12.09.2024

Israels längster Krieg

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Israels längster Krieg

Seit fast einem Jahr führt Israel seine Offensive im Gazastreifen. Die Zerstörungen im Küstengebiet sind beispiellos. Zugleich droht ständig eine regionale Eskalation, die Washington unbedingt verhindern will – ohne jedoch seinen israelischen Verbündeten zu sehr unter Druck zu setzen.

von Alain Gresh

US-Außenminister Blinken und ­Netanjahu, Tel Aviv, 19. August 2024 CHUCK KENNEDY/picture alliance/abaca
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Seit einigen Wochen klammert sich die Welt an die Hoffnung, dass der Krieg im Gazastreifen durch Verhandlungen beendet werden kann. Derweil geht die Zerstörung der Enklave unvermindert weiter. Auch die gewalttätigen Übergriffe der Siedler im Westjordanland nehmen zu.

In Washington wächst indes die Alarmbereitschaft, weil sich der Krieg auf die Region auszuweiten droht: Israels tödliche Attentate auf den Hisbollah-Führer Fuad Schukr am 30. Juli in Beirut und den Politbürochef der Hamas, Ismael Hanijeh, am 31. Juli in Teheran markierten eine Überschreitung aller roten Linien. Angesichts der Vergeltungsdrohungen aus Iran und von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah sucht US-Präsident Joe ­Biden nach einem Ausweg, der die israelischen Interessen wahrt und verhindert, dass die USA mitten im Wahljahr in eine unkontrollierbare Eskalation hineingezogen werden.

Das ist der Hintergrund von Bidens Drei-Phasen-Plan, den er bereits am 31. Mai präsentierte: In der ersten Phase ein sechswöchiger Waffenstillstand, währenddessen sich Israel aus allen bewohnten Gebieten im Gazastreifen zurückzieht und die Hamas im Austausch gegen mehrere hundert palästinensische Gefangene eine bestimmte Anzahl von Geiseln freilässt (zuerst ältere Menschen, Frauen, Verletzte und auch Leichen). Die palästinensischen Zivilisten könnten zurückkehren, und die humanitäre Hilfe würde beträchtlich verstärkt. In dieser Zeit sollen sich Israel und die Hamas über die Bedingungen für eine dauerhafte Beendigung der Kampfhandlungen verständigen.

In der zweiten Phase, in der die „dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten“ in Kraft treten soll, müssen alle Geiseln freigelassen werden, auch Armeeangehörige, und die israelischen Streitkräfte sollen sich vollständig aus Gaza zurückziehen. In der dritten Phase soll ein umfassender Wiederaufbauplan für den Küstenstreifen festgelegt werden.

Zwei Aspekte bewogen die Hamas, diesem Plan zuzustimmen: das definitive Kriegsende und der komplette Rückzug der israelischen Armee aus Gaza. Doch Israel stellte im Anschluss neue Forderungen, die von den USA akzeptiert wurden: die fortgesetzte Kontrolle sowohl über den Philadelphi-Korridor – eine 14 Kilometer lange Sicherheitszone zwischen dem Gazastreifen und Ägypten – als auch über den Netzarim-Korridor, den die israelische Armee angelegt hat und der den Gazastreifen in zwei Hälften teilt. Zudem sollen die Verpflichtungen im Rahmen des dauerhaften Waffenstillstand hinreichend vage sein, um es Israel zu erlauben, den Kampf bei Bedarf wieder aufzunehmen.

Denn Benjamin Netanjahu möchte den Krieg fortsetzen, nicht nur in Gaza. Seit Mitte August wurden auf seinen Befehl hin die Angriffe auf den Libanon verstärkt. Bei einem Luftangriff auf ein Waffenlager in der Stadt Nabatijeh kamen in der Nacht des 16. August zehn Menschen ums Leben, darunter eine sechsköpfige syrische Familie – und das mitten in den Verhandlungen um einen Waffenstillstand. Netanjahu versucht die Hisbollah zu einer unkontrollierten Eskalation zu verleiten.

