10.10.2024

Libyen – die Clans und das Geld

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Libyen – die Clans und das Geld

Im August eskalierte der Streit zwischen den beiden mächtigsten Clans um die Kontrolle der Zentralbank, die die Milliarden aus dem Ölexport verwaltet. Die Machtbalance hat sich zugunsten der Haftars, der Herren des Ostens, verlagert. Die könnten sich ermutigt fühlen, die Regierung in Tripolis erneut herauszufordern.

von Wolfram Lacher

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An der Uferpromenade von Tripolis steht ein repräsentativer Bau aus der italienischen Kolonialzeit. Es ist der Sitz der Zentralbank, das Petrodollars pumpende Herz der libyschen Volkswirtschaft, um das sich alle Konfliktparteien reißen.

Wenn ich in Tripolis bin, komme ich meist hierher, um den Gouverneur der Zentralbank oder seine Berater zu treffen. So auch an einem heißen Tag im letzten Juni. Seit meinem letzten Besuch hatte sich die Rivalität zwischen den beiden bewaffneten Gruppen zugespitzt, die weiterhin ihren Territo­rial­anspruch mit Fahrzeugen vor dem Gebäude markierten: der „Apparat für Abschreckung“ (Jihaz al-Rada’) des langbärtigen Salafisten Abderrauf Kara und die „Behörde für den Schutz der Institutionen“ (Hay’at Amn al-Marafeq), die dem Lager eines ehemaligen Bäckers mit dem Spitznamen Ghanewa angehört.

An jenem Junitag fragte ich einen Berater des Gouverneurs, ob ihn die Präsenz zweier rivalisierender Gruppen nicht beunruhige. Er winkte lächelnd ab: Im Gegenteil, es sei gut, dass sich verschiedene Milizen die Waage hielten und um gute Beziehungen zur Zentralbank bemühten.

Zwei Monate später, am 26. August, taten sich diese beiden Gruppen zu einer besonderen Art des Banküberfalls zusammen: Sie brachen die Türen des Zentralbankgebäudes auf und verschafften einem neuen Gouverneur Zugang zu den eleganten Geschäftsräumen. Dass es sich um einen Usurpator handelte, war offensichtlich: Ernannt hatte ihn der eigentlich machtlose Präsidial­rat, in eklatanter Missachtung seiner eigenen Amtsbefugnisse. Der entmachtete Gouverneur Siddiq Kabir floh daraufhin zunächst über den Landweg nach Tunesien und von dort in die Türkei.

Zentralbankchef auf der Flucht

Eine Entmachtung Kabirs war bis dahin unvorstellbar gewesen. Denn der Gouverneur stand seit dem Sturz Gaddafis an der Spitze der Zentralbank. Er hatte unter Gaddafi Kar­rie­re in staats­eige­nen Banken gemacht, war aber 2011 frühzeitig auf die Seite der Revolutionäre gewechselt. Für viele war er sogar der eigentliche Machthaber in Tripolis.

Seit 2014 ein erneuter Bürgerkrieg die Institutionen Libyens entzweit hatte, war es stets Kabir gewesen, der bei der Verteilung der Staatsausgaben das letzte Wort behielt. Ob er eisern über die Devisenreserven wachte oder in dunkle finanzielle Machenschaften verwickelt war, darüber gingen die Meinungen auseinander; fest stand aber, dass er ein Meister im politischen Überleben war.1 Und so flossen die Gelder aus den Erdölexporten zunehmend an alle politischen Lager – zu den Staatsangestellten im ganzen Land, die über zwei Drittel der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter ausmachen. Und auch an den Kriegsherrn Chalifa Haftar im Osten, der eigentlich der international anerkannten Regierung in Tripolis feindlich gegenübersteht.

Versuche, Kabir abzusetzen, hatte es schon viele gegeben. Jahrelang hatte Haftar, wann immer er sich mit westlichen Diplomaten traf, den Kopf des Zentralbankchefs gefordert. Ka­birs politische Gegner hatten ihn erst als Funktionär des Gaddafi-Regimes und später als Muslimbruder diffamiert. „Alles nur, damit sie an das Geld in der Zentralbank kommen“, wie mir Kabir vor einigen Jahren in einem Interview sagte. Zum Verhängnis wurde ihm schließlich ein ehemaliger Verbündeter: der Premierminister in Tripolis, Abdulhamid Dabeiba, mit dem Kabir lange eng kooperiert hatte.

