Tadschikische Mythen
Der kleinste Staat Zentralasiens konstruiert nationale Identität aus der rassistischen Idee vom Ariertum
von Judith Robert
Auf dem zentralen Platz der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe steht – alles überragend – die Statue des Emirs Ismail Samani, den Blick in die Zukunft gerichtet.
Die Straßenfotografen überreden die wenigen Besucher, die trotz des schlechten Wetters unterwegs sind, sich vor den beiden Löwen zu Füßen des Emirs ablichten zu lassen. Sie müssen sich akrobatisch verrenken, um auch die Krone und den vergoldeten Bogen, der das Riesenmonument einrahmt, ins Bild zu kriegen.
Der Emir wurde vom tadschikischen Regime zur Identifikationsfigur für das gespaltene Land erkoren, das aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen ist. Tadschikistan hat von 1992 bis 1996 einen verheerenden Bürgerkrieg durchgemacht, bei dem von den damals 6 Millionen Einwohnern 100 000 bis 150 000 getötet und über 1 Million vertrieben wurden.
Ismail Samani entstammte der persischen Dynastie der Samaniden und herrschte um die Wende zum 10. Jahrhundert über ein Riesenreich, das heute als „erster tadschikischer Staat“ gilt. Das Reich erstreckte sich über Afghanistan und einen Großteil der Gebiete, die heute zu Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Turkmenistan gehören, bis hin zu den heutigen Grenzen zu Pakistan und Iran. Nach der Dynastie des Emirs ist auch die Landeswährung Somoni benannt, der Hunderterschein trägt das Porträt des Emirs Ismail.
Tadschikistan ist das ärmste und zugleich einzige persischsprachige Land unter den fünf ehemaligen mittelasiatischen Sowjetrepubliken. Und so hat es sich bei der Suche nach einem identitätsstiftenden historischen Anknüpfungspunkt im iranischen Kulturkreis umgetan, schon um sich vom turksprachigen Usbekistan abzugrenzen, seinem Nachbarland im Westen.
Nachdem Tadschikistan die Unabhängigkeit erlangt hatte, ohne dass eine einheimische Elite oder eine mächtige Volksbewegung dafür gekämpft hätte, musste für das von starken ethnischen und regionalen Spannungen durchzogene Land eine nationale Erzählung gefunden werden. Und so kam es, dass die wichtigsten Verkehrsadern der 1-Million-Einwohner-Metropole Duschanbe nach berühmten Schriftstellern persischer Zunge umbenannt wurden.
Einige von ihnen wurden schon zu Sowjetzeiten für das „Tadschikentum“ beansprucht – allen voran Sadriddine Ainij (1878–1954), der als Schriftsteller und Lexikograf maßgeblich die moderne tadschikische Schriftsprache entwickelt hat. Andere wie der Dichter und Musiker Rudaki (859–941), der als Begründer der klassischen persischen Literatur gilt, wurden erst nach der Unabhängigkeit in den Kodex der Nationalgeschichte aufgenommen. Die Rudaki-Statue steht in dem nach ihm benannten Park im Zentrum von Duschanbe unter einem mit Mosaiken verzierten Bogen, beschallt aus Lautsprechern mit patriotischen Gesängen und schwülstig deklamierten Gedichten.
Auf der Suche nach historischen Wurzeln wird der seit 1992 herrschende Präsident Emomali Rahmon auch in Epochen fündig, die noch weiter zurückliegen als Rudakis Ära. Besonders häufig wird in offiziellen Reden der Mythos beschworen, dass die Tadschiken von „Ariern“ abstammen.
Der Begriff weckt unweigerlich Assoziationen an jenes „reine“ Urvolk, das die Nazis benutzten, um die Überlegenheit der nordischen „Rasse“ zu behaupten. Darauf gründeten sie auch ihren Anspruch, andere Völker zu beherrschen oder zu vernichten. Ihre Ideologie bediente sich bei den Rassentheorien, die in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur hatten und an die ersten (und berechtigten) Untersuchungen über Ursprung und Genese der indoeuropäischen Sprachen anknüpften.
