12.09.2024

Hinüberkommen, ankommen

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Hinüberkommen, ankommen

von Johannes Streeck und Kathrin Zeiske

Am Ende der Grenzmauer im Süden von Arizona JOHANNES STREECK
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Vom Tankstellenshop an der Schnellstraße im Süden von Ciudad Juárez steigt man einen Erdwall hinauf und blickt auf eine große Fläche. Hier stehen die Fertigungsbetriebe für den Weltmarkt, rund 300 Maquiladoras produzieren Autositze, Kfz-Elektronik, Glasfaserkabel, Windturbinen. Dahinter liegt die Grenze zu den USA, eine Mauer, die sich wie eine rostrote Schlange quer über den Horizont zieht, vom südlichen Juáreztal mit seinen Feldern und Weiden bis zu den Brücken über den Río Bravo, die die Zwillingsstädte Ciudad Juárez, Mexiko, und El Paso, Texas, verbinden. Dahinter macht der Grenzfluss einen Bogen und die Schlange verliert sich im Norden.

Esmeralda1 hat eine Wasserflasche und Snacks in ihrem Rucksack verstaut. Die hat sie von den Münzen gekauft, die sie am Eingang des Tankstellenshops erbettelt hat. Ihre Schwester hat derweil mit ihren Mädchen am Fluss gewartet. Esmeralda hält ihre Söhne fest an der Hand, als sie den Erdwall halb hinuntersteigen, halb rutschen. Vier und sieben Jahre alt sind die beiden. „Guck mal“, ruft der Kleinere und zeigt begeistert auf den schwarzen Helikopter, der über der Grenze in der Luft steht. Sie gehen über die weite Freifläche vor dem Fluss und der Mauer. Durch den Rio Bravo können sie an dieser Stelle problemlos waten, denn sein Wasser wird 200 Kilometer nordwestlich am Elephant-Butte-Staudamm zurückgehalten, hier ist er nicht viel mehr als ein Bach.

Vor der Mauer allerdings blitzen Stacheldrahtfelder in der Sonne. Esmeralda bleibt stehen und beobachtet die Geländewagen der U.S. Border Patrol und die Militärfahrzeuge der texanischen Nationalgarde hinter dem Stacheldraht.

Für die Kinder war die Reise bisher ein großes Abenteuer. Esmeralda und ihre Schwester haben seit dem Aufbruch aus Maracaibo in Venezuela vor drei Monaten versucht, die Odyssee durch den halben Kontinent wie einen Ausflug und „so angenehm wie irgend möglich“ zu gestalten. Sie haben in Reisebussen Süßigkeiten und Erfrischungsgetränke verkauft, um ihre eigenen Bustickets, Essen und billige Hotelzimmer bezahlen zu können. „Von dem, was übrigblieb, sind wir mit den Kindern ins Kino oder ins Schwimmbad gegangen“, erzählt die rundliche 30-Jährige. In Guatemala-Stadt seien sie sogar umsonst in den Zoo gelassen worden.

„Den Fußmarsch durch den Darién-Dschungel haben wir auch gut überstanden.“ Erst in Mexiko hätten sie dann keinen fröhlichen Familienausflug mehr mimen können. „Da mussten wir immer wieder wegrennen, und Polizisten haben uns geschlagen. Das haben auch die Kinder mitbekommen.“

Im Süden Mexikos mussten sie als Reisende ohne Aufenthaltsgenehmigung den doppelten und dreifachen Preis für ihre Bustickets bezahlen, um von den Busfahrern nicht an die mexikanische Migra, die Migrationspolizei, ausgeliefert zu werden. Ab Chihuahua-Stadt, rund 350 Kilometer vor der US-Grenze, wurden Menschen ohne mexikanische Papiere gar nicht mehr mitgenommen. Niemand riskiert hier, den Kartellen das Schleusergeschäft im Grenzbereich streitig zu machen.

In den nördlichsten mexikanischen Bundesstaaten sind die Routen Richtung Grenze unter den verschiedenen Kartellen aufgeteilt. Seit der faktischen Abschaffung des Asylrechts in der Pandemie unter Präsident Trump sind Geflüchtete ein besseres Geschäft als der Drogenhandel. Die Kartelle verdienten damit schon 2021 nach einer Schätzung des Committee on Homeland Security des US- Repräsentantenhauses etwa 13 Milliarden Dollar. Und die Migrationsbewegung nach Norden hat sich allein zwischen 2023 und 2024 noch einmal verdreifacht.

