im Jahr 2018 Cricketspiele an.
„Dieses Fernsehpublikum – das größer ist als die Bevölkerung aller übrigen Mitgliedsländer des ICC zusammen – ist der Hauptgrund für die enorme finanzielle Stärke des BCCI“, schreibt Sharda Ugra. Der BCCI ist der reichste und einflussreichste Cricketverband der Welt. „Reicher als der Weltverband“, wie Mohit Anand betont, „Schätzungen gehen davon aus, dass 70 Prozent der weltweiten Cricketeinnahmen auf dem indischen Markt generiert werden.“
Mit diesen enormen Ressourcen im Rücken lässt der BCCI immer wieder seine Muskeln spielen. Als der pakistanische Cricketverband (PCB) 2021 eine Profiliga in Asad Kaschmir gründen wollte, forderte der BCCI vom Weltverband ICC, diese nicht anzuerkennen. Das von Pakistan kontrollierte Gebiet wird auch von Indien beansprucht.
Dem Antrag wurde nicht stattgegeben, woraufhin der BCCI einigen Spielern, die in der geplanten Kaschmir-Liga spielen wollten, androhte, sie in Zukunft nicht mehr in Indien spielen zu lassen. Der einflussreiche Sportjournalist Vijay Lokapally rechtfertigt das Vorgehen und argumentierte, Kaschmir sei eine Konfliktzone. „Indien sagt: Pakistan besetzt dieses Gebiet, es ist unser Land.“ Die Indian Premier League müsse ihr Image schützen, deshalb verbietet sie ihren Spielern, in einer anderen Liga zu spielen, egal ob in Kaschmir oder anderswo. „Das ist die Kehrseite von Vorteilen, die es nirgendwo sonst gibt, etwa das Recht auf eine Rente“, so Lokapally.
In Islamabad nahm man die Warnung ernst. Bei einer Anhörung vor dem pakistanischen Senat sprach der Vorsitzende des PCB, Ramiz Raja, von der finanziellen Abhängigkeit des Cricketsports im Allgemeinen und des pakistanischen Crickets im Besonderen von Indien: „Die Hälfte unserer Mittel kommt vom ICC. Wenn der indische Premier morgen entscheidet, dass keine Gelder mehr nach Pakistan gehen dürfen, kann der pakistanische Cricketverband einpacken.“13
Als verlängerter Arm des indischen Staats agiert der BCCI auch im Hinblick auf China. Das Land ist nicht nur ein enger Verbündeter Pakistans, sondern ebenfalls seit über 60 Jahren in einen Grenzkonflikt mit Indien verwickelt. In der von China besetzten Hochlandregion Aksai Chin im westlichen Teil des Ladakh (die 2019 vom indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir abgetrennt wurde) kam es 2020 zu einem Zusammenstoß zwischen chinesischen und indischen Truppen, bei dem 20 indische Soldaten ums Leben kamen.14
Als Reaktion auf das Scharmützel forderte der BCCI die Indian Premier League dazu auf, den Vertrag mit ihrem Hauptsponsor, dem chinesischen Mobiltelefonhersteller Vivo, zu kündigen. Die IPL kam der Aufforderung nach. Neuer Hauptsponsor wurde der zu 100 Prozent indische Mischkonzern Tata.
Der Bruch mit Vivo verpuffte allerdings ohne jede Wirkung auf die indisch-chinesischen Streitigkeiten. Die Abkehr von der Cricket-Diplomatie zugunsten einer Hau-drauf-Politik scheint nichts zu bringen. Trotz der finanziellen Hypermacht des BCCI weigert sich Pakistan weiterhin, Indien auch nur einen Fingerbreit von Asad Kaschmir abzutreten, und China knabbert weiter am Territorium seines Nachbarn.
Zwischen all diesen deprimierenden geopolitischen Ereignissen kann Cricket manchmal dennoch einen Funken Hoffnung versprühen. So am 7. November 2023, als im Wankhede-Stadion in Mumbai Australien gegen Afghanistan spielte. Jedes Mal, wenn ein Batterden Ball über die Spielfeldbegrenzung schlug, schossen an jeder Ecke des Spielfelds Wasserfontänen in die Höhe und die Fans beider Seiten spendeten tosenden Applaus.