Seit Mitte 2023 hatte sich Kabir immer öfter mit Dabeibas Neffen Ibrahim angelegt – offiziell ein Berater des Premierministers, tatsächlich aber der eigentliche Strippenzieher der Regierung, der enge Beziehungen mit den bewaffneten Gruppen in Tripolis unterhielt. Ibrahim Dabeiba war aufgrund seiner Ambitionen und seines skrupellosen Umgangs mit staatlichen Geldern zwangsläufig in Konflikt mit Kabir geraten. Doch dass die Dabeibas so weit gehen würden, den Zentralbankchef mit Gewalt aus dem Amt zu drängen, schien bis zuletzt ausgeschlossen. ­Warum das so war, haben die seit­herigen Ereignisse gezeigt. Haftar, der

mittlerweile von Kabirs Zuwendungen profitierte, reagierte auf dessen Absetzung mit dem Stopp der Erdölproduktion – von der praktisch sämtliche Staats- und Exporteinnahmen abhängen.

Vor allem aber gelang es dem Usurpator von Kabirs Posten – einem Bankier namens Abdelfattah Ghaffar – nicht, Devisengeschäfte zu tätigen. Da half es auch nicht, dass Dabeiba-nahe Milizen renitente Zentralbankangestellte oder deren Familienmitglieder entführten, um sie gefügig zu machen. Denn internationale Banken, die durch den rechtlich fragwürdigen Wechsel in der Zentralbank verunsichert sind, ließen Zahlungsanweisungen aus Tripolis unbearbeitet. Damit konnten libysche Händler auch keine Importgeschäfte auf offiziellem Wege mehr tätigen.

Die versuchte Übernahme der Zentralbank hätte also eine dramatische Wirtschaftskrise verursachen können. Verhindert wurde das durch eine erstaunlich rasche Einigung auf die rechtmäßige Einsetzung eines neuen Gouverneurs: Seit dem 2. Oktober residiert Naji Issa, bis dahin ein enger Mitarbeiter Kabirs, an der Uferpromenade von Tripolis.

Diese Einigung hatte die UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL) ausgehandelt, offiziell vollzogen wurde sie zwischen den beiden parlamentarischen Kammern. Doch dass Issa überhaupt eine Chance hatte, das Amt des Gouverneurs zu übernehmen, verdankte er vor allem der Unterstützung des Milizenführers Ghanewa, der sich damit dem Willen der Dabeibas widersetzte.

Und so offenbart das Drama um die Zentralbank den ganzen Zynismus der führenden Protagonisten: ihr unverhohlenes Streben nach Geld und Macht; ihren rücksichtslosen Opportunismus, mit dem sie Allianzen schmieden und dabei einstige Bündnispartner verraten; ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen, die das alles für die libysche Bevölkerung hat.

Exemplarisch zeigt der Vorgang auch, wie überheblich Politiker vom Schlage Dabeibas ihre taktischen Spielchen betreiben, letztendlich dadurch aber den Kriegsherren zu noch größerem Einfluss verhelfen. Aber wie kommt es, dass die Dabeibas in ihrer Fehde mit Kabir sogar bereit waren, ihre eigene Regierung vom Zugang zu Devisen abzuschneiden – also die Gans zu töten, die goldene Eier für sie legt?

Um das zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurücktreten. Oberflächlich betrachtet scheinen die Konturen der Konflikte in Libyen klar: zwei konkurrierende Regierungen und Militärblöcke, die von zwei ausländischen Mächten – der Türkei und Russland – unterstützt werden. Die Militärpräsenz dieser beiden Staaten hat eine erneute Eskalation verhindert, seitdem west­libysche Kräfte mit Unterstützung der Türkei Mitte 2020 den Vormarsch von Haftars Milizen auf Tripolis zurückschlugen. Im März 2021 kam dann durch Vermittlung der Vereinten Nationen eine Einheitsregierung unter Dabeiba zustande.

Der UN-Plan, noch im selben Jahr Wahlen abzuhalten, scheiterte jedoch. Stattdessen verbündeten sich Dabeibas westlibysche Gegner – darunter der ehemalige Innenminister Fathi Bashagha – mit Haftar, dem Machthaber im Osten. Sie versuchten, Dabeiba abzulösen, indem sie eine neue Regierung bildeten. Doch Dabeiba übertrumpfte seine Konkurrenten im Wettbieten um die Loyalität der bewaffneten Gruppen in Tripolis. Seitdem gibt es eine Gegenregierung in Benghasi, zunächst unter Baschagha und seit Mai 2023 unter Osama Hammad, einem ostlibyschen Funktionär. Die Regierung in Benghasi fungiert seither als zivile Fassade für Haftars Herrschaft über den Osten und Süden des Landes.

