12.09.2024

Schockstarre und Rachedurst

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Schockstarre und Rachedurst

von Sylvain Cypel

IDF-Reservisten protestieren gegen die Verhaftung von mutmaßlichen Kriegsverbrechern, Kfar ­Yona, 29. Juli 2024 sopa images/alamy
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Die Cafés in Tel Aviv und Westjerusalem sind proppenvoll – vom morgendlichen Espresso mit Mandelcroissant bis zur abendlichen Pasta. Der Krieg? Ach ja, der Krieg … Natürlich wird darüber gesprochen – immer geht es dann um den Schock nach dem verfluchten 7. Oktober 2023 und die Fassungslosigkeit über die mächtige israelische Armee, die auf einmal so machtlos war. Doch man wendet sich auch schnell wieder anderen Sorgen zu. Warum über den Krieg sprechen? Gaza ist so weit weg (70 Kilometer von Tel Aviv) und der Krieg so deprimierend.

„Was mich am meisten verblüfft, ist die Geschwindigkeit, mit der sich unsere Gesellschaft anpasst“, sagt Erez Pery, Filmemacher und Dozent am Sapir College, das südlich von Sderot unweit der Grenze zum Gazastreifen liegt. Mit­ar­bei­te­r:in­nen und Studierende wurden bei dem Überfall der Hamas verletzt, getötet und entführt. Nach einem Onlinesemester findet die Lehre seit dem 31. März wieder in Präsenz statt. Doch selbst wenn das Leben in den Cafés unverändert weitergehe, seien viele Menschen entweder unendlich frustriert oder wahnsinnig wütend, erzählt ­Pery: „Die Empörung ist auf dem Höhepunkt.“

Dass die Lokale gefüllt sind, wundert Nathan Thrall kein bisschen. Der kürzlich mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete US-amerikanische Autor1 lebt seit vielen Jahren in Jerusalem: „Es ist nämlich sehr einfach, die Palästinenser ‚unsichtbar‘ zu machen und ein angenehmes Leben zu führen.“ Dabei konstatiert auch Thrall eine anhaltend gedrückte Stimmung in Israel.

Das Leid der Palästinenser:innen, in all seiner Grausamkeit, ist bekannt. Aber was ist mit der israelischen Bevölkerung, deren Armee dafür verantwortlich ist? Die Debatten in den Nachrichtensendungen vermitteln das Bild einer komplett verwirrten, um sich selbst kreisenden Gesellschaft. In den Talkshows wirft man einander Beschimpfungen an den Kopf, und es wird sehr viel geschrien.

Doch was erwarten die Leute? Was soll geschehen? Die Ratlosigkeit ist genauso groß wie der verrückte Wunsch, die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen sollten am besten einfach verschwinden. David Shulman, Professor für Asian Studies an der Jerusalemer Hebrew University, bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Die Leute haben den Eindruck, in einer Sackgasse zu stecken. Und das entspricht ja durchaus der Realität: Israel befindet sich in einer Sackgasse.“ Hannah Arendt habe das alles schon vorausgesehen, fügt er hinzu. Bereits kurz nach der Gründung Israels 1948 warnte die Philosophin vor einer Ultranationalisierung des zionistischen Staats.

Die Israelis schwanken zwischen dem Wunsch nach Rache – nicht ohne Grund hat der Internationale Gerichtshof (IGH) Israel dazu aufgefordert, einen „Völkermord“ im Gazastreifen zu verhindern – und „absichtlicher Unwissenheit“, wie Eva Jablonka die dominierende Haltung beschreibt. Die israelische Biologin und Wissenschaftsphilosophin beklagt die „entsetzliche Blindheit gegenüber dem, was wir den Palästinensern antun“. Die Regierung betreibe zwar eine regelrechte Gehirnwäsche, aber die werde eben auch nur „allzu bereitwillig hingenommen“.

