Es heißt Femizid
Wie Frauenmorde verharmlost werden
von Laurène Daycard
Am 1. August 2003 starb die französische Schauspielerin Marie Trintignant infolge eines Schädel-Hirn-Traumas. Sie wurde von ihrem Lebensgefährten Bertrand Cantat erschlagen. Liest man heute die damaligen Schlagzeilen – „Fehltritt aus Leidenschaft“ (Rock & Folk) oder „Sie liebten sich bis zum Wahnsinn“ (Paris Match) –, wird deutlich, wie sehr sich die mediale Darstellung männlicher Gewalt gegen Frauen in den letzten 20 Jahren verändert hat.
Während die meisten Journalisten damals die notorische Gewalttätigkeit des Rockstars Cantat gar nicht erst erwähnten, walzten sie Trintignants Liebesleben reißerisch aus – als sei sie selbst dafür verantwortlich gewesen, dass Cantat ein brutaler Schläger war.
Beim Gedenken an das Verbrechen im Sommer 2023, eine Generation später, gestanden einige Medien ihre Schuld ein: „Damals war von Verbrechen aus Leidenschaft und Eifersucht die Rede, als wollte man damit das Drama rechtfertigen“, hieß es etwa in den Nachrichten von France 2. Und die Tageszeitung Ouest-France bezeichnete das Verbrechen als „Femizid, der nicht so genannt wurde“.
Es hat lange gedauert, bis sich der Begriff Femizid in Frankreich durchgesetzt hat. Dabei existiert das Wort im Französischen schon seit Jahrhunderten. Eine erste schriftliche Erwähnung fanden die beiden Historiker Lydie Bodiou und Frédéric Chauvaud in der Paul Scarron zugeschriebenen Komödie „Les trois Dorotées, ou Jodelet souffleté“ (Die drei Dorothees oder Der geohrfeigte Jodelet), die 1646 in dem Pariser Theater l’Hôtel de Bourgogne uraufgeführt wurde.1 Gleich in der ersten Szene sagt der Diener Jodelet zu Don Félix, die Absicht seine Frau umzubringen, sei ihm von den Augen abzulesen: „Là vos yeux travaillant a faire femmicide.“ Laut Bodiou und Chauvaud ist davon auszugehen, dass das Publikum das Wort „femmicide“ kannte.
Die heutige Bedeutung des Begriffs geht in Frankreich auf die Journalistin und Suffragette Hubertine Auclert (1848–1914) zurück. Sie bezeichnete sich selbst als „Feministin“ – und ihr ist es zu verdanken, dass das bis dahin ausschließlich verächtlich gebrauchte, negativ konnotierte Wort positiv umgedeutet wurde.
In einem Artikel in der Tageszeitung Le Radical vom November 1902 trat sie für das Recht auf Scheidung ein und schrieb über das damals gültige Familienrecht: „Wenn dieses femizide Gesetz abgeschafft ist, werden Mann und Frau in der Ehe gleiche und freie Partner sein. Mit der Scheidung durch den Willen nur eines Ehepartners müssen wir keine Angst mehr um die Frau haben.“
Danach verschwand das Wort in der Versenkung und tauchte erst 70 Jahre später in der nächsten Welle der Frauenbewegung wieder auf. Während die Suffragetten für das Frauenwahlrecht gekämpft hatten, stritten die Feministinnen der 1960er Jahre vor allem für sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Abtreibung („mein Bauch gehört mir“). In den 1970er Jahren entstanden weltweit auch die ersten Frauenhäuser für die Opfer gewalttätiger Partner.
Zum Meilenstein in der Wahrnehmung von Femiziden aber wurde das erste Internationale Tribunal über Verbrechen an Frauen (International Tribunal on Crimes against Women), das vom 4. bis 8. März 1976 in Brüssel stattfand, mit etwa 2000 Teilnehmerinnen aus aus insgesamt 40 Ländern. Männer waren nicht zugelassen.