„Von der Idee der indoeuropäischen Sprache war es nur ein kurzer Weg zu einer angeblichen Ursprache der ‚Indoeuropäer‘ “, erläutert der Geograf und Linguist Jean Sellier. Damit haben man die Indoeuropäer zu einer „Rasse“ erfolgreicher und daher „überlegener Eroberer“ ernannt.1 Auf dieser Basis stufte etwa Arthur de Gobineau (1816–1882) die weiße „Rasse“ als arisch ein. Das Adjektiv „ârya“ stammt aus dem altindischen Sanskrit und bedeutet „edel“. Damals hat man dem Sanskrit die größte Nähe zur indoeuropäischen Ursprache zugeschrieben.
Wie aus Rahmonow Rahmon wurde
Die tadschikische Staatsmacht versichert, mit dieser unseligen Geschichte habe man nichts zu tun. Sie hält die Existenz des arischen Volkes für erwiesen und argumentiert, die Vereinnahmung durch die Nazi-Ideologie dürfe das tadschikische Volk nicht daran hindern, sich als eines der ältesten Zweige des gemeinsamen Stammes auf die arische Abstammungslinie zu berufen. Mit dieser Begründung beschloss die Regierung 2005, die Swastika zum Nationalsymbol zu machen – zum Entsetzen der europäischen und US-amerikanischen Diplomaten, die darin das Hakenkreuz der Nazis sahen.
Auch Repräsentanten von Veteranen des Zweiten Weltkriegs sprachen sich gegen die Swastika aus. Am Ende gab die Regierung ihren Plan zwar auf, kritisierte aber den Druck, dem sie ausgesetzt gewesen sei. Und bis heute hält sie an ihrem arischen Adelsnachweis fest.2
In allen Kontexten zur offiziellen Identität wird sich auf dieses Ariertum bezogen. Auf dem Stadtspaziergang durch Duschanbe begegnet uns das tadschikische Wort „Oriyo“ an jeder Ecke: als Name eines Hotels, einer Bank oder einer Stiftung. Ab und zu auch in der Form „Ariana“, was der griechische Name für das heutige Tadschikistan war.
Auch Präsident Emomali Rahmon höchstpersönlich verkündet seit Jahren, die Tadschiken seien die unmittelbaren und rechtmäßigen Nachfahren der arischen Stämme. Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, das Wort „Tadschike“ sei ein Synonym für „Arier“ und bedeute „großherzig und edel“.
Diese Gleichsetzung wird auch in manchen Geschichtsbüchern und Museen propagiert. Rahmon hat in seinen über 30 Dienstjahren als „Führer der Nation“ an die 20 Bücher verfasst beziehungsweise schreiben lassen. Sein Bestseller ist das mehrbändige Opus „Die Tadschiken im Spiegel der Geschichte“. Der erste Band erschien 1999 unter dem Titel: „Von den Ariern zu den Samaniden“.3 In Duschanbe wird das Werk geflissentlich als glänzende Synthese wissenschaftlicher Forschungen gepriesen. Manche Hochschulen im Land veranstalteten sogar Rezitationswettbewerbe, bei denen die „besten“ Passagen vorgetragen wurden.
Das tadschikische Arierbewusstsein entspringt nicht einer Nazi-Ideologie, und doch wurzelt es in dem rassistischen Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts – insbesondere in seiner russischen Variante.4 Im Zarenreich beriefen sich die Machthaber auf den Ariermythos, um die russische Eroberung Zentralasiens als Vereinigung der breitgefächerten europäischen Zivilisation mit der Wiege ihrer arischen Ursprünge darzustellen – und Russland als verdienstvollen Brückenbauer, indem es die Turkvölker Zentralasiens unterwarf.
Dieses Narrativ verbreitet auch das heutige tadschikische Regime, indem es ein aus Europa stammendes Stereotyp wieder aufwärmt: den angeblichen Gegensatz zwischen den nomadischen und barbarischen Turkvölkern und den persischen – sprich zivilisierten – Völkern. Damit können sich die Tadschiken mit ihrem Arierbewusstsein als edle und „reine“ autochthone „Rasse“ darstellen, die schon vor den Invasionen der „Barbaren“ existierte.
Ganz in diesem Sinne kann Rachim Masow, ehemals Direktor des staatlichen Historischen Instituts in Duschanbe, über die Usbeken schreiben, sie seien mit den Tadschiken „im Hinblick auf ihr physisches Erscheinungsbild und ihren rassenmäßigen Ursprung in keiner Weise zu vergleichen“. Denn die Arier seien „blond, großgewachsen und blauäugig“, die Türken dagegen hätten „breite Gesichter, kleine Augen, gedrungene Nasen, Spitzbärte und einen mongoloiden Körperbau“5 .