Unter Präsident Biden wurde der Zugang zum Asylverfahren digitalisiert: Ein Antrag kann nur noch von den mexikanischen Grenzstädten aus über die App CBP One oder in den sogenannten Safe Mobility Offices (SMO) in Venezuela, Kolumbien und Guatemala gestellt werden. Bei illegalem Grenzübertritt wird gemäß dem Dekret ­Title 8 umgehend abgeschoben und ein genereller Einreisestopp von fünf Jahren verhängt.

Esmeralda und ihre Familie hatten Glück auf dem Weg Richtung Grenze. Weite Strecken wurden sie von Fernfahrern mitgenommen, die in die USA zurückfuhren. „Gott sei Dank gibt es überall auch gute Menschen.“ Ab Villa Ahumada, eine Autostunde südlich der Grenze, mussten sie zu Fuß gehen und hinter dem Militärposten von Samalayuca kurz vor Ciudad Juarez ging es den ganzen Tag durch die Wüste. „Wir alle, die durch Mexiko unterwegs sind, wissen, wo die Migra versucht, uns abzufangen und nach Tapachula an der Grenze von Guatemala zurückzuschicken. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie sie eine Gruppe von Leuten festgenommen haben. Sie haben sie mit ihren Geländewagen durch den Sand gejagt. Wir konnten uns zwischen Felsen und Dornbüschen verstecken, bevor sie uns sehen konnten.“

Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden in Mexiko mehr als 590 000 Menschen im Transit ohne Papiere festgenommen, dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Hauptherkunftsland war Venezuela, gefolgt von Honduras, Ecuador, Guatemala, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador, Haiti, Kuba und weiteren Ländern. Durch die vielen Abschiebungen in Mexiko ist die Anzahl der Festnahmen an der US-Grenze in der ersten Jahreshälfte auf knapp 906 000 Menschen minimal gesunken.2

Natodrahtfelder am Rio Bravo

Der gerade aus dem Amt geschiedene mexikanische Präsident Lopez Obrador war 2019 vor Trump eingeknickt, als dieser drohte, die Handelszölle anzuheben, sollte Mexiko weiterhin Asylsuchende in die USA einreisen lassen. Seitdem hat Mexiko die Abschottungspolitik der USA eins zu eins auch im eigenen Land umgesetzt. Die Südgrenze Mexikos und die Landenge von Te­huan­te­pec wurden militarisiert, das Instituto Na­cio­nal de Migration (INM) zu einem immer wichtigeren Machtfaktor aufgewertet.

Im März 2023 brach in dem Abschiebegefängnis von Ciudad Juarez ein Brand aus, bei dem 40 Geflüchtete erstickten, 27 Männer wurden schwer verletzt und 15 Frauen haben die Ka­tas­tro­phe stark traumatisiert überlebt. Die Wachhabenden der INM hatten die Zellentüren nicht geöffnet. Bis heute wurde niemand deshalb verurteilt; der Leiter der Behörde, Francisco Garduño Yáñez, ersuchte im August vor Gericht um eine zivilrechtliche Lösung.

Von der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum, die die politische Agenda Lopez Obradors und seiner Partei Morena weiterführen will, ist in Bezug auf die Migrationspolitik kein Wechsel zu erwarten.3

Esmeraldas kleine Reisegruppe kam im Morgengrauen an der Grenze an, froh, das Land unbeschadet durchquert zu haben. Ihre Füße in den ausgelatschten Sandalen sind lehmverkrustet, sie haben seit Tagen nicht geduscht.

Aber jetzt steht sie vor ihnen, die Mauer. Bei Ciudad Juarez gibt es ein großes Tor, die Puerta 36, Ziel jeder Taxifahrt ankommender Geflüchteter. Ein Portal, das direkt in den American Dreamführt, so ihre Hoffnung. Es ist nie vorhersehbar, wann es von der U.S. Border Patrol geöffnet und geschlossen wird. „Heute, als gerade die Sonne aufging, kamen sie heraus, aber nur, um noch mal rollenweise Stacheldraht auszulegen.“

Direkt hinter dem Stacheldraht stehen die Beamten der US-Einwanderungsbehörde, davor eine kleine Gruppe Männer und Frauen mit Babys auf dem Arm und Kleinkindern an der Hand. Manche versuchen mit den Beamten zu diskutieren. Andere sitzen etwas abseits in einem provisorischen Nachtlager aus aufgespannten Laken und Decken, und einige putzen sich gerade die Zähne am Flussufer. In den Bäumen, die das Ufer säumen, nisten Vögel. Doch das Vogelzwitscher wird vom Summen der Drohnen übertönt, die regungslos in der Luft stehen.