Die Politiker leugnen oder vielmehr verschleiern die im Gazastreifen begangenen Verbrechen, was weithin akzeptiert wird, weil es dem Selbstbild, immer das Opfer zu sein, entspricht. Für den jungen Historiker Adam Raz, der die Organisation Akevot (Hebräisch für „Spuren“) zur Aufarbeitung der israelischen Vergangenheit ins Leben gerufen hat, ist diese Realitätsverleugnung jedoch auch ein Zeichen der Angst. Nach dem 7. Oktober 2023 habe Ministerpräsident Netanjahu „durch sein kompromissloses Eintreten für eine gewaltsame Lösung uns alle zu Verbrechern gemacht, mich eingeschlossen. Die Tötung von zehntausenden Palästinensern, die wir zu verantworten haben, wird uns jahrzehntelang verfolgen.“

Diese Einschätzung teilen nur wenige. Die große Mehrheit der Israelis ist pessimistisch, aber aus ganz anderen Gründen. Sie sind wütend über den spektakulärsten Misserfolg ihrer Armee. „Die Gesellschaft steht unter Schock“, erklärt der linke Politiker Avraham Burg, der als Vertreter der Arbeitspartei Awoda von 1999 bis 2003 Präsident der Knesset war: „Die Palästinafrage, die in Israel als gelöst galt, kochte gewaltsam wieder hoch. Wir dachten, ein eigener Staat kann uns schützen. Aber das hat sich erledigt. Israel ist heute der gefährlichste Staat für Juden. Und ohne die Amerikaner hätten wir diesen Krieg nicht einmal führen können.“

Im Juni 1967 besiegte die israelische Armee innerhalb von sechs Tagen die Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens. In den letzten acht Monaten dagegen hat sie in Gaza mehr als 200 000 Soldaten und Reservisten mobilisiert, ohne eine mit weitaus geringeren Mitteln ausgestattete 30 000 Mann starke Miliz „vernichten“ zu können. Nach dem 7. Oktober sei es darum gegangen, „die nationale Ehre Israels wiederherzustellen, die auf seiner militärischen Stärke beruht“, so der Soziologe Yagil Levy, der sich auf die israelische Armee spezialisiert hat. Umso größer sei jetzt die Demütigung: „Ohne realistische Ziele und Visionen für morgen“ versinke Israel in einem „Krieg, der nicht zu gewinnen ist“.

Für den Anthropologen Yoram Bilu hatte der 7. Oktober drei entscheidende Folgen: „Erstens hat die Armee, die für unsere Sicherheit verantwortlich ist, einen schweren Schlag erlitten, von dem sie sich nur langsam erholen wird. Zweitens hat dieser Tag tiefsitzende Ängste geweckt. Und drittens hat sich der Rechtsruck der Gesellschaft weiter verstärkt.“ Laut einer Umfrage des Fernsehsenders Keshet 12 gingen im Juni nur noch 28 Prozent der Befragten davon aus, dass das Ziel der Regierung, die Hamas zu „vernichten“, noch erreichbar sei. Das Gefühl, dass Netanjahu „uns gegen die Wand fährt“, wird hingegen stärker.

Als Armeesprecher Daniel Hagari am 19. Juni in einem Interview erklärte, dass „die Hamas eine Ideologie ist und man eine Ideologie nicht auslöschen kann“, war das ein Schlag ins Gesicht von „Bibi“ Netanjahu. Viele Israelis, die der Regierung geglaubt hatten, fragen sich plötzlich: „War also alles umsonst?“

Jehuda Schaul, Mitgründer der NGO Breaking the Silence (Shovrim Shtika), die seit 20 Jahren Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufdeckt2 , tröstet sich damit, dass das Scheitern „langfristig positive Auswirkungen“ haben könnte. „Wenn Bibi der Hauptverantwortliche für unsere Situation ist – und viele glauben, dass er es ist –, dann ist die Hamas nicht die einzige Ursache für unser Unglück. Und dann können wir anfangen, anders darüber nachzudenken.“ Allerdings sind viele Israelis nach wie vor überzeugt, ihre Regierung hätte „keine andere Wahl“, als den Krieg fortzusetzen.

