Europas rechte Zeitgeister
von Maurice Stierl
Vor dem EU-Ratsgebäude in Brüssel steht eine Skulptur, die den Gründungsmythos der Europäischen Union darstellen soll: Europa auf dem Stier. Als der griechische Göttervater Zeus sich in die phönizische Prinzessin Europa verliebte, verwandelte er sich in einen Stier und entführte sie übers Meer nach Kreta.
Der antike Mythos, der auch im Wasserzeichen von Euroscheinen abgebildet ist, wird sehr unterschiedlich gedeutet. Eine der gängigsten Interpretationen sieht in ihm ein Narrativ des Übergangs: vom Zeitalter des Nationalismus und Faschismus hin zur europäischen Vereinigung. Für den Politikwissenschaftler Ian Manners ist die Reise der Prinzessin nach Kreta eine Metapher dafür, dass „das Europa des Nationalismus stirbt und ein postnationales Europa geboren wird“.
Wie die jüngsten politischen Entwicklungen zeigen, war es wohl verfrüht, den Nationalismus in Europa für tot zu erklären. Überall in der Europäischen Union sind rechte Kräfte auf dem Vormarsch. Deren Ruf nach einem Europa der „starken“ und „souveränen“ Staaten, die ihre jeweiligen nationalen Grenzen nach außen sichern, hat sich längst in die politische Mitte verlagert und gefährdet die Gründungsidee eines postnationalen Europas.
Eines der klarsten Anzeichen für diesen politischen Rechtsruck ist der Beschluss der deutschen Bundesregierung vom 9. September, an der 3700 Kilometer langen Landesgrenze wieder strenge Kontrollen einzuführen – zunächst für sechs Monate. Dies ist eine Reaktion auf die Messerattacke von Solingen, bei der ein syrischer Asylsuchender drei Menschen tötete und mehrere weitere verletzte. Der Anschlag „erschüttert uns zutiefst“, erklärte Innenministerin Nancy Faeser und kündigte „harte Maßnahmen“ der Regierung an.
Gesagt, getan: In den letzten Wochen hat die Berliner Koalition hektisch eine „harte Maßnahme“ nach der anderen verkündet. Geflüchteten, für deren Asylverfahren nach dem Dublin-Prinzip andere EU-Staaten zuständig sind, sollen die meisten Sozialleistungen gestrichen werden. Straffällig gewordene Flüchtlinge sollen gewisse Schutzrechte verlieren und leichter abgeschoben werden können. Insgesamt soll es mehr und schnellere Abschiebungen geben.
Mit der Stationierung von Polizeikräften an den deutschen Grenzen will die Regierung nach innen Handlungsfähigkeit demonstrieren und denjenigen, die sich derzeit auf der Flucht befinden, signalisieren: Deutschland wird nicht eure Heimat werden.
Die Angst vor einem Kontrollverlust an den deutschen Grenzen mag verwundern, denn die in Deutschland gestellten Asylanträge sind im laufenden Jahr gegenüber 2023 um mehr als 20 Prozent zurückgegangen.1 Doch beim Thema Migration ist schon lange klar, dass das Gefühl von Krise nicht unbedingt mit einer hohen Anzahl an Ankünften von Asylsuchenden korrespondieren muss. Die in Kanada lehrende Geografin Alison Mountz hat es mal so formuliert: „Migrationskrisen sind ein Dauerthema, weil mit Krisen Politik gemacht wird.“2
Seit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, die der ehemalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland als „Geschenk“ für seine Partei bezeichnete, instrumentalisiert die AfD das Migrationsthema gekonnt: Migranten als Übel aller sozialen Probleme, die „reine Nation“ als Lösung. Durch die fortwährende Inszenierung eines angeblichen Notstands hat die AfD es geschafft, der deutschen Migrationsdebatte Ton und Richtung vorzugeben und Parteien der Mitte vor sich herzutreiben.
Sowohl ihre jüngsten Wahlerfolge in Thüringen, Sachsen und Brandenburg (siehe den Beitrag auf Seite 15) als auch die Tatsache, dass die politischen Parteien der Mitte nun die AfD-Agenda umsetzen, zeigen, dass das Thema Migration für die rechtsextreme Partei tatsächlich ein „Geschenk“ ist, von dem sie tagtäglich profitiert.