Tadschikistan spielt die „arische Karte“, um eine besondere Beziehung zu Russland oder Europa zu beanspruchen und das Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Nachbarstaat Usbekistan zu stärken, der mächtiger ist und mehr Einwohner hat. Der Präsident Rahmon nahestehende Historiker Masow wirbt für eine stärkere Integration zwischen den zwei „arischen“ Völkern der Tadschiken und der Russen. Und so ist es nur logisch, dass Masow der internationalen Eurasischen Bewegung um den kremlnahen Ideologen Alexander Dugin angehört.6
Die Identitätspolitik des heutigen tadschikischen Staats ist aber auch aus der Sowjetzeit ererbt. Selbst die heutigen Landesgrenzen gehen auf die Gebietsaufteilung zurück, die sich die bolschewistische Führung ausgedacht hatte. Um einen Schlussstrich unter die zaristische Epoche zu ziehen und die nationalen Aspirationen zu erfüllen, die im Zuge der Revolution von 1917 aufkamen, wurden neue Sowjetrepubliken gegründet, die jeweils einer Titularnation zugeordnet wurden. Letztere stellten die Bevölkerungsmehrheit, während den Minderheiten innerhalb dieser Republiken autonome Regionen oder kulturelle Sonderrechte zugesprochen wurden.
Tadschikistan hatte anfangs nur den Status einer Autonomen Republik innerhalb der Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) Usbekistan. Erst 1929 bekamen die persischsprachigen Tadschiken eine eigene, von den turksprachigen Usbeken getrennte Republik zugesprochen – obwohl sich eigentlich weder Tadschiken noch Usbeken als klar abgegrenzte ethnische Gruppen sahen.
Damals verblieben die Städte Buchara und Samarkand, in denen sich die tadschikische Sprache, Literatur und Kultur herausgebildet hatten, bei der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Auf die Gründung einer tadschikischen Sowjetrepublik hatten vor allem die persischsprachigen Mitglieder der Kommunistischen Partei Usbekistans gedrängt, die vor der Gefahr einer Allianz der Turkvölker gegen Moskau warnten. Die neue Republik sollte von einer neuen, persischsprachigen KP-Filiale regiert werden, um dieser Gefahr entgegenzuwirken.
Dass beide Völker und ihre Sprachen bis heute eng verbunden sind, zeigt sich auch im Alltag. Tadschikisch ist zwar mit Abstand die dominierende Sprache, aber in den Geschäften, in den Teestuben, im Taxi und hinter den Kulissen der Nationaloper hört man auch Usbekisch.
Große Teile des Staatsgebiets beider Republiken waren und sind weitgehend zweisprachig. Gut 11 Prozent der Bevölkerung Tadschikistans sind ethnische Usbeken7 ; und viele ethnische Tadschiken – vor allem im Westen des Landes – sprechen fließend Usbekisch. Nach einem polemischen Bonmot, das dem ersten usbekischen Präsidenten Islam Karimow (1991–2016) zugeschrieben wird, sind „Tadschiken und Usbeken ein Volk, das zwei verschiedene Sprachen spricht“.
Seit die beiden Republiken unabhängig wurden, hat sich die Ausdifferenzierung, die in 60 Sowjetjahren eher latent blieb, zu einem Gegensatz verdichtet. Historiker beidseits der Grenze werfen sich gegenseitig vor, die Vergangenheit zu verfälschen.8 Duschanbe erhebt einen Ausschließlichkeitsanspruch auf die arische Abstammung und auf den praktisch nicht mehr existenten Zoroastrismus, die präislamische Religion der Arier.
Usbekistan bestreitet diesen Anspruch. Die Regierung in Taschkent beging 2003 unter der Schirmherrschaft der Unesco offiziell das Jahr der Avesta – der heiligen Schriften der zoroastrischen Religion. Darauf reagierten die Tadschiken ebenso verärgert wie umgekehrt die Usbeken, als Tadschikistan 2006 ein Jahr der arischen Zivilisation veranstaltete.