Vor diesem Hintergrund sehen die jüngsten Wahlprognosen das Oppo­si­tions­bündnis knapp vor der regierenden Koalition aus Likud, Schas und anderen rechtsextremen und ultraorthodoxen nationalistischen Parteien. Letztere verzeichnen in den Umfragen zwar keine großen Zuwächse, aber unter Politologen ist man sich einig, dass ihre Agenda auf dem Vormarsch ist. Unter dem Druck der aus ihren Reihen stammenden Minister Itamar Ben-Gvir (Öffentliche Sicherheit) und Bezalel Smotrich (Finanzen) nutzt die Regierung den Krieg, um zahlreiche autoritäre Maßnahmen durchzusetzen.

Die Journalistin Orly Noy machte im Juli eine Bestandsaufnahme der in den letzten acht Monaten auf den Weg gebrachten Gesetzesvorhaben und anderer Maßnahmen.3 Hier ein paar Beispiele:

– Der Gesetzentwurf zur Autorisierung der Streitkräfte und des Geheimdienstes Schin Bet sieht vor, das Eindringen in private Computer zu erlauben, um dort Dokumente zu löschen, zu verändern und zu stören, ohne Wissen des Besitzers und ohne richterliche Genehmigung.

– Der Gesetzentwurf über „Likes“ will das Kommentieren mit Gefällt-mir-Symbolen von Posts kriminalisieren, die „zum Terrorismus aufrufen“; übersetzt heißt das: von Botschaften, die die Rechte der Palästinenser unterstützen.

– Die Schließung der israelischen Büros von Al Jazeera, dem einzigen Sender, der einen Insiderblick auf Gaza bot.

– Die Verhaftung von hunderten Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft, nur weil sie ihre Solidarität mit den Be­woh­ne­r:in­nen des Gazastreifens bekundet haben (siehe dazu auch den Beitrag von Ariane Bonzon auf Seite 14 f.).

Hinzuzufügen wäre noch, dass der populäre Fernsehsender Channel 13 am 11. Juli, wohl unter dem massiven Druck der Regierung, eingeknickt ist und die Zusammenarbeit mit Raviv Drucker aufgekündigt hat. Israels bekanntester investigativer Journalist gilt als der Mann, der von Netanjahu wohl am meisten gehasst, aber auch gefürchtet wird.

Es gibt noch viele weitere Anzeichen für eine autoritäre Verfestigung des politischen Regimes. So häufen sich in öffentlichen Debatten die Anschuldigungen gegen die „fünfte Kolonne“, jene jüdischen „Linksextremen“ und „Verräter“, die sich zu „nützlichen Idioten der Hamas“ machen ließen. In der Kulturszene, stellt der Stadtplaner Daniel Monterescu fest, komme es immer öfter zu Selbstzensur. Und Kulturminister Miki Zohar hat schon erklärt, dass er nur noch „unpolitische“ Filme fördern wolle.

„Brutalisierung“ ist das Wort der Stunde und in aller Munde. Hinter den Horrorbildern, die die Soldaten von ihren Übergriffen in Gaza verbreiten, stecke auch das Gefühl verletzter Männlichkeit, meint Thrall. „Rache, Vergeltung, das ist es, was wir seit neun Monaten sehen.“ Die Nachsicht gegenüber den Gewalttaten des Militärs färbt auf die Gesellschaft ab. Israelische Politiker reagierten „mit erschreckenden Aggressivität“ auf die Untersuchung des IGH, so der Journalist. Wenn sich Prominente einer brutalen Sprache bedienen, warum sollte sich der einfache Bürger anders verhalten?

Als im Mai ans Licht kam, dass im Militärgefängnis Sde Teiman palästinensische Gefangene gefoltert wurden4 , löste dies keinen öffentlichen Skandal aus. Aber als der Vater eines von der Hamas entführten Soldaten es im Fernsehen wagte, die Kriegsführung in Gaza zu kritisieren, schrie ihn ein Likud-Abgeordneter nieder: „Yallah! Yallah! Verschwinde von hier!“ Ein Gymnasiallehrer wurde entlassen, nachdem ihn die eigenen Schüler angezeigt hatten. „Verjagt die Verräter!“, steht auf einem Billboard am Ayalon Highway, dem Autobahnring um Tel Aviv. ­„Historisch gesehen entwickeln wir uns gerade sehr erfolgreich zurück“, ­resümiert der Psychologe Yohanan Yuval.

