12.09.2024

Das Unrecht der Besatzung

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Das Unrecht der Besatzung

Was der IGH zur israelischen Okkupation der palästinensischen Gebiete sagt

von Anne-Cécile Robert

Israelische Flaggen vor dem IGH-Gebäude in Den Haag LINA SELG/picture alliance/ANP
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Am 19. Juli legte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Gutachten über die rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik im West­jor­dan­land und in Ostjerusalem vor. Mit seiner „advisory opinion“, die im Dezember 2022 von der UN-Generalversammlung beantragt worden war, äußert sich das höchste UN-Gericht detailliert zu diversen Rechtsfragen, über die Israel und seine Verbündeten seit Langem mit den Befürwortern eines unabhängigen Palästinas streiten.

Die Fachwelt reagierte auf die Ausführungen des IGH mit Worten wie: „ein juristisches Erdbeben“ (Michel Sfard), „ein Gutachten, das in die Geschichte eingehen wird“ (Alonso Gurmendi), oder schlicht: „Ich bin sprachlos“ (Juliette McIntyre).1

Einleitend behandelt der Gerichtshof die Frage der Zuständigkeit und gibt einem Überblick über den historischen Zusammenhang und die bereits getroffenen internationalen Entscheidungen. In der Hauptfrage befindet der IGH (mit elf zu vier Stimmen), dass die Besetzung des Westjordanlands, Ostjerusalems und des Gazastreifens aufgrund ihrer Merkmale und ihrer Dauer illegal ist. Dabei werden die palästinensischen Gebiete als eine „einzige territoriale Einheit“ behandelt, deren Integrität geschützt werden müsse.

Obwohl sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, stellt dieser nach Ansicht des Gerichtshofs immer noch ein besetztes Gebiet dar, denn Israel sei weiterhin in der Lage, „bestimmte Schlüsselelemente von Herrschaft über den Gazastreifen auszuüben“, was auch weiterhin der Fall sei. Konkret erwähnt werden die Kon­trol­le der Land-, See- und Luftgrenzen, die Beschränkung des Personen- und Warenverkehrs, die Erhebung von Ein- und Ausfuhrsteuern und die militärischen Kontrolle über eine Pufferzone.2

Nach Meinung des Genfer Völkerrechtsanwalts Johann Soufi ist die wichtigste Konsequenz des Gutachtens, dass Israel sich nicht auf den Artikel 51 der UN-Charta berufen könne, der das Recht auf Selbstverteidigung zuerkennt. Denn laut Soufi „gilt dieses Recht nicht für besetzte Gebiete“3 .

Der IGH weist außerdem darauf hin, dass eine territoriale Besatzung grundsätzlich ein vorübergehender Zustand sei und dass es dafür Bedingungen gebe, die Israel nicht erfülle. Die palästinensischen Gebiete sind bereits 57 Jahre lang von Israel besetzt, das dabei seine Stellung als Besatzungsmacht fortwährend missbrauche.

Die Richter betonen, auch bei einer erheblichen Bedrohung der Sicherheit von Staat und Bevölkerung müssten die Maßnahmen zur Wahrung der Sicherheit stets den Prinzipien der Erforderlichkeit und der Angemessenheit entsprechen. Das heißt, dass sie die Genfer Konventionen und das Humanitäre Völkerrecht einhalten müssen, einschließlich der Konventionen, die zur Beachtung der Menschenrechte verpflichten und Regeln für den Einsatz von Streitkräften festlegen.

Der IGH stellt weiterhin fest, dass das Oslo-Abkommen die rechtlichen Verpflichtungen Israels keineswegs einschränke, wie man in Washington und in Tel Aviv immer wieder geltend machen will. Eine Besatzungsmacht sei prinzipiell und in jeder Hinsicht verpflichtet, ein besetztes Gebiet „im Interesse der ortsansässigen Bevölkerung zu verwalten“. Dem handle Israel zuwider, indem es die natürlichen Ressourcen in den palästinensischen Gebieten ausbeute und keinen „angemessenen Zugang“ der Palästinenser zu Nahrungsmitteln und Wasser gewährleiste.

Da Israel anhaltende „effektive Kon­trol­le“ über die besetzten Gebiete ausübe, verweigere es dem palästinensischen Volk das „unveräußerliche“ Recht auf Selbstbestimmung und auf freie Entwicklung seiner Wirtschaft, seiner Gesellschaft und seiner Kultur. Auch der Umstand, dass die Besatzung lange andauere, ändert laut IGH nichts am rechtlichen Status der Gebiete. Auf keinen Fall könne das zur „Übertragung der Souveränität auf die Besatzungsmacht führen“.

Auch die israelische Siedlungspolitik – einschließlich der Errichtung sogenannter Außenposten – wird als „unrechtmäßig“ qualifiziert. Und das in mehrfacher Hinsicht: Erstens widerspreche sie dem Verbot, die Zivilbevölkerung zwangsweise zu vertreiben oder umzusiedeln. Zu diesem Punkt stellt der IGH klar, dass ein Bevölkerungstransfer nicht nur mit physischer Gewalt erzwungen werden kann, sondern auch dadurch, dass man „den betroffenen Personen keine andere Wahl lässt, als zu gehen“.