Die Veranstaltung war jedoch nicht als eine juristische Institution gedacht, erklärt die junge Historikerin Milène Le Goff, die für die Université des Femmes in Brüssel im März 2023 eine Ausstellung über das Tribunal kuratiert hat. Am ehesten könne man es mit dem Russell-Tribunal von 1966 vergleichen, das ebenfalls eine Initiative ohne staatlichen Auftrag, aber von herausragender gesellschaftlicher Bedeutung war: Unter der Leitung der Philosophen Bertrand Russel und Jean-Paul Sartre untersuchten Wissenschaftler, Juristinnen und Schriftsteller aus 18 Ländern systematisch die Kriegsverbrechen, die seit 1954 im Vietnamkrieg von den USA begangen worden waren.
Auf dem Brüsseler Tribunal zehn Jahre später ging es um Sexualverbrechen, die zweifache Unterdrückung weiblicher Migrantinnen und weitere Themen, die die feministische Agenda der folgenden Jahrzehnte prägen sollten. Simone de Beauvoir feierte das Tribunal als ersten Schritt zu einer „radikalen Entkolonialisierung der Frauen“ und sandte eine ermutigende Grußbotschaft nach Brüssel: „Sprecht miteinander, sprecht mit der Welt, richtet das Licht auf die schändlichen Wahrheiten, die die Hälfte der Menschheit zu verbergen sucht.“
Das taten die Frauen, und was sie einander in jenen Tagen in Brüssel erzählten, zeigte vor allem eines: „Das Kontinuum sexueller Gewalt“.2 Die Diskussion über den Femizid am letzten Tag der Konferenz wurde zum Höhepunkt der Veranstaltung3 , als die Initiatorin des Tribunals, die Soziologin Diana Russell (1938–2020), einen Vortrag über den juristischen Umgang mit Morden in der Ehe hielt.
1992 gab Russell gemeinsam mit der britischen Aktivistin Jill Radford den wissenschaftlichen Sammelband „Femicide: The Politics of Woman Killing“4 heraus. Es war die erste theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff Femizid, den Russell in ihrem Vorwort wie folgt definiert: „Es ist der Mord an einer Frau, weil sie eine Frau ist.“
In dem Beitrag „Sexist Terrorism against Women“, den Russell zusammen mit der Historikerin Jane Caputi für den Sammelband verfasst hat, erstellen die beiden eine Liste des misogynen Terrors, an dessen „extremem Ende“ der Femizid steht: verbaler und körperlicher Missbrauch, Vergewaltigung, Folter, sexuelle Sklaverei, inzestuöser oder außerfamiliärer sexueller Missbrauch von Kindern, körperliche und seelische Grausamkeit, sexuelle Belästigung (am Telefon, auf der Straße, im Büro, im Klassenzimmer), Genitalverstümmelung (von der Entfernung der Klitoris und inneren Schamlippen bis zur Infibulation, das heißt, dem fast kompletten Verschließen des Scheidenvorhofs), unnötige gynäkologische Operationen, erzwungene Heterosexualität, Zwangssterilisation, erzwungene Mutterschaft (durch die Kriminalisierung von Verhütung und Abtreibung), Psychochirurgie, Aushungern, kosmetische Operationen und andere Eingriffe im Namen der Verschönerung: „Wann immer diese Formen des Terrors zum Tode führen, werden sie zum Femizid.“
Damit haben Russell und Radford eine Femizid-Definition vorgelegt, die über die Gewalt in der Ehe hinaus alle Formen misogyner Gewalt benennt, die aus gesellschaftlich bedingten und nicht natürlichen Ursachen zum vorzeitigen Tod von Frauen führen.