Die Sprache spielt, wie schon zu sowjetischen Zeiten, für die Herausbildung des tadschikischen Nationalstaats die entscheidende Rolle. Präsident Rahmon verweist in seinen Büchern auf die Besonderheiten der tadschikischen Sprache in Abgrenzung zum iranischen Farsi.
Unter Berufung auf tadschikische Historiker bezeichnet Rahmon seine Landsleute als „die Letzten, die lebendige arische Sprachen sprechen“.9 Doch wenn er auf dem ursprünglichen Charakter und der Reinheit der tadschikischen Sprache herumreitet, blendet er zahlreiche Einflüsse aus. Im Tadschikischen haben sich zwar Formen erhalten, die in anderen iranischen Sprachen verschwunden sind, aber es enthält auch viele „Usbekismen“. Ganz abgesehen von den zahlreichen russischen Lehnwörtern und der kyrillischen Schrift, die 1940 eingeführt wurde.
In den letzten Jahren folgte eine Sprachreform auf die andere. Seit 2020 ist gesetzlich vorgeschrieben, dass jedes neugeborene Kind tadschikischer Abstammung einen Namen mit einer traditionellen statt einer russischen Endung bekommt. Präsident Rahmon ist bereits 2007 mit gutem Beispiel vorangegangen, als er seinen alten Familiennamen Rahmonow um die Endung „ow“ gekürzt hat. Um den Eindruck von „reinem“ Tadschikisch zu erwecken, werden in Verwaltungsdokumenten, auf Speisekarten, in Zeitungen und vor allem im gesamten Justizwesen immer mehr archaische Wendungen und dem Farsi ähnelnde oder entlehnte Wörter verwendet.
Die Kluft zwischen den gesprochenen Dialekten und dieser „offiziellen“ Sprache, für die andauernd neue Regeln erlassen werden, wird damit immer größer. Viele Menschen haben inzwischen große Mühe, die Verwaltungsformulare zu verstehen. Selbst Bürgerinnen und Bürger, die alle drei meist benutzten Sprachen beherrschen – also Tadschikisch, Usbekisch und Russisch –, kommen damit nicht zurecht.
Auch in Iran wird die Idee von den arischen Wurzeln des eigenen Volkes gepflegt. Das ist für Duschanbe eine ambivalente Sache: Einerseits macht sich das Regime diese Idee opportunistisch zu eigen, andererseits fürchtet Präsident Rahmon, dass sein Land unter den kulturellen und politischen Einfluss Teherans geraten könnte.
Der Historiker Stéphane Dudoignon beschreibt das Verhältnis Tadschikistans zur islamischen Republik Iran als „von Neugier geprägt und kontextabhängig“. Der Zentralasien-Experte sieht sowohl kulturelle Berührungspunkte als auch scharfe politische Rivalitäten.
So unterstützt das schiitische Iran in Tadschikistan die sunnitische Partei der Islamischen Wiedergeburt (PIW). Die PIW ist seit dem blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre (siehe Kasten) die stärkste Gegenkraft zum Präsidentenlager in einer sunnitisch geprägten Gesellschaft.
Was das Verhältnis zum Islam angeht, so muss die Staatsmacht aufgrund des Bürgerkriegstraumas vorsichtig lavieren. Der tadschikische Präsident zeigt sich zwar als guter Muslim und hat sogar den Hadsch nach Mekka hinter sich gebracht. Doch wer Bart oder Hidschab trägt, bekommt leicht Ärger mit der Polizei. Seit die PIW 2015 als terroristische Organisation verboten wurde, dient der Kampf gegen den radikalen Islamismus als Vorwand für eine zunehmend autoritäre Innenpolitik.
Unter den Terrorattentätern des Islamischen Staats (IS) tauchen regelmäßig tadschikische Staatsangehörige auf, die allerdings zumeist im Ausland rekrutiert werden. Im Land selbst gilt die Strafverfolgung wegen Extremismus meist Personen, die sich überhaupt nicht radikalisiert haben. So wurden in den vergangenen zwei Jahren mehr Regimekritiker verhaftet als je zuvor. Besonders brutal unterdrückt wird die Opposition unter den Pamiris im Osten Tadschikistans.