Hinter diesen scheinbar klaren Trennlinien bestehen jedoch zahlreiche Arrangements zwischen den wichtigsten Protagonisten der Konflikte. Sie sind eine Folge der Konstellation, dass Haftar den Großteil der Ölfördergebiete kontrolliert, die Ölgelder aber über die National Oil Corporation (NOC) an die Zentralbank fließen – beide mit Sitz in Tripolis. Diese Monopolstellung von NOC und Zentralbank war die einzige rote Linie, die der Westen und die UNO über die gesamte Bürgerkriegsperiode verteidigen konnten – dank des US-amerikanischen und britischen Einflusses auf den weltweiten Ölhandel und der Kontrolle über die Dollar-Transaktionen.

Haftar konnte jedoch mittels wiederholter Unterbrechungen der Erdölproduktion eine Reihe von Kompromissen mit der Zentralbank, der NOC und der Regierung in Tripolis erzwingen. Der bisher größte Coup gelang ihm im Juli 2022, als sich Ibrahim Dabeiba und Haftars Sohn Saddam, der als besonders brutaler Warlord gilt, auf die Ernennung des Haftar-Loyalisten Farhat Bengdara zum NOC-Chef einigten.

Von da an liefen die Ölexporte ungestört. Die Dollar-Einnahmen flossen in die Zentralbank und weiter an die Regierung Dabeiba, die eng mit Zentralbankchef Kabir kooperierte. Haftar erhielt beträchtliche monatliche Zahlungen aus Tripolis; zugleich konnte sein Sohn Saddam seinen Einfluss auf die NOC nutzen, um den Schmuggel mit subventioniertem Treibstoff massiv auszuweiten. Währenddessen hielten sich die Haftars weiterhin ihre eigene Regierung im Osten des Landes, die Dabeibas Legitimität infrage stellte.

Eine Zeit lang sah es so aus, als wären alle maßgeblichen Akteure mit diesem Patt zufrieden. Sowohl die Haftars als auch ihre nominellen Gegner – die Milizenführer, die Dabeibas Überleben gesichert hatten – erbeuteten einen immer größeren Anteil an staatlichen Geldern und Ämtern.2 Ibrahim Dabeiba und die mit ihm verbündeten Kommandeure trafen nun regelmäßig Absprachen mit Haftars Söhnen über Gelder und Posten. Damit waren die westlibyschen Gegner der Dabeibas marginalisiert und die Zusammenstöße in Tripolis – früher an der Tagesordnung – wurden immer seltener.

So auch ist zu erklären, warum die libysche Politik seit Jahren kaum mehr für internationale Schlagzeilen sorgt. Während das erste Jahrzehnt nach Gaddafis Sturz von Turbulenzen und wiederholten Bürgerkriegen geprägt war, herrschten seit 2022 Stillstand und Hinterzimmerdeals vor. Die Plünderung staatlicher Gelder, die ständig für heiße Konflikte und dramatische Wendungen gesorgt hatte, vollzog sich seither im Stillen. Politik ist in Libyen heute nicht mehr eine öffentliche Angelegenheit, sondern ein unsichtbares Geschehen – mit Intrigen und Arrangements nur weniger Akteure.3

Zwischen den konkurrierenden Machtstrukturen in Ost und West gibt es erhebliche Unterschiede: Haftars brutaler Despotismus einerseits, Dabeibas geschicktes Jonglieren mit konkurrierenden Milizen andererseits. Aber es gibt auch auffällige Parallelen, etwa die Vetternwirtschaft. Haftars „Libysch-Arabische Streitkräfte“ sind ein Familienunternehmen, in dem Haftars Söhne und Verwandte führende Positionen besetzen und ihre militärische Macht nutzen, um sich durch kriminelle Geschäfte zu bereichern – allen voran der jüngste Sohn Saddam.4

Die Dabeibas spielen sich ebenfalls als Herrscherfamilie auf. Es ist kein Zufall, dass nicht der Premierminister, sondern sein Neffe Ibrahim die maßgebliche Persönlichkeit in Tripolis ist. Ihren heutigen Einfluss verdankt die Familie Dabeiba dem Aufstieg von Ibrahims Vater unter der Gaddafi-Herrschaft. Ali Dabeiba – Cousin und Schwager des jetzigen Premierministers – wurde unter Gaddafi als Chef einer staatlichen Behörde für Infrastrukturprojekte steinreich. Seine Söhne und Verwandten besitzen ein Imperium von Offshore-Konten, Unternehmen und Immobilien im Ausland.5

Heute ist Ibrahim das politische Haupt der Familie, doch auch viele Vettern und Schwager haben Posten in Botschaften oder staatlichen Banken. Unternehmer in Tripolis klagen ständig, dass man mit staatlichen Institutionen nur ins Geschäft komme, wenn man die Gunst Ibrahim Dabeibas genießt.