Vor allem in Mittelamerika stieß der Sammelband von Radford und Russell auf große Resonanz. Anfang der 1990er Jahre wurde Ciudad Juárez, die mexikanische Grenzstadt zu Texas, Schauplatz massenhafter tödlicher Übergriffe gegen Frauen. Die meisten Opfer hatten für Billiglöhne in den sogenannten maquiladoras gearbeitet, jenen Montagebetrieben im Grenzgebiet, die für den US-Markt produzieren. Über die Morde kursierten immer neue Gerüchte. Es handele sich um Organhandel. Um Kartelle. Um Satanisten.
„Viele Frauen wurden zum letzten Mal lebend gesehen, als sie an einer Bushaltestelle standen und ein Auto durch die Umgebung kurvte. Die Anordnung ihrer Schuhe und Körper provozierte alle möglichen Fantasien, in denen sie fetischisiert und zu Wesen gemacht wurden, die nach Belieben missbraucht werden können“, schrieb der legendäre mexikanische Schriftsteller-Reporter Sergio González Rodríguez (1950–2017) in seiner Crónica „Huesos en el desierto“ (Knochen in der Wüste), die 2002 bei Anagrama in Barcelona erschien.
Seit 1993 führen Vereine wie Nuestras hijas de regreso a casa (Unsere Töchter zurück nach Hause) ein Register der Toten. „Damals sprach man in Mexiko nicht von Femiziden“, erinnert sich Julia Estela Monárrez Fragoso, Soziologin am Colegio de la Frontera Norte in ihrer Geburtsstadt Juárez. 1998 gründete sie an ihrer Universität eine Forschungsgruppe zu den Mordstatistiken. „Seit 1993 wurden 2526 Fälle in der Datenbank registriert“, berichtete sie im August 2023.
Anhand ihrer Analysen erstellte sie eine Typologie. Sie unterscheidet zwischen dem „intimen Femizid“ (innerfamiliäre Morde und Gattenmorde) und dem „systemischen sexuellen Femizid“, der in diesem Fall vorlag: „Viele Opfer waren unter 17 Jahre alt, hatten dunkle Haut, lebten in Slums. Ihre Körper wiesen Spuren von Folter und sexueller Verstümmelung auf.“ Eine solche mörderische Tat dient nicht nur dazu, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, es geht darum, ihn zu schänden, zu erniedrigen. Die Kriminalistik spricht von „Übertötungen“.
In einem ihrer Artikel schreibt Monárrez Fragoso: „Nicht allein der biologische Körper der Frau wird ermordet, sondern auch das, wofür ihr Körper als kulturelle Konstruktion steht.“7 Und sie verweist auf die „Femizide in stigmatisierten Berufen“, wozu sie die Morde an Kellnerinnen, Sexarbeiterinnen oder Masseusen zählt: „Sie werden zur Norm des ‚Weiblichen‘, es sind ‚schlechte‘ Frauen, die verrufene Räume besetzen“, erklärt die Soziologin die Sichtweise der Täter.
Auch in Costa Rica entstand damals eine Datenbank zu Femiziden. Sie wurde von den beiden Universitätsprofessorinnen Montserrat Sagot und Ana Carcedo entwickelt. Die Anregung dazu kam aber nicht aus Mexiko – die beiden kannten die Arbeiten von Monárrez Fragoso da noch gar nicht. Tatsächlich hatte sie der Band von Radford und Russell auf die Idee gebracht. Damals habe es nichts Vergleichbares in Costa Rica gegeben, erinnert sich Sagot.6 Die Pionierarbeit forderte ihre Kreativität heraus.
Sie untersuchten die Morde, die zwischen 1990 und 1999 begangen worden waren, und überlegten sich Unterkategorien, bestimmte „Szenarien“, um intime und nicht intime Femizide zu unterscheiden, aber auch Fälle, bei denen die Opfer starben, „weil sie in die Schusslinie kamen, also versuchten, eine andere zu verteidigen – die Tochter, die Schwester, die Freundin, die Nachbarin.