Die Teilnahme Afghanistans an einer Weltmeisterschaft war an und für sich schon ein Wunder. Die Spieler dieses durch die Einmischung der USA und durch den Fundamentalismus der Taliban völlig zugrunde gerichteten Landes haben in Flüchtlingslagern in Pakistan Cricket spielen gelernt. Ihnen ist es zu verdanken, dass die indischen Medien endlich einmal Positives über dieses vom Krieg gezeichnete Land berichten. „Sie sind mutig und spielen sehr gut“, sagt Sharda Ugra und strahlt.
10 „La diplomatie du Cricket œuvre à nouveau entre l’Inde et le Pakistan“, Le Monde, 28. März 2011.
13 Zitiert nach Anand, siehe Anmerkung 6.
14 Vaiju Naravane, „Konfrontation im Himalaja“, LMd, Oktober 2020.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
David Garcia ist Journalist.
How to play
von David Garcia
Im Cricket treten zwei Mannschaften zu je 11 Spielern gegeneinander an, die abwechselnd angreifen und verteidigen. Ein Bowler (Werfer) zielt auf eines der Wickets, die an den beiden Enden des Pitch, einer rechteckigen Fläche in der Mitte des Spielfelds, aufgestellt sind.
Ein Wicket ist eine Konstruktion aus drei senkrecht in die Erde gesteckten Holzstäben (Stumps), auf denen zwei Querstäbe (Bails) aufliegen. Vor dem Wicket steht ein Batter (Schlagmann) und versucht, den vom Bowler geworfenen Ball mit einem Schläger wegzuschlagen, möglichst über die Begrenzung des Spielfelds hinaus. Hat der Batter den Ball nicht getroffen, hat der Wicketkeeper, der hinter ihm steht, noch die Möglichkeit, ihn abzufangen.
Nachdem der Batter den Ball weggeschlagen hat, läuft er ans andere Ende des Pitchs und tauscht die Position mit seinem dort platzierten Partner, der zurückrennt. Ziel ist es, so viele Hin-und-her-Läufe wie möglich zu schaffen, bevor der nächste Ball geworfen wird. Jeder Lauf bringt einen Punkt (Run). Wird ein Ball vom Batter über die Spielfeldbegrenzung geschlagen, gibt es sechs Runs, rollt er über die Begrenzung, vier.
Sind die Wurfserien (Overs) beendet (50 Serien à 6 Bälle beim One-Day-Format) oder hat die Bowler-Mannschaft zehn Batters ausgespielt (Dismissal), wechseln die Mannschaften ihre Rollen. Ein Batter scheidet aus, wenn ein Wicket umgeworfen, sprich: zerstört wurde oder ein Bowler den Ball im Flug fängt. Die Mannschaft mit den meisten Runs gewinnt das Spiel.
Lukratives Geschäft
von David Garcia
Cricket stand nicht immer mit der jeweils regierenden Partei in Verbindung. Doch seit den 1990er Jahren und vor allem nach der Gründung der Indian Premier League (IPL) 2008 nimmt diese Tendenz zu, beobachtet der Abgeordnete der Kongresspartei, Jurist und Schriftsteller Shashi Tharoor.
Mit der Einführung der IPL, der lukrativsten Cricketliga weltweit, schnellten die Einschaltquoten in die Höhe. Der nationale Cricket-Dachverband (BCCI) verdiente große Summen durch die Vergabe von Fernsehrechten. Infolge der wirtschaftlichen Liberalisierung seit den 1990er Jahren stiegen die Einnahmen immer mehr. Mittlerweile macht Cricket über 85 Prozent der Einnahmen aus, die von der indischen Sportindustrie erwirtschaftet werden.
Nach Berechnungen des Wirtschaftswissenschaftlers Mohit Anand ist die IPL – was den Wert pro Spiel angeht – die zweitwertvollste Liga der Welt, nach der US-amerikanischen National Football League. „Mit einem Gesamtwert von 15,1 Millionen US-Dollar pro Spiel liegt sie vor der englischen Premier League (11,23 Millionen Dollar zwischen 2022 und 2025) und der Major League Baseball in den USA (9,57 Dollar nach einer Schätzung von 2020).“