„Die Migra will nicht mit uns verhandeln, sie verbarrikadieren sich hinter ihrem Stacheldraht, sie sagen, dass sie uns da wieder hineinschubsen würden, wenn wir versuchen sollten, uns durchzudrängeln“, berichtet Esmeralda. Sie zuckt mit den Schultern. „Wir werden warten, irgendwann werden sie uns schon reinlassen.“

Es ist das zweite Mal, dass sie an der Grenze zu den USA steht. Von Piedras Negras, etwa 900 Kilometer östlich von Juárez, wurde sie schon einmal abgeschoben. Das war im Mai. Sie ist sofort wieder los, diesmal mit den Kindern. „Jetzt versuchen wir unser Glück an dieser Grenze.“ Sie hätte doch keine Wahl, sagt die alleinerziehende Mutter. Der Siebenjährige habe Diabetes und sie selbst habe Krebs.

„In Venezuela verdienst du 20 Dollar im Monat, aber was kauft man sich davon, wenn alles teuer ist, selbst Eier.“ Es reiche vorne und hinten nicht zum Leben. In Maracaibo, der karibischen Hafenstadt unweit der touristischen Reiseziele Aruba und Curacao, hat Esmeralda in einem Res­taurant gearbeitet. „Aber ich habe nicht genug Geld zusammenbekommen für meine Chemotherapie. Deswegen bin ich hier, ich kann doch nicht einfach aufgeben. Was wird aus meinen Söhnen, wenn ich den Tumor nicht bekämpfe? Ich vertraue auf Gott, dass er uns in die Vereinigten Staaten hilft.“

Ein paar Kilometer weiter südlich dreht ein Hubschrauber über dem idyllischen Rio Bosque Wetlands Park jenseits der Mauer seine Runden. Ein Reiher fliegt aufgeschreckt aus dem Schilf. David Romo schnürt seine Laufschuhe und trabt dann den Sandpfad entlang. „Das hier ist ein Kriegsgebiet“, sagt er und schaut dem Hubschrauber nach. Der Historiker stammt aus einer der unzähligen Familien, die seit jeher zwischen den Zwillingsstädten Ciudad Juárez und El Paso pendeln, auf der einen Seite wohnen und auf der anderen arbeiten, studieren, einkaufen und ausgehen – oder umgekehrt.

Romos Großtante erinnert sich noch an die erniedrigenden Entlausungen, denen Me­xi­ka­ne­r:in­nen in den 1930er Jahren auf der Grenzbrücke von Santa Fe unterzogen wurden. In Romos Jugend gab es noch keine Mauer zwischen den beiden Städten, die eine einzige Stadt waren – bis die USA im Krieg von 1846 bis 1848 den mexikanischen Norden annektierten.

„Erste Mauerteile wurden in El Paso und San Diego unter George Bush senior Anfang der 1990er Jahre aufgestellt“, erzählt Romo. Die Mauer zu Mexiko sei erst entstanden, als die Berliner Mauer fiel. Ein Zufall sei das nicht: „Die große Trennung zwischen Ost und West wurde durch die zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden ersetzt. Kennedy hat vom ‚Freedom of Movement‘ geträumt, als es um Ostberlin ging, und gegen die Trennung von Familien gewettert. Heute werden Mauern nicht mehr infrage gestellt.“ Früher habe es 15 Grenzmauern auf der Welt gegeben, heute seien es 70.

In Romos Familie, deren Mitglieder unterschiedliche Staatsangehörigkeiten und Visa besitzen, wird der Zusammenhalt durch die gigantischen Autoschlangen auf den Grenzbrücken erschwert. Be­am­t:in­nen würden von den regulären Kontrollpunkten abgezogen, um irreguläre Einwanderung im Nirgendwo zu stoppen, heißt es.

Donald Trump ließ die Mauer zwischen Ciudad Juárez und El Paso ausbauen, und der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, ließ sie in der Pandemie mit Tonnen von Natodraht überziehen, der mit kleinen messerscharfen Klingen bewehrt ist. Seit diesem Jahr werden darüber hinaus Stacheldrahtfelder ausgelegt, die sich wie gigantische filigrane Ziehharmonikas durch die Landschaft ziehen.

