Angriff auf die Zukunft
In Gaza zerstört das israelische Militär systematisch Schulen, Bibliotheken und Universitäten
von Angélique Mounier-Kuhn
Für die Schülerinnen und Studenten im Gazastreifen fällt auch in diesem Jahr der Unterricht aus. Im letzten August strömten noch 625 000 Schüler:innen und 22 000 Lehrkräfte nach den großen Ferien zurück in die Schulen. Doch schon wenige Wochen später war es vorbei mit der öffentlichen Bildung in Gaza.
Am 7. Oktober richtete die Hamas im Süden Israels ein Blutbad an, bei dem 1200 Menschen getötet und 251 Geiseln entführt wurden. Der sofort eingeleitete gnadenlose Gegenschlag, der der israelischen Regierung den Vorwurf des Völkermords und Premierminister Benjamin Netanjahu einem möglichen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) einbrachte, zwang die Behörden in Gaza, das Schuljahr am 6. November auszusetzen.
Nach zehn Monaten israelischer Luft- und Bodenoperationen schätzt die Gesundheitsbehörde von Gaza die Zahl der Verletzten auf über 94 000 und die Zahl der Toten auf über 40 000, darunter mindestens 10 000 Kinder. Tausende weitere werden vermisst, ihre Leichen sind wahrscheinlich unter den Trümmern begraben. Keinerlei Infrastruktur ist verschont geblieben: nicht Wohnhäuser, nicht Krankenhäuser, nicht die Strom- und Wasserversorgung und auch die Schulen nicht.
Das Schicksal der Hochschulen war bereits in den ersten Kriegsmonaten besiegelt. Die Islamische Universität wurde am 11. Oktober in Schutt und Asche gelegt; die Al-Azhar-Universität, die 1991 durch einen Erlass von Jassir Arafat gebaut wurde, um palästinensischer Führungskräfte auszubilden, stürzte im November nach einer Reihe von Bombenangriffen ein; und am 17. Januar wurde die letzte verbliebene Hochschule, die Al-Israa-Universität, samt ihrem archäologischen Museum gesprengt. Die israelischen Truppen hatten die Uni zuvor zwei Monate lang als Militärstützpunkt genutzt.
Die Bombardierung von Schulen wurde diesen Sommer fortgesetzt und sogar noch intensiviert. Viele von ihnen dienten überdies als Zufluchtsort für die Bevölkerung, die zu erheblichen Teilen aufgrund der Kämpfe und der israelischen Evakuierungsbefehle auf der Flucht ist. Die Vertriebenen hatten die Hoffnung, in den Schulgebäuden wenigstens mit Strom aus Solarpaneelen, Toiletten und Wasser versorgt zu sein.
Jede Woche werden Schulgebäude mit Raketen angegriffen. Uns erreichen unerträgliche Bilder von ineinander verschlungenen Leichen, unter Schutt eingeschlossenen Kindern und Überlebenden in Not.
Mindestens 16 Menschen starben am 6. Juli 2024 in der Al-Jawni-Schule in Nuseirat; vier weitere am 7. Juli in der Schule der Heiligen Familie in Gaza-Stadt; am 8. Juli gab es mindestens 16 weitere Tote in einer anderen Schule in Nuseirat; am 9. Juli starben in der Al-Awda-Schule in Abasan al-Kabira mindestens 31 Menschen; am 14. Juli gab es 22 Tote in der Abu-Oraiban-Schule in Nuseirat; und am 16. Juli wurden bei mehreren Angriffe auf die Al-Rasi-Schule und das Flüchtlingslager Nuseirat mindestens 42 Menschen getötet.
Laut Philippe Lazzarini, Leiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), finden solche Angriffe mittlerweile fast täglich statt. „In den letzten zehn Tagen wurden mindestens acht Schulen getroffen, darunter sechs von der UNRWA verwaltete“, schrieb er am 17. Juli auf X: „Der Krieg hat die Mädchen und Jungen in Gaza ihrer Kindheit und ihrer Bildung beraubt. Schulen sollten niemals Ziel militärischer Angriffe sein.“
In den Genfer Konventionen von 1949 und in den Zusatzprotokollen von 1977 zu den Grundrechten und zum Schutz von Zivilisten und Verwundeten werden Schulen zwar nicht ausdrücklich genannt. Jedoch weiß jede an einem bewaffneten Konflikt beteiligte Partei sehr wohl, dass bei Angriffen zivile Einrichtungen unter einem besonderen Schutz stehen.