Die beiden Herrscherfamilien ähneln sich auch in ihrem unersättlichen Appetit bei der Plünderung der Staatskassen. Allerdings agieren Haftar und seine Söhne wesentlich dreister als die Dabeibas, die noch die Interessen anderer Akteure in Tripolis zu berücksichtigen haben. Das sind vor allem die Interessen der Milizen – und bis vor kurzem auch die des Zentralbankchefs Siddiq Kabir.

Kabir hatte Premierminister Dabeiba nach seinem Amtsantritt 2021 so großzügigen Zugang zu Geld eröffnet, wie ihn kein Premierminister seit der politischen Spaltung des Landes 2014 genossen hatte. Damit konnte sich der Regierungschef mit Gehaltserhöhungen und Geldgeschenken beliebt machen, etwa in Form von Darlehen für heiratswillige Paare.

Die Kooperation zwischen Ibrahim Dabeiba, ausgewählten Milizenführern in Tripolis und den Haftar-Söhnen musste Kabir allerdings zunehmend Sorgen machen. Im Juli 2023 hoben zwei mit Ibrahim verbündete Warlords einen neuen Chef einer Aufsichtsbehörde für die Staatsverwaltung ins Amt, wobei sie sich auf einen Entschluss des Rumpfparlaments im Osten beriefen.

„Damals bekam Siddiq (Kabir) Angst um seinen eigenen Posten“, sagte mir einer seiner Vertrauten. Denn diese Personalie sahen manche als Generalprobe für die Einsetzung eines neuen Zentralbankchefs. Tatsächlich wurde noch im selben Monat ein Versuch des aus dem Osten stammenden Ex-Finanzministers Faraj Bumtari vereitelt, sich in Tripolis für den Posten in Position zu bringen, wofür er offenbar Ibrahim Dabeibas und Saddam Haftars Unterstützung genoss. Der „Apparat für Abschreckung“, der den Flughafen in Tripolis kontrolliert, nahm Bumtari fest und schickte ihn nach Ostlibyen zurück.

Damit war Kabir gewarnt. Doch anstatt dem Drängen Ibrahim Dabeibas nachzugeben, der immer mehr Geld für seine Patronagenetzwerke verlangte, begann Kabir sich zu widersetzen. Um sich gegen die Intrigen in Tripolis zu wappnen, baute er eigene Allianzen im Osten auf. Dafür umwarb er den Präsidenten des in Bengasi tagenden Parlaments, Agila Saleh. Nur wenige Wochen nach dem Zwischenfall mit Bumtari erlangte Kabir ein Dekret von Saleh, das ihn im Amt bestätigte.

Saleh hatte Kabir zuvor stets als illegitim bezeichnet. Für seine Kehrtwende konnte er von Kabir einen Preis verlangen: In dem Dekret wurde auch die Rolle von Kabirs Stellvertreter Marei Barassi bestätigt, der die Zentralbank im ostlibyschen Bengasi leitet – Letztere sieht sich je nach Bedarf als Zweigstelle von Tripolis oder als eigenständige Zentralbank, wohlgemerkt ohne Zugang zu den Devisen aus dem Ölexport. Auch Barassi hatte seinen Posten – wie schon NOC-Chef Bengdara – den Söhnen Haftars zu verdanken.

Salehs Dekret verpflichtete Kabir und seinen Stellvertreter außerdem zu gedeihlicher Zusammenarbeit, was den Transfer von Bankguthaben, die bei der Zentralbank in Bengasi liegen, nach Tripolis betrifft. Dabei handelte es sich faktisch um die Schulden, die Haftars Regierung im Osten über Jahre hinweg angehäuft hatte. Indem Kabir half, immer mehr dieser fiktiven Guthaben in Bengasi in reale Aktiva in Tripolis umzuwandeln, eröffnete er Banken, die unter dem Einfluss der Haftars standen, den Zugang zu Devisen.

Nachdem sich Kabir so der Rückendeckung aus dem Osten versichert hatte, begann er im Herbst 2023, alle Ausgaben der Regierung in Tripolis mit Ausnahme von Gehältern und Subventionen zu blockieren. Er rechtfertigte diesen Schritt mit dem Argument, die für das Haushaltsjahr veranschlagten Mittel seien bereits aufgebraucht. Daraufhin soll der Gouverneur, wie mir damals aus Kabirs Umkreis zugetragen wurde, von zwei Milizenführern, die Ibrahim Dabeiba nahestehen, bedroht worden sein.