Als die Militärpolizei Ende Juli zehn Soldaten, die als Bewacher im Lager Sde Teiman dienten, wegen „schwerer Misshandlung“ palästinensischer Gefangener verhaftete, drangen Rechtsextreme in den Stützpunkt ein, um die Festnahmen zu verhindern. Darunter auch mehrere Abgeordnete der Parteien von Sicherheitsminister Ben-Gvir und Finanzminister Smotrich.

Staatspräsident Isaac Herzog erklärte daraufhin, der Hass auf Menschen, die terroristischer Handlungen beschuldigt werden, sei „gewiss verständlich und gerechtfertigt“. Und Justizminister Jariv Levin empörte sich: „Man hat diese Soldaten wie gewöhnliche Kriminelle verhaftet. Das ist inakzeptabel.“ Nur Oppositionsführer Jair Lapid verurteilte den Angriff öffentlich als „verachtenswerte kriminelle Handlung“.

An der extremen Rechten scheint die weit verbreitete depressive Stimmung vorbeizugehen. Sie weiß, was sie will, und kennt dabei keine Zurückhaltung. Die messianische Bewegung verspricht den Israelis eine siegreiche, ja glorreiche Zukunft mit der Annexion des Westjordanlands, des Gazastreifens und bald auch des Südlibanons sowie einer Wiederherstellung der Sicherheit durch die totale Vernichtung des Feindes. Rabbi Eliahu Mali, Leiter der Jeschiwa (Talmudschule) Schirat Mosche, bezeichnete den Krieg in Gaza als „religiöses Gebot“.5 Nach seiner Lesart der Bibel wird in diesem Fall niemand am Leben gelassen, weder Mann noch Frau, weder Kind noch Greis.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die messianische Bewegung stark ausgebreitet. Ihre Anhänger werden als „Chardalim“ bezeichnet, eine Wortschöpfung aus Charedim (die „Gottesfürchtigen“, also die Ultraorthodoxen), und den Buchstaben D und L für Dati Leumi (Nationalreligiöse). Beide Bewegungen haben sich in den vergangenen 30 Jahren immer mehr angenähert und propagieren hypernationalistisches und messianisches Judentum. Ihre Anhänger sind oftmals überzeugt, dass die Zeit für den Wiederaufbau des ­Jerusalemer Tempel gekommen sei – und zwar an der Stelle der Al-Aksa-­Moschee, der drittheiligsten Stätte des Islam.6

Shlomo, der als Arzt in der Nähe von Haifa praktiziert und ein erbitterter Gegner dieser Messianisten ist, hat mitbekommen, wie sie den 7. Oktober 2023 als „Nes Elohim“ (göttliches Wunder) bezeichnen. „Sie glauben, dass wir in die Zeit von Jehoschua ben Nun zurückgekehrt sind“, der laut Bibel das Land Kanaan gewaltsam erobert hat. Ein geläufiger Spruch, den sie oft wiederholen, erzählt Shlomo, lautet: „Manchmal muss man Gott helfen zu handeln.“ Die Palästinenser seien für die Chardalim nur Monster oder Untermenschen, ganz so, wie es in ihren militärischen Talmudschulen gelehrt wird. Inzwischen gibt es 33 solcher Schulen, aus denen die Frontkämpfer der mörderischsten Armeeeinheiten hervorgehen, etwa das 1999 gegründete Netzach-Jehuda-Bataillon („Ewiges Judäa“), das auch im Gazastreifen eingesetzt wurde.