Im Zeichen des Kampfs gegen den radikalen Islamismus versucht der Staat, uralte arische oder zoroastrische Feste wieder aufleben zu lassen. Im Oktober wird zu Ehren der Gottheit Mitra das Herbstfest Mehrgān – auf Tadschikisch Mehrgon – gefeiert. Zu diesem Anlass werden im Firdawsi-Park von Duschanbe vor einer Pyramide aus Melonen allerlei Leckereien gereicht, begleitet von traditionellen Tänzen und Konzerten vor allerdings spärlichem Publikum.
Im Januar folgt als nächste patriotische Veranstaltung das Sada-Fest. Das in Iran als Sadeh bezeichnete Fest würdigt die Bedeutung des Feuers für den Menschen. Auch hier ist der Andrang trotz eines gewissen Unterhaltungswerts überschaubar. Ein Passant beobachtet das Geschehen eher spöttisch herablassend. Natürlich riskiert er es nicht, sich öffentlich gegenüber einer Fremden zu äußern. Aber als wir uns etwas diskreter unterhalten können, erklärt er: „Es mag ja welche geben, die so was ernsthaft feiern, aber echte Muslime können das nicht sein.“
Die große Mehrheit der Bevölkerung interessiert sich weder für diese Veranstaltungen noch für die historiografischen Kontroversen. Zwar hat der Zoroastrismus im Islam und in den Sitten und Gebräuchen durchaus Spuren hinterlassen, doch praktizierende Muslime empfinden die Zarathustra-Verehrung und manche altertümlichen Feste als künstlich und aufgesetzt oder gar als Ketzerei.
Auch Präsident Rahmon nennt den Gründervater des Zoroastrismus heute nicht mehr „den ersten Propheten der Tadschiken, dessen Spuren auf der Erde weder vom Staub der Jahrtausende noch vom Schutt unzähliger blutiger Kriege ausgelöscht wurden“. Die Gestalt wurde nach und nach säkularisiert und dient inzwischen eher als moralisches Leitbild. Nachdem sich die Wiederbelebung der präislamischen Religion als unmöglich erwiesen hat, hofft der Staat, den heimischen Islam dadurch „abzumildern“, dass er seinen „nationalen“ Charakter hervorkehrt.
Damit will sich Duschanbe auch besser gegen schiitische und sunnitische Einflüsse schützen. Über die macht man sich wieder größere Sorgen, seitdem in Afghanistan im August 2021 die Taliban an die Macht zurückgekehrt sind, deren entschiedenster Gegner in der Region schon immer Tadschikistan war. Diese Entwicklung ließ auch den Kulturstreit mit Usbekistan, wo seit 2016 mit Schawkat Mirsijojew ein reformorientierter Präsident regiert, in den Hintergrund rücken und förderte zudem die Annäherung an Teheran.
Als größte Gefahr sieht die Regierung in Duschanbe die Präsenz von rund 20 Terrorgruppierungen in Afghanistan – darunter auch die von den Taliban unterstützte Jamaat Ansarullah, deren Mitglieder meist ethnische Tadschiken sind. In Afghanistan liegt auch die Operationsbasis des ISPK (Islamischer Staat – Provinz Khorasan), der Anschläge in der gesamten Region organisiert.
An dem Attentat im iranischen Kerman vom 3. Januar 2024, bei dem 90 Menschen getötet wurden, waren mehrere tadschikische Staatsbürger beteiligt, desgleichen an dem Anschlag auf die Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau am 22. März 2024, bei dem 145 Menschen umkamen.10
Seit sich die Beziehungen zu Teheran normalisiert haben, ist der Anspruch, der persischen Welt anzugehören, für Duschanbe nicht mehr mit den oben beschriebenen Problemen verbunden. Dafür hat man sich mit der verstärkten Berufung auf den Ariermythos an der inneren Front in Schwierigkeiten gebracht, etwa gegenüber der autonomen Provinz Berg-Badachschan.
Diese Gebirgsregion im Osten des Landes, in der nur 3 Prozent der Bevölkerung leben, nimmt immerhin 45 Prozent des tadschikischen Territoriums ein. Der Status der Bewohner, die vor allem in den Tälern nahe der Grenze zu Afghanistan leben, ist umstritten. Aufgrund ihrer kulturellen und vor allem konfessionellen Identität – als Pamiris und ismailitische Schiiten – werden sie nicht als vollwertige Tadschiken akzeptiert; dennoch werden sie, weil sie seit Langem in dem Gebiet siedeln, als Bestandteil der Nation gesehen.11 Allerdings ist diese Frage auch unter den Pamiris selbst umstritten: Die einen betrachten sich als ethnisch eigenständig, andere bezeichnen sich als „Berg-Tadschiken“.