Um diese Zeit blieb Kabir über einen Monat lang in der Türkei, angeblich zur medizinischen Behandlung. Währenddessen verweigerte er der Regierung Dabeiba weiter Zahlungsgenehmigungen. Unter den Milizen der Hauptstadt bildeten sich konkurrierende Lager heraus, von denen eines Dabeiba unterstützte, während das andere in Kabir einen mächtigen Verbündeten sah. Spekulationen kamen auf, Kabir versuche die Regierung zu Fall zu bringen, indem er ihr den Geldhahn zudrehe.

In der Öffentlichkeit rechtfertigte Kabir seinen Sparkurs mit dem wachsenden Zahlungsbilanzdefizit, für das er vor allem den dramatischen Anstieg der Treibstoffimporte verantwortlich machte. Damit richtete er die Aufmerksamkeit auf eine der wichtigsten Finanzquellen des Haftar-Clans.

Weil Libyen nur über begrenzte Raffineriekapazitäten verfügt, muss es den Großteil seines Kraftstoffs importieren. Diesen kauft die NOC zu Weltmarktpreisen ein, doch an die libyschen Verbraucher verkauft sie ihn – über ihre Tochtergesellschaften – zu stark subventionierten Preisen. Damit kostet ein Liter Benzin umgerechnet nur knapp 3 Eurocent – weniger als Wasser. Dementsprechend groß sind die Gewinne, wenn subventionierter Treibstoff ins Ausland geschmuggelt wird.

Haftars Armee ist der größte Profiteur dieses Schmuggelhandels, der seit Juli 2022 noch stark zugenommen hat. Damals übernahm Haftars Kandidat Bengdara die Leitung der NOC und wechselte bald darauf die Führungsriege der Tochtergesellschaft aus, die für den Treibstoffvertrieb zuständig ist.6

Hinzu kommt, dass die NOC den Treibstoff im Tauschhandel gegen Rohöl importiert und diese Transaktionen für Außenstehende kaum überprüft werden können. Ein hoher Finanzbeamter bezeichnete diese Vorgehen mir gegenüber als „Blackbox“. Die Menge des importierten Treibstoffs stieg jedenfalls unter Bengdara stark an, und dementsprechend sanken die Exporterlöse, die von der NOC an die Zentralbank fließen.

Kabir prangerte diese Praktiken berechtigterweise an. Vermutlich aber nicht nur wegen ihrer verheerenden Folgen für die Staatsfinanzen. Er musste auch befürchten, dass seine zentrale Position untergraben wurde, denn der wachsende Treibstoffschmuggel war Teil der stillschweigenden Absprachen zwischen den Dabeibas und den Haftars – an der Zentralbank vorbei.

Dabeiba musste die Haftars gewähren lassen, damit das Öl weiter floss. Dieses Arrangement bildete nunmehr den Kern der libyschen Politik, ohne dass Kabir darauf Einfluss nehmen konnte. Der Zentralbankchef, der seit 2014 Alleinherrscher über die Finanzpolitik gewesen war, drohte die Kontrolle zu verlieren.

Während Dabeibas Regierung zunehmend in Zahlungsschwierigkeiten geriet, begannen die Haftars und ihre Regierung in Geld zu schwimmen. Nach der Flutkatastrophe in der östlichen Hafenstadt Darna im September 2023 hatte der Wiederaufbau zunächst monatelang auf Eis gelegen, denn die Regierung im Osten hatte keinen regulären Zugang zu den Mitteln der Zentralbank. Im Frühjahr 2024 aber tauchten plötzlich ägyptische Bauunternehmen in Darna auf und begannen großangelegte Projekte. Ihr Auftraggeber war ein Wiederaufbaufonds, der von Haftars Sohn Belgasem geleitet wurde – offiziell jedoch kein Geld von der Zentralbank erhielt.

Rasch boomte der Wiederaufbau auch in anderen Städten von Haftars Territorium. Brücken, Straßen und Wohngebäude wurden aus dem Boden gestampft. Zu den ägyptischen Unternehmen kamen bald türkische hinzu, denn die Haftars waren für die einst mit ihnen verfeindete Türkei auf einmal zu attraktiven Geschäftspartnern geworden. Neben Belgasem Haftars Fonds tritt auch eine neu gebildete „Nationale Entwicklungsagentur“ auf, die faktisch Belgasems Bruder Saddam untersteht. Nachdem die Haftars ein Jahrzehnt lang mit Zerstörung beschäftigt waren, profilierten sie sich nun als großzügige Bauherren.