„Es ist die menschenfeindlichste Art von Stacheldraht“, sagt Romo und wischt sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn.

Klingendrahtverhaue wie an der texanischen Grenze zu Mexiko wurden von den Deutschen im Ersten Weltkrieg zwischen dem besetzten Belgien und den neutralen Niederlanden ausgelegt und elektrifiziert. Zwischen 2000 und 3000 Menschen starben an dieser Grenze bei dem Versuch, sie zu überwinden.

„Geschichte wiederholt sich ständig. Der Grad der Entmenschlichung ist derselbe geblieben“, meint Romo. Die Fälle von schweren Schnittwunden in texanischen Krankenhäusern entlang der Grenze seien enorm gestiegen. Durchschneidet der Draht eine Arterie, kann die Verletzung sogar lebensgefährlich sein. Geflüchtete kriechen unter dem Draht hindurch. An­woh­ne­r:in­nen in Grenznähe beschweren sich, weil sich Haustiere in ihm verfangen und verbluten.

David Romo hat seine Runden im kleinen Naturschutzgebiet an der Grenzmauer beendet. Er macht sich in Richtung Downtown El Paso auf, wo er in der Sacred Heart Church im Segundo Barrio, dem alten Viertel der mexikanischen Wan­der­ar­bei­te­r:in­nen, eine Schulklasse aus Washington empfangen wird. „Die meisten US-Amerikaner kennen die Grenze nur aus den Nachrichten, wo sie von der border crisis hören.“ Schü­le­r:in­nen posteten dann gern Selfies vor der Mauer. „Ich erkläre ihnen, dass wir hier in den borderlands eine binationale Gemeinschaft bilden.“

Romo wird ihnen auch von den Dieben erzählen, die in den Außenbezirken von Ciudad Juárez den Natodraht von der Mauer klauen, um ihn weiterzuverkaufen. „In Vierteln wie Anapra sagen Leute, ich habe einen Zaun um mein Grundstück, den mir die Gringos bezahlt haben.“ Ironie sei auch ein Weg, Widerstand gegen den allmächtigen Nachbarn zu leisten, schließt der Historiker und schiebt seine Brille zurecht.

In Sasabe, Arizona, wartet Jane Story ungeduldig in ihrem Auto, bis der Betonmischer die holprige Piste freigibt. Zu ihrer Linken erstrecken sich die kakteenbewachsenen Hügel der Sonora-Wüste, zu ihrer Rechten ragen die Stahlpfeiler der Grenzmauer in den pinkfarbenen Himmel. Ein Wachmann von einer privaten Sicherheitsfirma steht vor ihrem Wagen und achtet darauf, dass sie nicht einfach weiterfährt. Auf seiner kugelsicheren Weste, an der ein Kampfmesser und eine großkalibrige Pistole hängen, ist ein Totenkopf-Emblem mit einem blauen Streifen aufgenäht, das unter rechten US-Amerikanern Solidarität mit der Polizei signalisiert.

„Da ist doch genug Platz, dass ich mich durchquetschen kann“, schimpft die zierliche 74-Jäh­rige, trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad und schaut in den sich im Morgengrauen verfärbenden Himmel. Sie will unbedingt bis sieben Uhr das Ende der Grenzbefestigung erreichen, denn sie hat Wasser und Lebensmittel im Auto, die sie so schnell wie möglich an Geflüchtete verteilen möchte. „Da warten sicher schon Leute auf Hilfe.“

„Trumps Mauer“ wurde das gigantische Bauvorhaben lange genannt, das hier im südlichen Arizona und weiter entlang der Grenze entsteht. „Kein Fuß mehr“ solle in seiner Amtszeit gebaut werden, hatte Joe Biden während des Wahlkampfs 2020 versprochen. Dem widersprechen allerdings die Arbeiter und die Kolonne von Betonmischern, die Jane Story gerade den Weg versperren.

„Sie bauen die Straße aus, damit der Grenzschutz schneller fahren kann“, erklärt Story, die mehrfach in der Woche aus ihrem zwei Stunden von Sasabe entfernten Wohnort anreist. Sie engagiert sich bei den Tucson Samaritans, einer Gruppe, die sich um Menschen kümmert, die es über die Barrieren geschafft haben.