Die costa-ricanischen Wissenschaftlerinnen haben den aus dem Englischen stammenden Begriff Femizid (femicide) beibehalten, ansonsten hat sich in der spanischsprachigen Welt Feminizid(feminicidio) durchgesetzt, der in den 1990er Jahren durch die mexikanische Wissenschaftlerin und Politikerin Marcela Lagarde y de los Ríos populär wurde. In UN-Publikationen werden beide Begriffe gleichberechtigt verwendet, Femizid und Feminizid.
Auch bei Lagarde war der Anstoß der Band „Femicide: the politics of woman killing“, auf den die Ethnologin bei einer Feldforschung in Ciudad Juárez stieß: „Dieses Buch hat mir sehr geholfen, weil ich dadurch begriffen habe, dass es sich um geschlechtsspezifische Verbrechen handelt, die an die Machtstrukturen anschließen, in denen Frauen Männern unterworfen sind“, erklärt sie. Die ursprüngliche Definition erweiterte sie um einen zusätzlichen Aspekt: die Straflosigkeit, mit der die Täter rechnen können. Damit wies sie auf die Verantwortung des Staats hin, der sich durch Nichtstun mitschuldig mache.
Im November 2012 organisierte das UN-Büro in Wien das erste internationale Symposium zur Bekämpfung von Femiziden, zu dem auch Diana Russell eingeladen wurde.7 In Wien wurde ein Aktionsplan beschlossen; zudem wurden elf verschiedene Formen von Femizid kategorisiert, vom Intim-Femizid, über den nicht intimen Femizid und den insbesondere in Indien verbreiteten Mitgiftmord bis hin zum Femizid „im Namen der Ehre“: Das heißt, eine Frau wird beschuldigt, durch Ehebruch, unehelichen Sex oder gar Schwangerschaft gegen traditionelle Moralgesetze verstoßen zu haben – was im Übrigen auch der Fall sein kann, wenn sie vergewaltigt wurde.
Laut der Weltgesundheitsbehörde (WHO) werden weltweit mehr als 35 Prozent aller ermordeten Frauen von ihrem Partner getötet. Bei den Männern sind es 5 Prozent, die durch Partner:innen sterben.
In Frankreich tauchte der Begriff Femizid um 2010 wieder auf. Er wurde zunächst aber nicht auf Verbrechen im eigenen Land angewandt, sondern lediglich auf „Fälle im Ausland, vor allem in Lateinamerika, aber auch in Asien“, erklärt die Informatik- und Kommunikationswissenschaftlerin Giuseppina Sapio, die als Mediatorin in Fällen häuslicher Gewalt arbeitet.
Im Juli 2011 erregte der Mord an den beiden französischen Studentinnen Cassandre Bouvier und Houria Moumni in Argentinien die Gemüter. Sie waren auf einer Wanderung, als sie entführt, vergewaltigt und ermordet wurden. Cassandres Vater, Jean-Michel Bouvier, stellte sich an die Spitze einer Medienkampagne zur Anerkennung des Femizids. Am 5. Oktober 2011 veröffentlichte die Tageszeitung Le Monde einen Text von Bouvier, in dem er schrieb: „Die Aufnahme des Verbrechens des Femizids in das Strafgesetzbuch meines Landes ist fortan der Gral meiner alten Tage.“
2014 folgte die Kampagne „Reconnaissons le féminicide“ des Vereins Osez le féminisme (Feminismus wagen, OLF) für die Aufnahme des Begriffs ins Strafgesetzbuch. Die Initiative traf zwar nur auf ein geringes Echo, doch das Thema war nun gesetzt. Ein Jahr später wurde das Wort „Féminicide“ in das große französische Wörterbuch „Robert“ aufgenommen. Danach tauchte es immer öfter in den Schlagzeilen auf: „2017 haben wir rund einhundert Artikel gefunden, 2022 waren es mehr als 3200“, erzählt Sapio, die für diese quantitative Medienrecherche mit dem Frauenkollektiv #NousToutes („Wir alle“) zusammengearbeitet hat.