Auf Initiative Norwegens und Argentiniens und mit Unterstützung der Unesco wurde 2015 eine zwischenstaatliche „Erklärung über die Sicherheit von Schulen“ (The Safe Schools Declaration) in Kriegszeiten verabschiedet. Diese nicht bindende Initiative wurde bislang von 120 Staaten, darunter auch Palästina, angenommen. Die israelische Regierung hat sie nicht unterzeichnet – dabei gilt doch schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 Bildung als grundlegendes Menschenrecht.
Doch wie frühere Initiativen dieser Art wird Lazzarinis Verweis auf das humanitäre Völkerrecht einfach ignoriert und die tödlichen Angriffe werden fortgesetzt. Am 27. Juli starben mindestens 30 Menschen in der Chadidscha-Schule in Deir al-Balah; am 3. August gab es mindestens 17 Tote in der Hamama-Schule in Gaza-Stadt; und am 4. August starben über 30 Menschen bei Angriffen auf die Schulen Hassan Salameh und Al-Nasr in Gaza-Stadt.
Israel rechtfertigt seine Angriffe meistens nicht. Und wenn es dazu kommt, werden keine belastbaren Beweise vorgelegt und die zivilen Opfer mit keinem Wort erwähnt: Das Ziel seien „Terroristen“ gewesen, die sich in der Schule versteckt, dort Waffen hergestellt oder gelagert oder Anschläge geplant hätten. Bei der Bombardierung der Al-Tabien-Schule und der angrenzenden Moschee in Gaza-Stadt wurden am 10. August mehr als 90 Menschen getötet. Auf die weltweite Empörung über eines der schlimmsten Blutbäder seit Kriegsbeginn reagierte das israelische Militär mit der Erklärung, es habe einen „präzisen Angriffe auf Hamas-Terroristen durchgeführt“, die die Gebäude als Kommandozentrale genutzt hätten.
Diese Behauptungen werden indes regelmäßig von palästinensischer Seite dementiert. Auch die wiederholten Forderungen aus der internationalen Gemeinschaft, die Massaker von unabhängigen Stellen untersuchen zu lassen, werden von der israelischen Regierung ignoriert. 2014 hat Human Rights Watch nach der israelischen Operation „Protective Edge“ die Bombardierung von drei Schulen untersucht, die als Unterkunft für Binnenvertriebene gedient hatten. Bei den Angriffen waren 45 Menschen, darunter 17 Kinder, getötet worden. „Israel hat keine überzeugende Erklärung für diese Angriffe und das daraus resultierende Blutbad geliefert“, stellte die Organisation fest und kam zu dem Schluss, dass es sich möglicherweise um Kriegsverbrechen handelte.1
Die aktuelle Militäroperation ist unvergleichlich größer. Bereits im April, noch vor den verstärkten Bombardements im Juli und August, äußerten sich 25 Expert:innen des UN-Menschenrechtsrats (UNHRC) höchst alarmiert zu dem fehlenden Schutz für Schulen: „Angesichts der Tatsache, dass mehr als 80 Prozent der Schulen in Gaza beschädigt oder zerstört wurden, ist die Frage berechtigt, ob es beabsichtigte Bestrebungen gibt, das palästinensische Bildungssystem vollständig zu zerstören – also eine Tat zu verüben, die als ‚Scholastizid‘ bezeichnet wird“, schrieben sie in ihrer Erklärung.2
Einige Zeilen darunter geben sie selbst die Antwort auf ihre rhetorisch gemeinte Frage: „Diese Angriffe sind keine isolierten Vorfälle. Sie folgen einem systematischen Muster der Gewalt, das darauf abzielt, die Grundfesten der palästinensischen Gesellschaft zu zerstören.“
Trotz seines ungewöhnlich deutlichen Tons fand dieser Text wenig Beachtung, und die Bombardierungen nahmen zu. Auf der Basis von Satellitenbildern veröffentlichte das Global Education Cluster, ein Zusammenschluss von UN-Organisationen und NGOs, am 30. Juli eine Schätzung, wonach 85 Prozent der 564 Schulgebäude in Gaza (einige Komplexe beherbergen mehrere Schulen) vollständig wiederaufgebaut oder erheblich saniert werden müssten, bevor der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden kann. Unter Berufung auf Zahlen des palästinensischen Bildungsministeriums berichtete die Plattform am selben Tag, dass 9211 Schüler und Schülerinnen sowie 397 Lehrkräfte seit dem 7. Oktober getötet worden seien.3
Der Begriff Scholastizid kursierte zuvor zwar schon in akademischen Kreisen und auf palästinensischer Seite, ebenso wie die Begriffe Domizid, Urbizid (Stadtmord), Politizid und Kulturizid, die alle auf das Wort Genozid rekurrieren, doch nun wurde er zum ersten Mal auch in einem Dokument der Vereinten Nationen verwendet. Die Expertengruppe des UNHRC definiert Scholastizid als „die systemische Vernichtung von Bildung durch die Festnahme, Inhaftierung oder Ermordung von Lehrern, Schülern und Angestellten des Bildungssystems sowie durch die Zerstörung der Bildungsinfrastruktur“.