„Die messianische Fraktion hat einen äußerst mächtigen Apparat aufgebaut“, erklärt Jair Leibl vom linksliberalen Thinktank Molad – the center for the renewal of Israeli democracy. „Sie dominiert den intellektuellen Diskurs.“ Und die Zukunft scheint ihnen zu gehören: 54 Prozent der israelischen Vorschulkinder kommen aus Chardalim-Familien, berichtet Adam Raz. Die Religiösen bekommen mehr als doppelt so viele Kinder wie der Durchschnitt der israelischen Bevölkerung. Laut Erez Pery wird die Konfrontation zwischen den Säkularen und den Religiösen „mehr als alles andere über die Zukunft entscheiden. Gewinnen die Säkularen, wird eine Offenheit auch in anderen Bereichen möglich bleiben, angefangen bei der Palästinafrage, der wichtigsten von allen. Wenn die Messia­nisten siegen, wird es das Ende sein.“

Das Ende von Israel? Es scheint unvorstellbar. Aber warum reden so viele Israelis ungefragt darüber und nicht nur die Linken? Die meisten von ihnen sind Gegner von Netanjahu und dessen Verbündeten. Sie stellen die Mehrheit der Demonstrant:innen, die sich täglich versammeln, um den Ministerpräsidenten auszubuhen und einen Geiseldeal zu fordern.

Am 1. September fand die bislang größte Demo dieser Art statt, in Tel Aviv versammelten sich bis zu 300 000 Menschen, nachdem die israelische Armee im Gazastreifen die Leichen von sechs Geiseln geborgen hatte. Auf den T-Shirts der Protestierenden steht „Regierung der Lügner“ oder auch „Mörder“ – was sich aber nicht auf die Gräueltaten gegen die im Gazastreifen eingesperrten Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen bezieht, sondern darauf, dass die Regierung die israelischen Geiseln in der Hand der Hamas im Stich gelassen habe.

„Die meisten wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, die palästinensische Frage in ihren Forderungen zu berücksichtigen“, beklagt die Dokumentarfilmerin Anat Even. Schilder mit der Forderung nach einem Ende des Kriegs sind auf den Demos nur sehr vereinzelt zu sehen.

Die besatzungskritische israelische Linke ist fast völlig isoliert. Sie macht „höchstens ein Prozent der Bevölkerung aus“, schätzt Jehuda Schaul. Dennoch gibt es seit einigen Monaten erste Ansätze von Widerstand. Am 13. Mai unterzeichneten 900 Eltern von Soldaten, die nach Gaza geschickt worden waren, eine Petition für die Beendigung des „unverantwortlichen Krieges“.7

Im Juni unterzeichneten 42 Reservisten, darunter auch Offiziere, einen offenen Brief, in dem sie erklärten, dass sie im Fall einer erneuten Einberufung nicht nach Gaza zurückkehren würden.8 „Ich möchte nicht, dass meine Kinder in zehn Jahren noch in Gaza kämpfen, um die Interessen des jüdischen Messianismus zu befriedigen“, sagt Raz, der zwei Kinder hat. Dieses Unbehagen breitet sich an den Rändern der Gesellschaft aus, und nicht nur in linken Kreisen.

Auch wenn die internationale Kritik an den israelischen Verbrechen in Gaza auf spontane Ablehnung in der Bevölkerung stößt – „alles Antisemiten“ –, werden die Imageschäden doch zunehmend zur Belastung. Zwar hat bislang kein arabisches Land mit Israel gebrochen. Aber wenn die prominente US-Senatorin Elizabeth Warren seit April 2024 von einem „Völkermord“ in Gaza spricht, dann sei das eine „bedeutsame Veränderung“, meint Nathan Thrall. Immer häufiger fällt auch die Bezeichnung „Pariastaat“.

Das israelische Außenministerium empfiehlt auf seiner Webseite Reisenden nach Europa, dass sie in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht Hebräisch sprechen und nicht offen einen Davidstern tragen sollten. Nur aus Vorsorge natürlich – früher musste kein Israeli im Ausland befürchten, als Krimineller betrachtet zu werden. So würden auch „immer mehr israelische Unternehmen ihre Identität verschleiern, um ihre Produkte zu vermarkten“, sagt Thrall.

Und dann sind da noch die, die das Land verlassen. Die Rede ist von 100 000 in den ersten sechs Kriegsmonaten. Wie viele es genau sind, weiß niemand, als handele es sich um ein Militärgeheimnis. In Tel Aviv gab es auf jeden Fall plötzlich freie Kindergartenplätze. „Die Zahl der Intellektuellen, Wissenschaftler und Künstler, die in den letzten acht Monaten fortgegangen sind, ist absolut beispiellos“, meint Eva Jablonka.