Dabei mussten sie niemanden Rechenschaft darüber geben, wo ihr Geld herkam oder wie es verwendet wurde. Die Bevölkerung wurde zu den Vorhaben nicht befragt, oft nicht einmal informiert. Doch Unternehmer und Milizenführer aus Westlibyen, aber auch westliche Diplomaten, fuhren immer öfter in den Osten, um sich mit den Haftar-Söhnen zu treffen. Das Geld war nun in Bengasi und nicht mehr in Tripolis.

Bald machten Gerüchte die Runde, dass Kabirs Zentralbank die Bauprojekte der Haftars finanzierte. Kabir und seine Mitarbeiter bestritten das und sprachen von „parallelen Staatsausgaben unbekannter Herkunft“. In den Monatsberichten der Zentralbank stand nichts über Zahlungen für den Wiederaufbau. Erst im August, kurz bevor Kabir aus dem Amt gedrängt wurde, räumte die Zentralbank in Tripolis ein, dass sie der Zentralbank in Ben­gha­si einen Devisentausch im Wert von 950 Millionen Dollar für Bauprojekte gewährt hatte. Woher der Dinar-Gegenwert dieses Betrags stammte, blieb jedoch unklar.

Tatsächlich ermöglichte Kabir den Geldfluss in die Taschen der Haftars zumindest indirekt. Er sanierte die Banken im Osten, indem er ihnen Guthaben im Wert von etwa 50 Milliarden Dinar (etwa 9,4 Milliarden Euro) in Tripolis gutschrieb. Damit konnten die Regierung im Osten und die Fonds der Haftar-Söhne bei diesen Banken erneut Kredite aufnahmen und so neue Projekte finanzieren.

Auffällig war auch Kabirs lascher Umgang mit Falschgeld, das zur gleichen Zeit in Umlauf kam und offenbar von den Haftars gedruckt wurde. Die Zentralbank erklärte die betroffenen 50-Dinar-Noten zwar für gefälscht, gab den Banken aber monatelang Zeit, um sie aus dem Verkehr zu ziehen.

Der Zwist zwischen Kabir und Dabeiba eröffnete den Haftars also ungeahnten Zugriff auf staatliche Mittel. Ohnehin bezogen sie von der Regierung in Tripolis jeden Monat hunderte Millionen Dinar für Gehälter, um ihre Soldaten zu bezahlen. Sie nutzten ihren Einfluss auf die NOC, um im großen Stil Treibstoff zu schmuggeln; und im Juli 2024 machten sie sogar ein völlig unbekanntes Unternehmen namens ­Arkenu zum stillen Teilhaber an mehreren Ölfeldern der NOC-Tochter Agoco.7

Der Haftar-Clan schöpfte nunmehr also auch – mithilfe Kabirs und dank ihrer Kontrolle über die Banken im Osten – Dinare aus dem Nichts und verwandelten sie in harte Devisen. Ein ehemaliger enger Vertrauter Kabirs erzählte mir im vergangenen Juni: „Früher verhandelten die Haftars mit uns über eine Milliarde hier, ein paar hundert Millionen dort. Jetzt wollen sie nichts mehr; sie haben mehr, als sie brauchen.“

Das war die Lage, in der Ibrahim Dabeiba seinen Plan für die feindliche Übernahme der Zentralbank ausheckte. Um Kabir zu stürzen, brauchten die Dabeibas zunächst die Unterstützung der maßgeblichen Milizen der Hauptstadt. Schwierig war das vor allem im Fall des „Apparats für Abschreckung“ von Abderrauf Kara. Denn dessen Beziehungen zu anderen, besonders regierungsnahen Milizen waren seit Mitte 2023 zunehmend angespannt gewesen. Unerwartet gelang es den Dabeibas, die Gruppe für den Putsch gegen Kabir zu gewinnen – offenbar mit dem Versprechen, ihr zukünftig einen Platz im Aufsichtsrat der Zentralbank zu gewähren.

Ein Frontalangriff der Dabeibas auf die Zentralbank war jedoch riskant – zu offensichtlich wäre ihr Griff nach dem Geld, zu gefährlich die Folgen für die Regierung, sollte der Versuch scheitern. Stattdessen schickten die Dabeibas den Präsidialrat vor, ein dreiköpfiges Gremium mit vorwiegend symbolischer Funktion.