Den Begriff prägte 2009 Karma Nabulsi, Professorin für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Universität Oxford, im Zusammenhang mit der israelischen Gaza-Operation „Gegossenes Blei“, als die Armee das palästinensische Bildungsministerium und mehrere Schulen bombardierte: „Wir wussten es schon vorher und sehen es jetzt deutlicher denn je, dass Israel versucht, das gebildete Palästina auszulöschen“, sagte die Wissenschaftlerin damals dem Guardian.4
Nach der Nakba (Katastrophe) von 1948 stürzten sich die Palästinenser in die Bildung, der einzige Bereich, in dem das von allen Seiten unterdrückte und ins Exil verstreute Volk ein Gefühl von Freiheit und nationaler Zusammengehörigkeit aufrechterhalten konnte. Bildung beinhaltete das Versprechen auf eine bessere Zukunft und symbolisierte zugleich ein Erbe, das es zu pflegen galt und das ihnen im Gegensatz zu materiellen Besitztümern niemals genommen werden konnte.5 „Für uns Palästinenser ist Bildung eine Frage von Leben und Tod. Wir können hungern, aber nicht unwissend bleiben“, sagte der Rektor einer UNRWA-Schule Mitte der 1990er Jahre in einer Fernsehreportage.6
Womöglich sind das die Gründe, warum Israel neben seinem Ziel, die Hamas zu „vernichten“, von Anfang an Universitäten, Bibliotheken und Schulen ins Visier nahm. „Tief in ihrem Inneren wissen die Israelis, wie wichtig Bildung für die palästinensische Tradition und die Revolution ist. Das ertragen sie nicht und deshalb zerstören sie sie“, meint Nabulsi.
Bildung war einer der Kompetenzbereiche, die Israel nach dem Oslo-Abkommen von 1993 an die neue Palästinensische Autonomiebehörde übertrug. Die Einführung nationaler Lehrpläne erfolgte erst Ende der 1990er Jahre. Bis dahin orientierten sich die Schulen im Westjordanland an dem jordanischen und die Schulen im Gazastreifen an dem ägyptischen Lehrplan. Auch dank der enormen Unterstützung durch die UNRWA im Grundschulbereich – vor dem aktuellen Krieg betrieb die UN-Organisation 288 Schulen in Gaza – konnten die Palästinenser stolz sein auf die Qualität ihres Bildungssystems, das auch in den arabischen Nachbarländern anerkannt wurde.
Die Weltbank lobte 2006 „bemerkenswerte Leistungen unter schwierigen Bedingungen“.7 In ihrem Bericht hielt sie fest: „Der Unterricht an den Grundschulen erfüllt sämtliche Anforderungen, und die Einschulungsquote in der Sekundarstufe liegt bei über 80 Prozent.“ Darüber hinaus sei der Zugang zu Bildung „in Bezug auf Geschlecht, Wohnort (ländlich und städtisch), Flüchtlingsstatus und Haushaltseinkommen sehr gerecht. Diese Indikatoren machen das Westjordanland und der Gazastreifen zu Spitzenreitern in der Mena-Region.“
Im Jahr 2022 betrug die Analphabetenrate in Gaza laut dem palästinensischen Zentralbüro für Statistik 1,8 Prozent gegenüber 13,7 Prozent im Jahr 1997 und 13,3 Prozent im weltweiten Durchschnitt. Den 90 000 Studierenden in der Enklave stand eine Vielzahl von Studiengängen offen, und trotz der eingeschränkten Bewegungsfreiheit konnten einige von ihnen ihre Ausbildung im Rahmen von Partnerschaftsprogrammen an ausländischen Hochschulen abschließen.
Nicht zuletzt wurden hier die Ärztinnen und Krankenpfleger ausgebildet, die sich heute in Gaza unter entsetzlichen Bedingungen um die Versorgung der Verwundeten kümmern.
1 „Israel: In-Depth Look at Gaza School Attacks“, Human Rights Watch, 11. September 2014.
2 „UN experts deeply concerned over ‚scholasticide‘ in Gaza“, UNHRC, 18. April 2024.
4 Ameera Ahmad und Ed Vulliamy, „In Gaza, the schools are dying too“, The Guardian, 10. Januar 2009.
6 Interview von Charles Enderlin, France 2, 24. Oktober 1995.
7 „West Bank and Gaza: Education sector analysis“, The World Bank, Washington, D. C., 9. Juli 2006.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Angélique Mounier-Kuhn ist Journalistin.