Zehntausende haben das Land verlassen

Wohin gehen sie? Nach Zypern oder Griechenland, die nur ein bis zwei Flugstunden entfernt sind. Der An­thro­pologe Yoram Bilu berichtet von einem Taxifahrer in Athen, der ihm sagte: „Fast alle meine Kunden sind jetzt Russen oder Israelis.“ Und wie viele wandern für immer aus, weil sie „nicht mehr mit dem leben wollen, was hier passiert?“, fragt sich Adam Raz. Sie sind meist zwischen 35 und 45 Jahre alt und gehen in die USA oder nach Deutschland, weil sie die finanziellen Mittel oder einen beruflichen Background haben, der es ihnen ermöglicht, in einem der beiden Länder Fuß zu fassen.

Andere bleiben, halten es aber kaum noch aus. Der 41-jährige Raz verkörpert nach eigenen Angaben „das Dilemma derer, die dieses Land nicht mehr ertragen, aber auch nicht gehen wollen oder können“. Die 30 Jahre ältere Jablonka wird deutlicher: „Mein Sohn ist Soziologe an der New York University und ich bin sehr froh darüber. Mein Bruder ist nach London gegangen. Ich selbst liebe und hasse dieses Land. Es ist meine Sprache und meine Landschaft. Aber nach dem, was wir getan haben, wird es sehr schwer sein, wieder eine menschenwürdige Gesellschaft aufzubauen. Ich rechne eher mit einem Absturz in den Faschismus.“

Wie sie äußert eine wachsende Zahl von Israelis große Bedenken. „Unsere Elite wird von Verrückten beherrscht. Ben-Gvir und Smotrich würden doch nicht einmal in Nordkorea Minister werden“, wirft Bilu ein. Und Pery meint: „Noch nie haben die Leute das Gefühl gehabt, dass das Land so kurz vor dem Zusammenbruch steht.“

In den Gesprächen kristallisieren sich zwei Hauptursachen für den Niedergang heraus. Der eine ist die kriselnde Wirtschaft. Die Ratingagentur Moody’s hat Israels Kreditwürdigkeit bereits herabgestuft. Der US-Konzern Intel, der 15 Milliarden US-Dollar in den Ausbau seiner Chipfabrik in Is­rael investieren wollte, stellte das Vorhaben im Juni ein. Wenn 10 Prozent der 200 000 in den wichtigsten Sektoren tätigen Israelis das Land verlassen, sei es „einfach nicht möglich, den Staat langfristig aufrechtzuerhalten“, berichten die zwei israelischen Ökonomen Eu­gene Kandell, ein Wirtschaftsberater Netanjahus, und Ron Tzur.9

Die zweite und größere Sorge ist, dass es zu einem Krieg mit der Hisbollah kommen könnte. In Israel sind die Meinungen darüber sehr gespalten. Auf der einen Seite wolle der gedemütigte israelische Generalstab „seinen Ruf wiederherstellen“, so der Politikwissenschaftler Menachem Klein von der Bar-Ilan-Universität. Einer der am häufigsten geäußerten Sätze lautet: „Wenn wir es heute nicht tun, dann werden wir es nie wieder tun können.“ 70 000 aus Nordisrael evakuierte Bewohner machen ihre Rückkehr davon abhängig, dass Israel eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone im Südlibanon dauerhaft besetzt. Auf der anderen Seite befürchten viele Israelis, dass diese Forderung den Auftakt zu einem entgrenzten Krieg bedeuten könnte.

„Die Befürworter eines Krieges im Norden leiden an Amnesie“, schimpft Klein. Sie hätten die Debakel der Armee zwischen 1982 und 2000 im Südlibanon und den Krieg gegen die Hisbollah, den Israel 2006 verloren hat, vollkommen verdrängt. Über welche Waffen diese Miliz heute verfügt, weiß niemand genau, aber es ist davon auszugehen, dass es mehr und modernere Waffen sind als 2006.