Trotz des jüngsten Angriffs der Hisbollah, die am 25. August hunderte Raketen auf Israel abfeuerte – nachdem Tel Aviv bereits zuvor viele Abschussbasen bei einem „Präventivschlag“ zerstört hatte –, sind die Signale aus Teheran eindeutig: Die „Achse des Widerstands“ will keinen regionalen Konflikt riskieren. Netanjahu hingegen arbeitet laut dem israelischen Journalisten Nahum Barnea schon seit 2010 daran, die US-Regierung in einen Krieg gegen Iran zu verwickeln: „Das ist die Mission seines Lebens, die ihm seinen Platz in der Geschichte sichern könnte – und ‚seinen totalen Sieg‘ “.1

Im Augenblick hat sich Netanjahu seinen Platz in der Geschichte dadurch gesichert, dass er einen der tödlichsten Kriege des 21. Jahrhunderts zu verantworten hat.

Als die Zahl der Getöteten in Gaza die Marke von 40 000 überschritt (das entspricht 2 Prozent der Bevölkerung), veröffentlichte die israelische Tageszeitung Haaretz eine vergleichende Studie der jüngsten bewaffneten Konflikte: Dem Syrienkrieg fielen seit seinem Beginn 2011 bislang 400 000 Menschen zum Opfer (ebenfalls 2 Prozent der Bevölkerung) und im Jugoslawienkrieg (1991–2001) kamen innerhalb von zehn Jahren 100 000 Menschen ums Leben (0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung).2

Im Interview mit der Haaretz erklärte Michael Spagat, der am Londoner Royal Holloway College zu Kriegen forscht, dass der aktuelle Gazakrieg im Verhältnis zu seiner bisherigen Dauer möglicherweise beispiellos ist. Zudem finden die Kämpfe auf einem sehr kleinen Gebiet statt – auf kaum 360 Quadratkilometern und ohne Zuflucht für Zivilisten. Das ist tatsächlich beispiellos.

Auch das Ausmaß der Zerstörung ist ohnegleichen. In verschiedenen Reden wurde Gaza mit der Flächenbombardierung deutscher Städte 1944/45 verglichen, etwa von EU-Außenvertreter Josep Borrell am 24. April im EU-Parlament. Tatsächlich wurden damals in ganz Deutschland – mit großen re­gio­nalen Unterschieden – insgesamt etwa 20 Prozent der Wohngebäude zerstört3 , während im Gazastreifen schon am 29. Februar 2024 – also nach den ersten fünf Kriegsmonaten – bereits über 35 Prozent der Gebäude zerstört waren.4 Eine von der BBC Ende Januar zitierte Studie geht sogar von 50 bis 61 Prozent aus.5

Das Ausmaß dieses „Domizids“, also die großflächige Zerstörung von Wohnraum und ziviler Infrastruktur, bestätigt die Absicht Israels, den Gazastreifen im wahrsten Sinne des Wortes unbewohnbar zu machen und im gewünschten Moment einen neuen Exodus der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen herbei­zuführen – was seit dem 7. Oktober 2023 nach Meinung vieler das Hauptziel der Militäroperation gegen die Enklave war.

Wie in allen Kolonialkriegen präsentieren die israelischen Streitkräfte (IDF) eine beeindruckende Bilanz getöteter Hamas-Kämpfer, dezimierter Einheiten und liquidierter Befehlshaber. Nach diesem Schema, das aus dem Algerien- und Vietnamkrieg bekannt ist, wird jeder getötete Mann als Kämpfer identifiziert, und taktische Erfolge werden in strategische Siege umgemünzt. Bei näherer Betrachtung fällt die Bilanz deutlich differenzierter aus.

Nach einem Bericht des US-Senders CNN waren am 1. Juli nur drei der insgesamt 24 Hamas-Brigaden vollständig zerschlagen, acht waren unverändert aktiv und 13 waren zwar geschwächt, verfügten aber noch über ausreichend Mittel für Guerillaangriffe.6 Zur Wiederherstellung der militärischen Schlagkraft müssen neue Kämpfer rekrutiert werden, und das sind laut einem israelischen Offizier „Tausende“.

Nach israelischen Geheimdienstinformationen konnte die Hamas „eine große Zahl ihrer Raketen und Panzerabwehrwaffen aus tausenden nicht explodierter Blindgänger bauen, die Israel auf den Gazastreifen abgefeuert hatte“.7 Unter diesen Umständen sieht sich die IDF gezwungen, ihre „Säuberungsaktionen“ zu wiederholen, auch in Gebieten, die sie bereits für „gereinigt“ erklärt hat.