Das Migrationsspektakel, das sich derzeit in Deutschland abspielt, wird in ganz Europa genau beobachtet. Was im bevölkerungsreichsten Land und Gründungsmitglied der EU passiert, strahlt auf die gesamte Union aus. Seit Berlin die Ausweitung der Grenzkontrollen ankündigt hat, haben einige der neun direkten Nachbarländer Deutschlands ernste Bedenken geäußert. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nannte das Vorgehen Deutschlands „inakzeptabel“. Österreich hat bereits klargestellt, dass es Migrant*innen, die an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden, nicht wieder aufnehmen werde.
Doch am lautstärksten äußerte sich Europas politische Rechte. In den Niederlanden reagierte Geert Wilders, Vorsitzender der migrationsfeindlichen Partei für die Freiheit (PVV), auf die Ankündigung der deutschen Grenzkontrollen mit der rhetorischen Frage: „Wenn Deutschland das kann, warum nicht auch wir?“ Schon am 18. September teilte die niederländische Migrationsministerin Marjolein Faber (PVV) der Europäischen Kommission mit, ihre Regierung werde sich in Sachen Migration nicht mehr an EU-Beschlüsse halten: „Wir müssen die Zuständigkeit für unsere eigene Asylpolitik zurückgewinnen!“
In Ungarn bejubelte Viktor Orbán den niederländischen Beschluss und twitterte: „Eine mutige Regierung! Wo kann Ungarn unterschreiben?“ Zuvor hatte der autoritäre Regierungschef die deutsche Bundesregierung anlässlich der Verkündung von Grenzkontrollen demonstrativ gelobt und seinem Berliner Amtskollegen über X schadenfroh zugerufen: „Bundeskanzler Scholz, willkommen im Klub.“
In Italien wurde der Kurswechsel der deutschen Regierung von Wanda Ferro, Staatssekretärin im Innenministerium und Mitglied der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, begrüßt: Bei Grenz- und Migrationsfragen folge Deutschland jetzt „der Linie der italienischen Regierung“.
Der Beitritt Deutschlands zum rechten Antimigrationsklub ist eine bedeutsame politische Entwicklung – und könnte womöglich der Anfang vom Ende der Europäischen Union sein, wie wir sie kennen. Das Land, das in der Vergangenheit eine treibende Kraft der europäischen Integration war, könnte mit seinem Schwenk Richtung Abschottung Nachahmer finden. Der tschechische Innenminister Vít Rakušan hat bereits die Befürchtung geäußert, dass ein solcher Dominoeffekt eine zentrale Errungenschaft des europäischen Projekts gefährden würde: die Bewegungsfreiheit innerhalb des Schengenraums. Aktuell führen bereits acht EU-Staaten nationale Grenzkontrollen durch.
Die sukzessive Abschaffung der Binnengrenzen mit dem Ziel, „ganz Europa zu einem gemeinsamen Raum zu machen“, wie es sich der französische Präsident François Mitterand nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ausmalte, ist für die postnationale Selbsterzählung Europas von zentraler Bedeutung.
Als der Friedensnobelpreis 2012 an die Europäische Union verliehen wurde, betonte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, das europäische Projekt sei „mehr als ein Verbund von Staaten“. Seine Hauptmerkmale seien vielmehr die geteilte Souveränität und „die Abschaffung der Binnengrenzen“, was zu einer „immer engeren Union“ führen werde.
In seiner Rede vom 10. Dezember 2012 erklärte Barroso ausdrücklich, das Europäische Projekt habe gezeigt, dass Menschen und Nationen „über Grenzen hinweg“ zueinander finden können, „dass es möglich ist, die Unterschiede zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ zu überwinden“.
Heute scheint die postnationale Idee Europas zu verblassen, was allerdings nicht bedeutet, dass das europäische Projekt als solches zerbricht. Anders als in der Vergangenheit, als Europas rechte Kräfte den Austritt aus der Union zu ihrer zentralen Forderung machten, sind die Rufe nach einem „Frexit“, einem „Dexit“ oder einem „Nexit“ in den letzten Jahren mehr oder weniger verstummt, nicht zuletzt angesichts des „Brexit“-Desasters in Großbritannien.