Zwischen Berg-Badachschan und Duschanbe gibt es schon seit Sowjetzeiten einige Animositäten, weil die autonome Provinz gegenüber dem Rest der Tadschikischen SSR einige Privilegien genoss, insbesondere im Bildungswesen. Moskau wollte aus Berg-Badachschan – eines der unzugänglichsten Gebiete der Sowjetunion und zugleich deren südlichster Teil – eine kommunistische Vorzeigeregion machen.
Doch als dann 1992 der Bürgerkrieg ausbrach, eskalierten die Spannungen zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die Merkmale eines Clankonflikts wie auch eine ethnische Dimension hatten. Auch für die Opposition gegen das Lager von Präsident Rahmon spielte die Berg-Badachschan-Frage eine wichtige Rolle. Und trotz des 1997 unterzeichneten Friedensabkommens sieht die Regierung die Pamir-Region als potenziellen Gefahrenherd.
Ironischerweise nimmt diese pamirische Minderheit die Idee der direkten arischen Abstammung wichtiger als die übrige Bevölkerung, und zwar weil sie sich auf diese Weise von der tadschikischen Mehrheit abgrenzen will. Jedenfalls verweisen die Leute in Pamir häufig auf ihre weiße Haut und ihre helle Augenfarbe.
Andere, eher verwunderliche Theorien sind ebenfalls im Umlauf: Zum Beispiel, dass die Pamiris von Soldaten Alexanders des Großen abstammen, die im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hier durchgezogen sind. Deren Erbgut habe sich in ihrer abgeschiedenen Gebirgsregion unvermischt erhalten. Als Nachkommen der alten Griechen seien sie also „arischer als die Arier“.
Für Präsident Rahmon ist das eine Lehre, die ihm zu denken geben müsste. Mythen sind kein Allgemeinbesitz: Wer sie in die Welt setzt, kann ihre Verwendung nicht unbedingt kontrollieren.
6 Siehe Jean-Marie Chauvier, „Die Wiederentdeckung Eurasiens“, LMd, Juni 2014.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Judith Robert ist Journalistin.
Der Bürgerkrieg
Viele Tadschiken leben heute im Ausland. Nach dem Zerfall der UdSSR stellte sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl ein in dem ethnisch und regional so verschieden ausgeprägten Land. In den beiden für ihre Kulturschätze berühmten usbekischen Städten Buchara und Samarkand bilden die Tadschiken beispielsweise die Bevölkerungsmehrheit. Und in Afghanistan leben sogar mehr Tadschiken als in Tadschikistan selbst. Das hat nicht zuletzt mit dem Bürgerkrieg zu tun, dem zwischen 1991 und 1997 nach manchen Schätzungen bis zu 150 000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Nachdem sich im August 1991 der Präsident der damaligen Sowjetrepublik, Kachar Machkamow, auf die Seite der konservativen Putschisten gegen den russischen Präsidenten Michail Gorbatschow und dessen Reformprogramm geschlagen hatte, eskalierten die inneren Spannungen zu einer politischen Krise. Machkamow wurde abgesetzt und am 9. September der unabhängige Staat Tadschikistan ausgerufen. In den Folgemonaten sah sich die Zentralregierung unter dem frisch gewählten kommunistischen Präsidenten Rahmon Nabijew mit einer bunt zusammengewürfelten Opposition konfrontiert. Im Mai 1992 kam es zu ersten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen zwei radikalisierten Lagern: Die regierungstreue Volksfront Tadschikistans, bestehend aus Chudschandis (die dominierende Gruppe aus dem Norden), Kuljabis (im Süden) und Hissaris (um die Hauptstadt Duschanbe) kämpfte gegen die Vereinigte Tadschikische Opposition (VTO), der vier antikommunistische Parteien angehörten. Eine davon war die 1990 gegründete Partei der Islamischen Wiedergeburt (PIW), die bis heute die pamirische Autonomiebewegung „Rubin von Badachschan“ dominiert. Im Juni 1997 endete der Bürgerkrieg durch russische und iranische Vermittlung.
⇥Hélène Richard