Zur Verbreitung des Begriffs trugen maßgeblich die sozialen Netze bei. In den 2010er Jahren rückten mehrere Hashtags den Kampf gegen sexistische und sexualisierte Gewalt in den Vordergrund der politischen Debatten. #MeToo, der bekannteste Hashtag, kam aus den USA. Aus der lateinamerikanischen feministischen Bewegung verbreitete sich #NiUnaMenos (Nicht eine weniger) über Spanien auch in Europa. Dieser Aufruf stammt aus einem Vers von Susana Chávez, einer mexikanischen Dichterin und feministischen Aktivistin, die 2011 in Ciudad Juárez von Mitgliedern einer Bande ermordet wurde. Sie warein sogenanntes Zufallsopfer; die Täter wussten nichts von ihrem Engagement.
In Chile machte das Kollektiv Las Tesis im November 2019 mit einer Performance auf die Straflosigkeit von Vergewaltigern und gewalttätigen Polizisten aufmerksam. Ihre Texte sind vor allem von den Schriften der brasilianisch-argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato inspiriert.10 In einem Video, das viral ging, stehen die Frauen mit verbundenen Augen auf einem Platz, bewegen sich rhythmisch stampfend und skandieren ihre Anklage patriarchaler Gewalt mit dem Refrain „El violador eres tu“ (Der Vergewaltiger bist du) mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger.8
Diese Protestperformance wurde bald von jungen Frauen überall auf der Welt aufgeführt, in Lateinamerika und Spanien, aber auch in Paris, London und Berlin. Anonyme Aktivistinnen führen seit 2016 eine Femizid-Statistik für Frankreich auf Facebook.
Der Begriff hat sich im öffentlichen Sprachgebrauch längst etabliert; doch in offiziellen Texten wird er nur dann in Statistiken und im Strafrecht benutzt, wenn es um Gewalt in der Ehe/Partnerschaft geht. Seit 2006 veröffentlicht die französische Regierung Ministerialberichte über Todesfälle durch Partnerschaftsgewalt, demnach wurden seither mindestens 2346 Frauen in Beziehungskontexten getötet.
Die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern in dieser Verbrechenskategorie ist gewaltig: Fast 85 Prozent der Opfer sind Frauen, 85 Prozent der Täter sind Männer.
Protestperformance gegen Vergewaltiger
Auf Anregung der Politikerin Marlène Schiappa (Renaissance) organisierte die französische Regierung Konsultationen zum Thema eheliche Gewalt, die am 25. November 2019 abgeschlossen wurden. In der Folge wurden diverse Präventionsmaßnahmen gegen Femizide in der Ehe in den Blick genommen. So erhielten Kommissariate und Polizeidienststellen eine detaillierte Anleitung, um die Gefahr tödlicher Gewalt einschätzen zu können. Der automatische Entzug von Feuerwaffen erfolgt – zumindest theoretisch9 – in jedem Fall, sobald die erste Anzeige erfolgt ist.
Fiona Lazaar, damals Abgeordnete der Macron-Partei im Parlament, gab einen Bericht in Auftrag, der die Möglichkeit untersuchen sollte, einen speziellen Straftatbestand zu etablieren. Sie gelangte dann aber zu dem Schluss, dass es sinnvoller sei, die institutionelle Verwendung des Begriffs Femizid zu fördern. Es war das zweite Mal, dass sich die Nationalversammlung mit dieser Frage befasst hat.
Eine erste Studie, die weniger Aufsehen erregte, hatte 2016 die sozialistische Abgeordnete Catherine Coutelle, damals Vorsitzende der Delegation für Frauenrechte und Chancengleichheit, initiiert. Ihre Schlussfolgerung war dieselbe: Es sei besser, den Begriff Femizid nicht ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, weil der französische Gesetzgeber das Prinzip der erschwerenden Umstände vorziehe.