Bis dahin hatte der Präsidialrat versucht, allen Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Seine Intervention gegen die Zentralbank in Form mehrerer Dekrete kam höchst überraschend; zudem besaß er dafür keinerlei rechtliche Befugnis. Dass er dennoch das juristische Feigenblatt für den Coup der Dabeibas lieferte, erklären gut vernetzte Gesprächspartner in Tripolis damit, dass viel Geld an die Mitglieder des Präsi­dial­rats geflossen sei.

Darüber hinaus nahmen die Dabeibas von Beginn an offenbar in Kauf, dass der Sturz Kabirs eine Krise auslösen würde. Der vom Präsidialrat designierte Gouverneur Mohammed al-Shukri lehnte seine Ernennung zum Chef der Zentralbank ab, desgleichen mehrere andere Mitglieder des neu ernannten Aufsichtsrats. Sie waren offenbar nicht in die Umsturzpläne eingeweiht; vielmehr sollten ihre Namen nur als Deckmantel für die Berufung eines kommissarischen Gouverneurs dienen – des oben erwähnten Abdelfattah Ghaffar.

Finanzexperten hatten den Präsidialrat gewarnt, ein rechtlich dubioser Wechsel an der Spitze der Zentralbank könnte Libyens Zugang zum internationalen Zahlungsverkehr gefährden. Die Entscheidung, Kabir zu stürzen, war also in vollem Bewusstsein der erwartbaren Folgen getroffen worden.

Für die Dabeibas diente Kabirs Absetzung wohl in erster Linie dazu, eine Verhandlungsposition aufzubauen. Solange Kabir im Amt war, hatten Verhandlungen über die Ernennung eines neuen Gouverneurs wenig Aussicht auf Erfolg, da dieser seinen Einfluss noch nutzen konnte. Doch mit Kabirs Absetzung entstand dringender Bedarf für eine Verhandlungslösung, denn der fallende Wechselkurs des Dinars auf dem Schwarzmarkt war Vorbote einer tiefen Wirtschaftskrise. Weil diese Krise vorhersehbar war, brauchten die Dabeibas den Präsidialrat, um in den medialen Kontroversen über den Sturz Kabirs nicht als die Schuldigen dazustehen.

Kabirs Deal mit den Haftars

Es war ein waghalsiger Plan, denn die Dabeibas begaben sich damit in eine äußerst prekäre Lage. Für eine Verhandlungslösung brauchten sie das Einverständnis ihrer Gegner: Haftar, das Parlament im Osten und den Hohen Staatsrat in Tripolis – eine Art Oberhaus, in dem derzeit Dabeibas Rivalen den Ton angeben. Sie alle haben dank jahrelanger Erfahrungen gelernt, Krisen zu ihrem politischen und finanziellen Nutzen auszuschlachten, anstatt sie zu lösen. Sie hätten eine Lösung der Krise so lange hinauszögern können, bis Devisenknappheit und Teuerung auch die Milizenführer der Hauptstadt gegen die Dabeibas aufbringen würde.

Doch die Warlords bedurften gar keiner Krise, um den Dabeibas in den Rücken zu fallen. Überraschend schnell – am 26. September – einigten sich die Vertreter von Parlament und Staatsrat auf die Ernennung des Zentralbankkaders Naji Issa zum neuen Zentralbankchef; zudem bestätigten sie Marei Barassi als dessen Stellvertreter.

Möglich wurde der Deal, weil er nicht nur die Unterstützung der Haftar-Söhne, sondern auch der beiden wichtigsten Milizenführer in Tripolis hatte. Sowohl Kara als auch Ghanewa, der Dabeibas mächtigster Verbündeter in der Hauptstadt gewesen war, stellten die Dabeibas vor vollendete Tatsachen.

Weder die Dabeibas noch der Präsidialrat konnten sich einer so mächtigen Interessenkoalition widersetzen. Und so wurden Issa und Barassi am 2. Oktober bei ihrer Ankunft in Tripolis von einem Adjutanten Ghanewas empfangen. Osama Tleish, der Kommandeur der „Behörde für den Schutz der Institutionen“, geleitete sie zum Zen­tral­bank­gebäude an der Promenade. Ein hochsymbolischer Vorgang: Die Dabeibas hatten Kabir zu Fall gebracht, doch sein Nachfolger verdankt seine Ernennung nicht ihnen, sondern Ghanewa.

Die erzielte Einigung sieht außerdem vor, dass Gouverneur und Stellvertreter nur zusammen mit den anderen sieben Mitgliedern des Aufsichtsrats Entscheidungen treffen dürfen. Über dessen Zusammensetzung wird weiterhin intensiv verhandelt – offiziell zwischen Gouverneur, seinem Stellvertreter sowie dem Parlamentspräsidenten. Tatsächlich aber dürfte eine Verständigung so aussehen, dass maßgebliche Akteure ihre jeweiligen Vertreter in dieses Gremium entsenden: die beiden Herrscherfamilien, die käuflichen Parlamentarier und die wichtigsten Milizenführer der Hauptstadt.