„Endlich!“, ruft Story erleichtert, als der Wachmann sie gelangweilt weiterwinkt. Die Piste ist an diesem Abschnitt der Grenze wie mit dem Skalpell durch die schroffe Wüstenlandschaft gezogen, in wellenartiger Gleichmäßigkeit geht es über die steilen Hügel. Nach ein paar Minuten taucht eine Menschengruppe am Horizont auf, die sich im spärlichen Schatten versammelt hat. Story fährt auf sie zu und springt energisch aus dem Auto. Sofort wird sie von Menschen umringt, denen die Strapazen der Reise anzusehen sind. Gegen die aufkommende Hitze sind sie nur schlecht ausgerüstet, manche von ihnen tragen leichte Slipper an den Füßen, abgewetzt vom ­steinigen Boden. Story öffnet ihren Kofferraum und verteilt Wasserflaschen, Energieriegel und Obst.

Namentlich genannt werden möchte keiner der Leute. Ein junger Mann mit eintätowierten christlichen Symbolen sagt in unsicherem Englisch, er komme aus Ägypten, wie auch der Rest einer Gruppe, und bittet um Wasser für eine Frau, die schweißüberströmt auf dem Boden sitzt, die Hände gegen die Sonne über dem Kopf gekreuzt. Zwei Wochen haben sie gebraucht, um die ­Grenze zu erreichen, erzählt er, über Brasilien sind sie durch Mittelamerika und Mexiko gereist. „Ich bin froh, hier zu sein“, sagt er mit breitem Lächeln.

Ein zweiter Mann um die 50 gesellt sich dazu, in der Hand eine der Wasserflaschen aus Storys Kofferraum. „Ich habe einen Monat gebraucht, um aus Bangladesch hierherzukommen“, sagt er. Auf die Frage, was er den Schleusern in Mexiko gezahlt hat, um ihn an der Grenze abzusetzen, schüttelt er den Kopf. „Nichts“, sagt er. „Sie haben mir unterwegs alles abgenommen, was ich hatte.“ Er trägt Jeans und ein ausgeleiertes Polohemd. „Am Ende haben sie mich einfach rübergebracht“, sagt er und hebt die kleine Plastikflasche in die Luft. „Ich besitze jetzt dieses Wasser, das war’s.“

Hilfe von den Tucson Samaritans

„Bleibt hier, versucht nicht weiterzugehen“, rät Jane Story dem jungen Ägypter, der für den Rest seiner Gruppe ins Arabische übersetzt. Der Grenzschutz wird sie hier abholen, versucht Story klarzumachen, auf keinen Fall sollten sie versuchen, die knapp 20 Kilometer zum nächsten Posten der Border Patrol zu Fuß zu laufen. Viele von ihnen nicken und lächeln erleichtert, denn sie möchten den Grenzern nicht aus dem Weg gehen, sondern bei ihnen Asyl beantragen.

Viele von ihnen werden das erhoffte Asyl nicht erhalten. Im Juni ließ Präsident Biden per Dekret das Recht auf Asyl stark einschränken.4 Die strengere Regelung gilt dann, wenn täglich 2500 Menschen oder mehr beim Versuch, ungenehmigt die Grenze zu überwinden, beobachtet werden. Da diese Zahlen seit Monaten überschritten werden, gilt sie auch an diesem Tag. Geflüchtete, die dem Grenzschutz überzeugend erklären können, dass sie in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten müssen, haben weiterhin die Möglichkeit auf Asyl. Doch ob dieser Umstand zutrifft, liegt allein im Ermessen der zuständigen Beamt:innen.

Die Grenzbehörden entscheiden dabei eher nach Staatsangehörigkeit der An­trag­stel­le­r:in­nen als nach deren tatsächlicher Gefährdung. Sechs Wochen nach Erlass des Dekrets berichtete die NGO National Immigrant Justice Center, dass die meisten Anträge abgewiesen wurden, selbst wenn Betroffene nachweisen konnten, dass sie gefoltert wur­den.5 Joe Bidens neue Strenge an der Grenze ist wohl vor allem dem politischen Druck vonseiten der Republikaner geschuldet und deren Gerede von einer „Invasion“. In rechten Medien wird mit Bildern aus der Gegend um Sasabe suggeriert, gefährliche Individuen drohen das Land zu überrollen. Dass diese Angstkampagnen wirken, zeigt auch eine Studie des Pew Research Center, in der unter anderem drei Viertel der befragten US-­Ame­ri­ka­ne­r:innen angeben, die Situation an der Südgrenze sei ein „großes Problem“.