Seit der Überarbeitung des Strafgesetzbuchs 1994 droht Ehepartnern oder Lebensgefährten, die ihren Partner oder ihre Partnerin töten, lebenslange Haft. 2006 wurde die Anwendung auf Ex-Partner erweitert. Erschwerende Umstände im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Opfers wurden mit dem Gesetz vom 27. Januar 2017 für all jene Verbrechen und Straftaten eingeführt, bei denen das Opfer wegen seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung oder seiner tatsächlichen oder vermuteten Geschlechtsidentität angegriffen wird. Das kann auch nicht intime Femizide einschließen.
In den letzten Jahren förderte das Justizministerium weitere Präventionsmaßnahmen. Der Gesetzgeber will den Prozess der Trennung erleichtern oder sicherer machen: mit einem Gefahrentelefon, das sofort einen Polizeieinsatz auslöst, und einem Anti-Annäherungs-Armband.
Im Juli 2010 wurde ein Gesetz verabschiedet, wodurch ein gewalttätiger Partner leichter aus der gemeinsamen Wohnung verwiesen werden kann. Zusätzlich wurde die sogenannte Schutzverfügung (ordonnance de protection) eingeführt, die es Richtern erlaubt, mit sofortiger Wirkung Annäherungs- und Kontaktverbote zu verhängen. Diese Maßnahmen können bereits im frühen Stadium eines Verfahrens und ohne vorherige Verurteilung des Täters angeordnet werden.
Obwohl derartige Maßnahmen 2021 zehnmal so häufig verhängt wurden wie noch 2010, hinkt Frankreich im europäischen Vergleich mit knapp 6000 Anordnungen hinterher; in Spanien wurde dieser besondere Schutz im gleichen Zeitraum in 40 000 Fällen angeordnet und in Großbritannien in 25 000.10
Das hat in vielen Fällen damit zu tun, dass in Frankreich die dafür zuständigen Familiengerichte immer noch stark auf das traditionelle Familienmodell setzen. Die Soziologin Solenne Jouanneau hat die Hintergründe untersucht und festgestellt, dass die Familienrichter fast 40 Prozent dieser ohnehin seltenen Anträge abgelehnt haben – mit der Begründung, dass es ihnen widerstrebe, die Elternrechte gewalttätiger Väter sofort zu beschränken und damit das Modell der gemeinsamen Elternschaft infrage zu stellen.
Über die „gewaltsamen Tode innerhalb der Beziehung“ hinaus lassen sich die Umstände anderer Morde an Frauen, vor allem jene „außerhalb des familiären Kontextes“ (121 Fälle 2022, also 44 Prozent der Morde an Frauen) anhand von Statistiken und Polizeiangaben nicht näher bestimmen.12
Um diesen Mangel auszugleichen, organisiert die „InterOrga des Féminicides“ seit Januar 2023 eine allgemeine Zählung auf der Grundlage von Presseberichten und Informationen durch Basisorganisationen wie Parapluie Rouge (Roter Regenschirm), die sich für die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern einsetzt, Acceptess-T für Trans-Personen und Les Dévalideuses für Menschen mit Behinderung.
Man sucht auch nach „erzwungenen Selbstmorden“ (der Begriff ist juristisch anerkannt, da ein versuchter Femizid in der juristischen Einschätzung oft auf „Körperverletzung“ reduziert wird). Für das Jahr 2023 wurden 134 Fälle verzeichnet. Doch die Dunkelziffer ist weit höher – was Giuseppina Sapio, die sich eine Zeit lang mit dieser neuen Zählung beschäftigt hat, nur bestätigen kann: „Die meisten Fälle bleiben ungeklärt.“
3 Christelle Taraud, „Féminicides. Une histoire mondiale“, Paris (La Découverte) 2022.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Laurène Daycard ist Journalistin und Autorin von „Nos Absentes. À l’origine des féminicides“, Paris (Points) 2024.