Die AfD-Chefin Alice Weidel, die Ende September zur Kanzlerkandidatin erklärt wurde, hat im Juli 2023 die „Dexit“-Sehnsucht, die ihrer Partei seit deren Gründung in die DNA eingeschrieben war, aktiv und explizit eingedämmt. Sie machte klar, dass die „Deutschland zuerst“-Parole mit der Forderung gekoppelt werden könne, „die Festung Europa zum Schutz unserer Heimat“ aufzubauen, und zwar „gemeinsam mit unseren europäischen Partnern“. Und der Faschist Björn Höcke, der die AfD am 1. September zum Wahlsieg in Thüringen geführt hat, erklärte damals mit rhetorischen Anleihen an die NS-Zeit: „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.“
Der Rechten in Europa geht es heute nicht darum, das europäische Projekt zu zerstören, sondern es zu erobern und grundlegend neu zu gestalten. Als Jordan Bardella, Vorsitzender des französischen Rassemblement National (RN), gefragt wurde, warum seine Partei nicht mehr den Austritt Frankreichs aus der EU fordere, entgegnete er: „Man verlässt doch nicht den Spieltisch, wenn man am Gewinnen ist.“
Wie im Fall Deutschland ist auch in Frankreich die Tatsache, dass der RN der Regierung die Migrationspolitik diktiert, das klarste Anzeichen dafür, dass die extreme Rechte „das Spiel gewinnt“. Tatsächlich hat die neue Regierung Barnier gleich nach ihrem Amtsantritt Anfang September eine Neufassung der EU-Asyl- und Migrationspolitik und des Schengen-Abkommens angekündigt. Innenminister Bruno Retailleau erklärte: „Wir können ein Bündnis mit anderen Ländern bilden, die eine härtere Gangart bei der Einwanderung wollen.“
Die Rechtsparteien haben mittlerweile verstanden, dass die EU kein Hindernis für die Verwirklichung ihrer Visionen sein muss. Vielmehr kann die Union, entsprechend umgestaltet, zu ihrem Vehikel werden. Für die Rechten ist es kein Widerspruch mehr, zugleich nach starken nationalen Grenzen und einer paneuropäischen „Lösung“ für die Migrationsfrage zu rufen.
In der ganzen EU setzt sich die politische Rechte für ein neues „Europa der Nationen“ ein und prangert das „alte Europa“ der supranationalen Institutionen an, dem sie vorwerfen, beim „Schutz“ der gemeinsamen Außengrenzen versagt zu haben. Bei ihren Attacken gegen Brüssel übersehen diese Rechtskräfte geflissentlich, dass die EU, was die Abschottung nach außen betrifft, keineswegs untätig gewesen ist.
Vielmehr hat die Union, angeführt von der Europäischen Kommission, in den letzten zehn Jahren eine beispiellose Militarisierung ihrer Außengrenzen betrieben. Vor allem hat sie die Grenzschutzagentur Frontex aufgerüstet und eine Reihe von Abkommen mit autoritären Regimen geschlossen, die verhindern sollen, dass Flüchtende europäische Küsten erreichen.
Und im Mai dieses Jahres hat sie sich auf eine Reform des europäischen Asylsystems geeinigt, von dem die meisten humanitären NGOs glauben, dass es „verheerende Folgen für das Recht auf internationalen Schutz“ haben wird. Die EU-Außengrenze ist heute die tödlichste Grenze der Welt. Doch das scheint der politischen Rechten nicht zu genügen.
Die Machtverhältnisse in Europa verschieben sich immer weiter. Jetzt, da auch Deutschland dem national-autoritären Zeitgeist in Sachen Migration und Grenzen nachgibt, stehen wir wohl am Anfang eines neuen Kapitels der Geschichte der Europäischen Union.
Die Idee eines postnationalen Europas verblasst. Dafür gibt es etwas Neues, was Europa von der extremen Rechten bis zur politischen Mitte eint: der kollektive Wille, Menschen abzuweisen, die in Europa Schutz suchen. In dieser neuen Einigkeit sehen wir die Anfänge eines Europas der Nationen.
1 „Asylanträge in Deutschland“, Bundeszentrale für politische Bildung, 13. September 2024.
Maurice Stierl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück.
© LMd, Berlin