Der zweite Punkt betrifft missbräuchliche Konfiskationen: „Die is­rae­li­sche Handlungsweise, insbesondere die Tatsache, dass Israel häufig Land beschlagnahmt, nachdem es palästinensisches Eigentum zerstört hat, um es israelischen Siedlungen zuzuweisen, zeigt, dass die Maßnahmen keinen vor­über­gehenden Charakter haben.“ Sie könnten deshalb nicht als zulässige Evakuierungen im Sinne der vierten Genfer Konvention angesehen werden.

Eine klare Aussage zum Thema Apartheid

Drittens, so der IGH, respektiere Is­rael die vor Ort geltenden Gesetze nicht und setze illegalerweise sein eigenes Rechtssystem durch. Viertens übe Is­rael ungerechtfertigte Gewalt gegen Palästinenser aus, indem es „systematisch versäumt, Anschläge, die israelische Siedler auf das Leben oder die körperliche Unversehrtheit von Palästinensern begehen, zu verhindern oder zu bestrafen“. Dies wie allgemein die exzessive Gewalt gegen Palästinenser sei unvereinbar mit den Verpflichtungen Israels als Besatzungsmacht.

Abschließend befand der Gerichtshof, die „Politik und die Praktiken“ Is­raels in den besetzten Gebieten, vor allem in Ostjerusalem und im West­jor­dan­land, seien darauf angelegt, unumkehrbare Fakten zu schaffen. Das aber käme einer Annektierung gleich, verstoße also gegen „das Verbot der Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen und dem sich daraus ergebenden Verbot der Aneignung von Territorium durch Gewalt“.

Laut IGH verletzt Israel zudem mehrere Menschenrechtskonventionen: „Die allgemeinen Einschränkungen, die den Palästinensern auferlegt werden, stellen eine systematische auf Rasse, Religion oder ethnischer Zu­gehö­rig­keit beruhende Diskriminierung dar.“ Dies bedeutet eine sehr klare Stellungnahme zu dem vieldiskutierten Apartheid-Vorwurf: Da Israel im West­jor­dan­land und in Ostjerusalem „eine fast vollständige Trennung zwischen Siedlern und Palästinensern“ durchsetze, verletze das Land Artikel 3 der UN-­Ras­sen­dis­kri­mi­nie­rungs­kon­ven­tion (ICERD), die Rassentrennung und Apartheid verurteilt. Die Unterzeichnerstaaten der Konvention (darunter Israel) sind verpflichtet, in den ihrer Rechtsprechung unterliegenden Gebieten derartige Praktiken zu verhindern.

Der Schlussteil des Gutachtens legt detailliert dar, welche konkreten Auswirkungen sich für die Kon­flikt­par­teien und für die internationale Gemeinschaft ergeben. Der IGH kommt zu dem Schluss, zuallererst müsse Israel „so schnell wie möglich“ seine Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten beenden, „unverzüglich“ jede neue Siedlungsaktivität einstellen, alle diskriminierenden Gesetze abschaffen und die Siedler aus den besetzten Gebieten evakuieren. Außerdem müsse Israel für die Schäden in den besetzten Gebieten „umfassend aufkommen“, also Land und Güter zurückgeben sowie Entschädigungen zahlen.

Das Prinzip der Restitution beinhaltet auch, dass alle während der Besatzung umgesiedelten Palästinenser an ihren ursprünglichen Wohnort zurückkehren können. Damit wird, jedenfalls für die seit 1967 Vertriebenen, ein Recht auf Rückkehr postuliert.

Schließlich werden die UN-Vollversammlung und der Sicherheitsrat aufgefordert, die Modalitäten zu definieren, „die erforderlich sind, um die widerrechtliche Präsenz Israels zu beenden“. Zugleich werden alle UN-Mitgliedstaaten „dazu angehalten“, Israels widerrechtliche Handlungen nicht als legal anzuerkennen. Insbesondere sollen sie bei Verhandlungen mit Israel zwischen dem israelischen Territorium und den seit 1967 besetzten Gebieten unterscheiden.

Die Rechtsgutachten des IGH sind rechtlich nicht bindend. Dennoch können sie faktische Situationen juristisch einordnen und irreführende Interpretationen entlarven. Sie können damit sowohl politische als auch juristische Argumente für die Debatte liefern.4

Alonso Gurmendi, Professor für internationale Beziehungen am King’s College in London, schrieb am 20. Juli auf der Onlineplattform X: „Man darf die Wirkung solch prominenter Erklärungen für die Entwicklung einer neuen internationalen Ordnung nicht unterschätzen, ganz besonders, wenn diese Ordnung gerade so grundlegende Veränderungen erfährt.“

Gurmendi erinnerte auch daran, dass die Klage Südafrikas gegen Is­rael vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermords noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. „Jetzt muss man sehen, wie man das derart definierte Recht nutzen kann, um Ak­tio­nen zu unterstützen, die bislang noch nicht versucht wurden.“

1 Alle Aussagen auf der Onlineplattform X (vom 20., 22. und 23. Juli 2024).

2 Da der IGH im Dezember 2022 angerufen wurde, berücksichtigt er nicht, was seitdem geschehen ist. Der Text der „Advisory Opinion“ vom 19. Juli 2024 (auf Englisch) unter www.icj-cij.org/index.php/node/204160.

3 Interview in der Wochenzeitung La Vie (Paris), 24. Juli 2024.

4 Alain Pellet, „La Cour internationale de justice redore le blason du droit international si malmené par ailleurs“, Le Monde, Paris, 30. Juli 2024.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Anne-Cécile Robert