Zweifellos wird kein unter diesen Bedingungen ernannter Gouverneur so selbstbewusst und eigensinnig agieren können, wie es Kabir 13 Jahre lang getan hat. Kabirs Abgang ist also nicht nur das Ende einer Ära. Seine Ablösung bedeutet, dass die Aufteilung der staatlichen Institutionen unter den konkurrierenden Kleptokraten nun auch in der Zentralbank, also im Herzen der libyschen Volkswirtschaft, vonstatten geht. Die Durchdringung des Staats von kriminellen Netzwerken und Gewaltakteuren ist vollendet.

Und die Europäer, der sogenannte Westen? Sie haben solche Arrangements immer unterstützt, sofern sie kurzfristige Stabilisierung versprachen, und zeigen sich angesichts der abgewendeten Krise erleichtert. Vor allem aber haben sie sich mit der Haftar-Familie im Osten und den Milizenführern mit Ministerrang im Westen arrangiert, um ihre Interessen zu verfolgen. Im Falle der EU-Länder ist das vor allem das Ziel, Migranten und Flüchtlinge an der Überfahrt nach Italien zu hindern – selbst wenn das bedeutet, dass sie unter schrecklichsten Bedingungen in Gefängnissen festgehalten, gefoltert und ausgebeutet werden.

Freilich haben die Europäer im Verlauf der Krise um die Zentralbank auch keinen großen Einfluss gehabt. Selbst hochrangige türkische Vertreter, deren Wort in Tripolis schwerer wiegt als das von EU-Ländern, hatten monatelang vergeblich versucht, zwischen Dabeiba und Kabir zu vermitteln. Und US-­Di­plo­ma­ten, deren Regierung mit dem Zugang zu Dollar-Transak­tio­nen den entscheidenden Hebel besitzt, haben den Moment des Zentralbanküberfalls Mitte August offenbar schlicht verschlafen.

Kurzfristige Arrangements zwischen Kriegsherren und Klepto­kraten können sich verstetigen; sie können aber auch die Kräfteverhältnisse mittelfristig verschieben. Die Haftars nutzen ihren immer größeren Reichtum ­unter anderem zur weiteren Aufrüstung. Die Machthaber im libyschen Osten machen Diplomaten gegenüber kein Geheimnis aus ihrer Absicht, Tripolis erneut anzugreifen. Die Krise um die Zentralbank hat den Haftars ebenfalls in die Hände gespielt. Am Ende sind sie, zusammen mit den Milizenführern der Hauptstadt, die eigentlichen Sieger.

Dagegen erscheint das politische Überleben ihrer Rivalen, der Dabeibas, zunehmend ungewiss. Das Drama um die Zentralbank könnte sich als Vorspiel für einen ernsthafteren Machtkonflikt herausstellen – oder als Epilog für die Machtkonsolidierung einer neuen Oligarchie.

1 Wolfram Lacher, „How Libya’s Central Bank Chief Survived a Decade of Conflict“, New Lines Magazine, 6. März 2023.

2 The Sentry, „Libya’s Kleptocratic Boom“, November 2023.

3 Wolfram Lacher, „Libya’s New Order“, Sidecar, Blog der New Left Review, 26. Januar 2023.

4 Tim Eaton, „The Libyan Arab Armed Forces: A Network Analysis of Haftar’s Military Alliance“, Chatham House, 2./7. Juni 2021.

5 Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), „Cyprus Records Shed Light on Libya's Hidden Millions“, 25. Juli 2018; „Libyans Who Looted Gaddafi’s Graft-Ridden Development Fund Banked at Credit ­Suisse“, 24. Februar 2022.

6 Matt Herbert, Rupert Horsley und Emadeddin Badi, „Illicit economies and peace and security in Libya“, Global Initiative against Transnational Organized Crime, 18. Juli 2023.

7 Aydin Calik, „New Libyan firm starts exporting crude“, Argus Media, 19. Juli 2024.

Wolfram Lacher arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und ist Mitherausgeber von „Violence and Social Transformation in Libya“, London (Hurst) 2023. Teile des obigen Artikels wurden am 16. August 2024 unter dem Titel „Libya’s Struggles Empower a Clan“ im New Lines Magazine veröffentlicht.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.10.2024, von Wolfram Lacher