Mord oder Totschlag?
Limburg, Ende April 2019: Ein Auto rast auf eine Frau zu, erfasst sie und schleift sie 30 Meter weit mit. Dann hält es an, ein Mann steigt aus, holt aus dem Kofferraum eine Axt und zertrümmert der Frau den Schädel. Der Täter ist nicht irgendein Unbekannter, es ist der Noch-Ehemann der Frau. Er ertrug nicht, dass sie nicht mehr mit ihm leben wollte. Die grausamen Bilder, aufgenommen mit einer Handykamera, verstörten selbst erfahrene Polizeibeamte. Vor der Öffentlichkeit sprachen sie von einer „Beziehungstat“.
Aber dieser und unzählige andere Fälle von Gewalt gegen Frauen sind keine Familientragödien, Liebes- oder Eifersuchtsdramen, es sind Femizide, Morde und Mordversuche an Frauen, weil sie Frauen sind. In Deutschland wird fast jeden zweiten Tag eine Frau Opfer eines Femizids, in Österreich werden monatlich durchschnittlich drei Frauen von Partnern oder Ex-Partnern ermordet, in der Schweiz geschieht das alle zwei Wochen. Allein im Februar 2024 wurden in Österreich innerhalb von vier Tagen sechs Frauen Opfer männlicher Gewalt mit Todesfolge.
Dass im deutschsprachigen Raum in solchen Fällen von Femiziden gesprochen wird, ist noch nicht sehr lange so. Erst seit die Istanbul-Konvention mit der Maßgabe, Gewalt gegen Frauen einzudämmen, 2011 verabschiedet und 2018 in Deutschland ratifiziert wurde, ist Femizid ein fester Begriff geworden.
In der Schweiz ist bis heute meist von „häuslicher Gewalt“ die Rede, wenn es um ein Tötungsdelikt innerhalb der Partnerschaft geht. Der Begriff kommt weder im Schweizer Strafgesetzbuch noch im offiziellen politischen Sprachgebrauch vor. Seit dem Schweizer Frauenstreik 2019 bezeichnen feministische Kreise und linke Medien einen Mord an einer Frau verstärkt als Femizid und fordern, den Begriff ins Strafgesetzbuch aufzunehmen.
Auch im deutschen Strafrecht ist Femizid kein eigener Straftatbestand, sondern wird als Mord oder Totschlag geahndet. Die Frage, ob es sich bei der Absicht, die Frau zu töten, um Mord oder „nur“ um Totschlag handelt, ist juristisch noch nicht endgültig beantwortet. Der Unterschied liegt im Strafmaß: Das Gesetz schreibt bei Mord eine lebenslange Haftstrafe vor, bei Totschlag sind es fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe. Feministische Organisationen kämpfen seit Jahren darum, dass Femizid ausdrücklich im Strafrecht verankert wird.
Durch das seit 2002 geltende Gewaltschutzgesetz haben Opfer von Partnerschaftsgewalt mehr zivilrechtlichen Schutz. So kann der Täter nach einem polizeilich festgehaltenen Gewaltakt zeitweilig der gemeinsamen Wohnung verwiesen werden. Auch kann der Frau nach einer Trennung in seltenen Fällen die gemeinsame Wohnung allein überlassen werden. Seit 2016 ist Stalking, das wiederholte Verfolgen, Nachstellen und Überwachen von Personen, ein eigener Straftatbestand und kann mit Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden.
In der Polizeiausbildung gehören Maßnahmen zum Schutz vor Partnerschaftsgewalt sowie bei Einsätzen, in denen häusliche Gewalt eine Rolle spielt, seit vielen Jahren regulär zum Curriculum. In größeren Polizeirevieren gibt es Beamtinnen und Beamte, die eigens für Fälle von häuslicher Gewalt zuständig sind.
⇥Simone Schmollack