In Arizona strahlt die Sonne inzwischen mit voller Kraft vom Himmel. Jane Story entdeckt zwei Frauen und vier Kinder, die am Straßenrand auf einer Böschung sitzen. „Bienvenidos!“, ruft Story, als sie aus dem Wagen klettert, um Wasser und Nahrungsmittel zu verteilen. Sie spricht kein Spanisch, von ein paar Phrasen abgesehen, ein Übersetzungstool hilft ihr, sich mit den Frauen zu verständigen. Sie kommen aus Guatemala, erzählen sie, während sich ihre Kinder über die kleinen Spielzeuge freuen, die Story ihnen aus einer Plastiktüte reicht. „Gibt es irgendwo Schatten?“, fragt eine der Frauen hoffnungsvoll. Denn es gibt hier kaum Bäume.

Nach knapp einstündiger Fahrt erreicht Story endlich die Stelle, an der die rostroten Pfeiler der Grenzmauer abrupt enden. Hier stehen nur noch die Panzerfallen aus Stahl, die lange die einzige Barriere zwischen den Ländern darstellten. Die Tucson Samaritans haben hier ein provisorisches Lager aufgebaut, in dem sich Mi­gran­t:in­nen unter Plastikplanen ausruhen und über ein Starlink-Terminal ihre Familien kontaktieren können. Der Monsunregen hat auch im Camp seine Spuren hinterlassen. Jemand hat versucht, das unter die Planen eindringende Wasser mit einer Barriere aus Steinen und Sand abzuhalten, hier und da liegen Rucksäcke und abgelegte Kleidungsstücke. Aus einem Graben hinter dem Lager weht Uringeruch herüber.

Ein Mann um die 40 wartet mit seiner Gruppe auf den Grenzschutz. Er kommt aus dem mexikanischen Bundesstaat Guerrero, in dem seit Jahren ein brutaler Kartellkrieg tobt. „La Violencia“, die Gewalt, habe ihn dazu bewegt, sich auf den Weg nach Norden zu machen, sagt er: „Es ist gefährlich, aber was soll ich machen?“ Jane Story gibt ihm ein gelbes Bandana-Tuch, das sie im Eiswasser aus ihrem Kühlbehälter getränkt hat, und bedeutet ihm, es sich um den Nacken zu legen. Die Temperatur ist mittlerweile auf knapp 40 Grad gestiegen.

Im Camp treffen weitere Tucson Samaritans ein. Die Gruppe verfügt über zwei Geländewagen, die mit einem großen roten Kreuz gekennzeichnet sind. Die Kofferräume von Story und den anderen Samaritans sind jetzt leer, sie haben hunderte Wasserflaschen verteilt.

Carolina Peña ist mit Anfang 30 an diesem Tag die jüngste in der Freiwilligentruppe aus Tucson, der nächstgelegenen Großstadt. Sie sitzt mit ernstem Blick im Schatten eines großen Wassertanks auf dem Boden. „Mit Herzschmerz und Traurigkeit“, antwortet sie auf die Frage, wie sie die Arbeit an der Grenze erlebt.

Peña studiert an der Ostküste, ihren Sommer verbringt sie an der Grenze, um zu helfen. Die Schicksale der Menschen gehen ihr nahe, ähneln sie doch ihrer eigenen Geschichte. „Ich komme aus El Salvador. Viele Leute hier fliehen vor Gewalt und Todesdrohungen in Mittelamerika.“ Sie erzählt von Frauen mit Kindern, die teilweise noch gestillt werden: „Niemand möchte sein Land verlassen, aber irgendwann gibt es einfach keine andere Wahl.“

Die Fluchtursachen sind ihr nur allzu vertraut. In ihrer Heimat hat sie Jugendarbeit gemacht, die darauf abzielte, junge Menschen von den Gangs wegzubekommen, die seit Jahren in El Salvador ihr Unwesen treiben. Lange hatte das Land die höchste Mordrate der Welt; 2022 töteten Banden an einem einzigen Tag aus Rache 67 ­Menschen. „Der Großteil der Gangmitglieder ist unter 18, manche sind gerade mal 8 Jahre alt“, erzählt sie. „Ich habe versucht, kooperativ zu arbeiten, mit NGOs und staatlichen Behörden, zum Teil auch mit der Polizei und Jugendgerichten.“