Unter der provokanten Überschrift „Hamas is Winning“ hat Robert A. ­Pape, Professor für Politologie an der Universität Chicago, Israels Ansatz grundsätzlich infrage gestellt.8 Auch wenn etwa 10 000 Hamas-Kämpfer getötet wurden (die Organisation selbst spricht von 6000), bleiben noch 15 000 aktiv. Hinzu kommt, was Pape als „die entscheidende Quelle“ bezeichnet, aus der sich die Macht der Hamas speist, und das ist „die Fähigkeit, neue Kämpfergenerationen anzuziehen, die für ihre Sache sterben würden“. Diese Rekrutierungsfähigkeit beruhe auf einem einzigen Faktor: die Unterstützung, die eine Gruppe von ihrer Gemeinschaft bekommt.

Und die ist der Hamas trotz aller zivilen Opfer und der Zerstörungen in Gaza sicher. Und zwar nicht weil sie „islamistisch“ ist, sondern weil es ihr gelungen ist, den ungelösten Palästinakonflikt der Welt wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Auch wenn die Hamas die Bildung einer technokratischen Übergangsregierung in Bidens Plan grundsätzlich gebilligt hat und sich aus der Verwaltung des Alltags in Gaza zurückziehen will – bei der sie ohnehin nicht sonderlich geglänzt hat, selbst wenn man die israelische Blockade berücksichtigt –, wird sie für die palästinensische Politik weiterhin maßgeblich bleiben – ob in Gaza oder andernorts. Diese Aussicht kann Netanjahu schlechterdings nicht akzeptieren, weshalb er nicht aufhören wird, seinen amerikanischen Bündnispartner zu bedrängen und ihn damit in die absehbare Katastrophe hineinzieht.

Der Krieg gegen Gaza ist jetzt schon der längste Krieg in der Geschichte Israels, länger als der Krieg, den der junge Staat nach seiner Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 gegen seine arabischen Nachbarn führen musste. 75 Jahre später wird Israel trotz seiner militärischen Übermacht, der bedingungslosen Schirmherrschaft durch die USA und Europas Unterstützung nach diesem Konflikt auf der internationalen Bühne isolierter dastehen, im Inneren zerrissener sein und einer äußerst ungewissen Zukunft entgegengehen. Denn auch wenn die Waffen schweigen, werden immer noch 7 Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen auf dem historischen Gebiet Palästinas leben, die Widerstand gegen die Besatzung und das Apartheidregime leisten werden.

1 Nahum Barneas Artikel in der Tageszeitung Jediot Acharonot im Zitat des täglichen Newsletters von Mid­east Mirror, London, 16. August 2024.

2 Nir Hasson, „The Numbers Show: Gaza War is One of the Bloodiest of the 21st Century“, in: Haaretz, 14. August 2024.

3 Siehe Christoph Halbmeier und Carsten Schröder, „The Long-Term Effects of Destruction during the Second World War on Private Wealth in Germany“, Journal of Economic Growth, 17. Mai 2024.

4 „35% of buildings affected in Gaza Strip“, Unitar, Genf, 20. März 2024.

5 Daniele Palumbo, Abdelrahman Abutaleb, Paul Cusiac und Erwan Rivault, „At least half of Gaza's buildings damaged or destroyed, new analysis shows“, BBC, London, 30. Januar 2024.

6 Tamara Qiblawi, Allegra Goodwin, Gianluca Meezzofiore, Eugenia Yosef und Ibrahim Dahman, „Netanyahu says ‚victory‘ over Hamas is in sight. The data tells a different story“, CNN, 5. August 2024.

7 Maria Abi-Habib und Sheera Frenkel, „Where Is Hamas Getting Its Weapons? Increasingly, From Israel“, in: The New York Times, 28. Januar 2024.

8 Robert A. Pape, „Hamas Is Winning. Why Israel’s Failing Strategy Makes Its Enemy Stronger“, in: Foreign Affairs, New York, 21. Juni 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Alain Gresh leitet das Onlinemagazin Orient XXI, zuletzt erschien von ihm „Palestine, un peuple qui ne veut pas mourir“, Paris (Les Liens qui libèrent) 2024.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Alain Gresh