„In der israelischen Bevölkerung kommen Zweifel auf, seitdem sich die Meldungen über die Kapazitäten der Hisbollah, die Erschöpfung in der Armee und das Potenzial zur Zerstörung israelischer Städte häufen“, sagt der Soziologe und Armeespezialist Levy. Hunderttausende Israelis hätten Generatoren gekauft und in großen Mengen Wasser und gefriergetrocknete Lebensmittel gebunkert.

Vor allem aber wird die Angst vor einem für Israel verheerenden Krieg im Libanon von einem uralten und gleichzeitig für viele Israelis charakteristischen Gefühl begleitet: dass ihr Staat vom Verschwinden bedroht ist. „Dieses Land wird in 30 oder weniger Jahren nicht mehr existieren, das ist unausweichlich“, ist der Arzt Shlomo überzeugt. Jair Leibl sieht das ähnlich: „Wir müssen unbedingt den Kurs ändern. Wenn das nicht geschieht, wird Israel keine Zukunft haben.“

Für viele unserer Gesprächspartner hat die Angst vor dem Untergang Is­raels seit dem 7. Oktober ein nie dagewesenes Ausmaß angenommen. Bezeichnend dafür ist auch der lange Artikel des Chefredakteurs der Tageszeitung Haaretz, Aluf Benn, der im Februar unter dem Titel „Die Selbstzerstörung Israels“ erschien.10

Einige wenige suchen nach Gründen, die Hoffnung aufrechtzuerhalten. „Ich glaube nicht, dass Israel kurz vor dem Untergang steht“, sagt Klein, auch wenn sich das Land „enorm verändert“ habe, und zwar in eine Richtung, die er für vollkommen falsch hält. Schaul glaubt an die Möglichkeit einer Verbesserung: „Nach und nach verstehen immer mehr Menschen, dass sich nicht alles durch Gewalt lösen lässt. Es fehlt eine Perspektive, aber es ist doch eine wichtige Entwicklung.“

An manchen Morgen wacht der Dozent David Shulman „mit dem Gedanken auf, dass in Israel eine Antibesatzungsbewegung in Gang kommt. Denn wenn die Leute für die Freilassung der Geiseln demonstrieren, prangern sie ja in Wirklichkeit dieses gewaltige Desaster an.“ Am nächsten Tag stehe er dann allerdings mit dem Gefühl auf, dass Israel geradewegs auf einen „kollektiven Selbstmord“ zusteuert.

1 Nathan Thrall bekam die Auszeichnung in der Kategorie General Nonfiction für sein Buch „Ein Tag im Leben von Abed Salama“, Bielefeld (Pendragon) 2024. In LMd erschien im Oktober 2023 ein Abdruck aus der englischen Ausgabe unter dem Titel „Mauern, Panzer, Steine. Eine palästinensische Familiengeschichte“.

2 Siehe Meron Rapoport, „Sprechen über die Besatzung“, LMd, September 2011.

3 Siehe Orly Noy, „Only an anti-fascist front can save us from the abyss“, +972 Magazine, 4. Juli 2024.

4 Siehe etwa Jonah Valdez, „Video of Sexual Abuse at Israeli Prison is just latest evidence Sde Teiman is a torture site“, The Intercept, 9. August 2024.

5 Siehe das Zitat auf der englischen Webseite von Memo (Middle East Monitor): „Yaffa Rabbi, ‚According to Jewish Law, all Yaffa residents must be killed‘“, 9. März 2024.

6 Siehe Jakob Farah, „Der Berg ruft“, LMd, Februar 2017.

7 „900 soldiers’ parents urge military to halt,deathtrap' offensive in Gaza Rafah“, 13. Mai 2024, firstpost.com.

8 Liza Rozovsky, „Three Israeli army reservists explain why they refuse to continue serving in Gaza“, Haaretz, 27. Juni 2024.

9 „Social upheaval will lead Israel to collapse in coming years“, 22. Mai 2024, TheCradle.co.

10 Aluf Benn, „Israel’s Self-Destruction. Netanyahu, the Palestinians, and the Price of Neglect“, Foreign Affairs, 7. Februar 2024.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Sylvain Cypel ist Journalist und Autor von „L’État d’Israël contre les Juifs. Après Gaza“, Paris (La Découverte) 2024.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Sylvain Cypel