2017 begannen die Gangs Carolina Peña wegen ihrer Arbeit unter Druck zu setzen. Einen Monat lang wurde sie von den immer gleichen Personen beobachtet, bis schließlich ein Gangmitglied auf sie zukam. „Sie haben mir gesagt, wir wissen, was du machst, wo du dich bewegst, wer deine Freunde sind. Wir wissen alles über dich, und wenn du nicht gehst, dann töten wir dich und deine gesamte Familie.“

Peña wusste, dass das keine leeren Drohungen waren. „Mir war genau bewusst, was passieren würde, wenn ich wieder hinausgehen würde. Sie würden mich kidnappen, mich vergewaltigen, foltern und töten und dann in einem Grab verscharren. In genau dieser Reihenfolge.“ Wochenlang blieb sie im Haus ihrer Familie und ging nicht mehr auf die Straße. „Nachts habe ich gehört, wie sie auf dem Dach herumtrampelten, und ich hatte jedes Mal Angst, dass sie anfangen zu schießen und meine Eltern töten.“

Anfang 2018 reiste sie in die USA und beantragte Asyl. „Und das ist genau die Wahl, die die Menschen haben, die hier ankommen. In der Wüste verdursten sie vielleicht oder werden von einer Schlange oder einem Skorpion gebissen, aber sie können es zumindest versuchen.“ Die meisten US-Amerikaner, glaubt sie, verstehen nicht, was die Leute zur Flucht bewegt.

Die Gangs, die ihre Heimat terrorisieren, sind in Los Angeles entstanden, gegründet von Jugendlichen, die aus El Salvador geflüchtet waren, um dem Bürgerkrieg zu entfliehen, der über zwölf Jahre in dem kleinen Land wütete. Als die USA begannen, vorbestrafte Gangmitglieder nach El Salvador abzuschieben, breiteten sich die Banden in ganz Mittelamerika aus.7 Noch heute tragen sie die Namen von Straßen in Los Angeles.

„Die Amerikaner haben die Paramilitärs unterstützt und ihnen ihre Brutalität beigebracht“, sagt Peña. Den Zusammenhang zwischen dem Bürgerkrieg, den Straßenbanden in den USA und dem Elend in ihrer Heimat kennen nur die wenigsten. „Ich kann nicht in mein Land zurückgehen“, sagt sie und runzelt die Stirn wegen des gleißenden Sonnenlichts. „Und das ist der Grund, warum so viele Menschen diesen Metallzaun überqueren.“

Auf dem nächsten Hügel tauchen die Fahrzeuge der Grenzpolizei auf. In ihren sandfarbenen Uniformen und kugelsicheren Westen wirken die Männer größer, als sie sind, ihre Gesichter sind von Sonnenbrillen verdeckt. Sie ignorieren die Tucson Samaritans größtenteils und sprechen kurz mit den Geflüchteten, bevor sie sie auf ihre Pick-ups laden und abtransportieren. Die meisten von ihnen tragen Jane Storys Tücher um den Hals gewickelt, einige lächeln und winken, bis sie um die nächste Biegung verschwinden.

1 Name geändert.

2 Jorge Vaquero Simancas, „México acelera más de un 200% la detención de migrantes“, El Pais, 8. Juli 2024.

3 Bárbara González, „Mexico–U.S. Migration Crackdowns Unlikely to Change Under New President Claudia Sheinbaum“, Texas Observer, 24 Juni 2024.

4 „Biden rolls out asylum restrictions …“, AP, 5. Juni 2024.

5 Six-Week Report: Implementation of the Biden Administration’s June 2024, „Securing the Border“, Asylum Ban, immigrantjustice.org, Juli 2024.

6 „How Americans View the Situation at the U.S.–Mexico Border, Its Causes and Consequences“, Pew Research Center, 15. Februar 2024.

7 Vgl. Cecibel Romero und Toni Keppeler, „Unterwegs zum Bandenstaat. In El Salvador akzeptiert die Regierung das organisierte Verbrechen als Verhandlungspartner“, LMd, August 2012.

Johannes Streeck und Kathrin Zeiske sind freie Journalisten in den USA und Mexiko.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Johannes Streeck und Kathrin Zeiske