Kooperation auf Eis
Die Arktis und der Ukrainekrieg
von Didier Ortolland
Die Arktis zählt zu den Kollateralopfern des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Grund dafür ist weniger die zunehmende Militarisierung als die lahmgelegte Verwaltung der gesamten Polarregion. Das beeinträchtigt nicht nur die politische Stabilität in der Arktis, sondern auch die wissenschaftliche Forschung, die zum Verständnis klimatischer Entwicklungen unverzichtbar ist. Zudem nutzen Öl- und Gastanker immer häufiger die Nordostpassage, die durch ein besonders empfindliches Ökosystem führt. Eine weitere überraschende Folge des Kriegs ist, dass die USA ihre Gebietsansprüche auf einen 500 000 Quadratkilometer großen Kontinentalsockel in der Tschuktschen- und Beaufortsee modifiziert haben.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs gelang es, eine einzigartige multilaterale Verwaltung der Arktis aufzubauen: Seit 1996 gehören dem Arktischen Rat die acht Anrainerstaaten Kanada, Dänemark (für Grönland), USA, Finnland, Island, Norwegen, Russland und Schweden an, dazu kommen sechs Vertretungen der indigenen Bevölkerung der Polarregion als Ständige Teilnehmer sowie 13 Beobachterstaaten. Entscheidungen können nur durch die acht Mitgliedstaaten getroffen werden, die im Rotationsprinzip für jeweils zwei Jahre den Vorsitz übernehmen. 2021 übernahm Russland den Vorsitz – und sollte ihn eigentlich bis 2023 ausüben.
Nach dem 24. Februar 2022 beschlossen die übrigen Mitgliedstaaten, die Zusammenarbeit mit Moskau auf Eis zu legen. Es ging niemals darum, Russland dauerhaft auszuschließen, denn die Hälfte der betroffenen Küsten und der nördlich des Polarkreises lebenden Menschen sind russisch. Auch Moskau wollte sich nicht aus dem Rat zurückziehen, um die Zusammenarbeit in dem strategisch wichtigen Gebiet nicht zu gefährden. So fuhr die russische Präsidentschaft ohne die übrigen Mitglieder mit der Umsetzung ihres Programms fort, mit Unterstützung befreundeter Beobachter wie China und Indien. Diese absurde Situation dauerte bis Mai 2023, dann übergab Russland in einer Videokonferenz den Vorsitz an Norwegen.
Erstaunlicherweise unterzeichneten die acht Mitgliedstaaten anlässlich der Übergabe eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich verpflichten, weiter an der Stärkung des Arktischen Rats und der Umsetzung seines 2021 verabschiedeten Strategieplans zu arbeiten. Sie erkannten außerdem ihre gegenseitige Abhängigkeit in der Arktisregion an und räumten gleichzeitig ein, dass auf der internationalen Ebene große Differenzen bestehen. Der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre bemerkte dazu, man dürfe nicht „die Türen verschließen und die Schlüssel wegwerfen. Eines Tages treffen wir uns vielleicht alle am Arktis-Tisch wieder.“
Die norwegische Diplomatie besitzt große Verhandlungserfahrung mit dem übergriffigen Nachbarn. Im Februar 2024 erklärte Nikolai Kortschunow, der russische Botschafter für internationale Zusammenarbeit in der Arktis, alle Optionen inklusive eines völligen Rückzugs zu prüfen, und verkündete, den russischen Beitrag zum Sekretariat auszusetzen, „bis der Rat seine gesamten Aktivitäten wieder aufnimmt“. Das ist jedoch reine Symbolpolitik, denn das kleine Sekretariat des Arktischen Rats im norwegischen Tromsø finanziert keinerlei Projekte und der Kontakt zu Moskau bleibt bestehen.1
Der Rat hat sechs Arbeitsgruppen, die sich in erster Linie dem Umweltschutz widmen. Dabei wurden echte Fortschritte erzielt: Sechs Arktisstaaten haben zusammen mit den großen Fischereinationen China, Japan und Südkorea sowie der EU 2018 ein Abkommen geschlossen, das den Fischfang in den künftig eisfreien Gewässern untersagt.
Seit Februar 2022 sind die Arbeitsgruppen zwar weiterhin tätig, treffen sich aber nicht zu gemeinsamen Sitzungen. Die Forschung zur Klimakrise leidet darunter, dass keine Daten aus den russischen Territorien mehr übermittelt werden. So sind etwa die Folgen der auftauenden Permafrostböden schwer zu ermitteln, obwohl die mögliche Freisetzung erheblicher Mengen von Kohlendioxid und Methan einen massiven Treibhauseffekt haben könnte. Es war ein ermutigendes Zeichen, dass die norwegische Präsidentschaft Anfang März verkündete, die Arbeitsgruppen könnten sich bald wieder online mit russischen Wissenschaftler:innen treffen.
Der Ukrainekrieg beeinflusst auch den Schiffsverkehr auf der Nordostpassage, den Wladimir Putin ausbauen will. Russische Tanker beliefern trotz Sanktionen weiterhin LNG-Terminals in Spanien, Belgien und Frankreich mit Flüssiggas. Diese Transporte gehen über die ganzjährig eisfreie Barentssee und stellen ein eher geringes Umweltrisiko dar. Der Löwenanteil des russischen Öls gelangt von Terminals an der Ostsee und am Schwarzen Meer über das Mittelmeer und den Suezkanal auf die indischen und chinesischen Märkte.
Die Sanktionen haben auch das Gasförderprojekt Arctic LNG 2 des Unternehmens Nowatek ausgebremst, da die bei der japanischen Werft Mitsui bestellten Schiffe nicht ausgeliefert wurden. Allerdings befährt jetzt die Flotte des Konzerns Yamal LNG die Nordostpassage Richtung Pazifik. Es wurden Öltanker gesichtet, die nach China unterwegs waren; einer davon verfügte nicht über die in diesen Gewässern nötige Eisklasse. Zum ersten Mal seit 2018 nahmen auch kleine Containerschiffe mit einer Kapazität von 1500 bis 3000 TEU (20-Fuß-Standardcontainer) diese Route, obwohl sie für diesen Schiffstyp als schwer befahrbar gilt, weil es auf 5600 Kilometern keine entsprechende Hafeninfrastruktur gibt.
Aufgrund dieser Entwicklungen hat der Schiffsverkehr auf der Nordostpassage trotz der ungünstigen Bedingungen 2023 leicht zugenommen. Nach Angaben des staatlichen Atomenergiekonzerns Rosatom, der auch für den Ausbau der Nordostpassage zuständig ist, entfällt die Hälfte des Schiffsverkehrs auf LNG-Tanker, der Rest auf die umgeleiteten Warenströme von West nach Ost – vor allem Öl und Nickel, die hauptsächlich nach China gehen. Von Putins 2019 anvisiertem Ziel von 80 Megatonnen bis 2025 ist man zwar noch weit entfernt, doch der Verkehr auf der Passage hat sich verstetigt.
Der Krieg befeuert noch ein anderes Phänomen: Das Nordpolarmeer ist das beste Beispiel für die aktuellen Bestrebungen zahlreicher Küstenstaaten, ihre Festlandsockel über die ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) von 200 Seemeilen hinaus auszudehnen. Gemäß dem UN-Seerechtsübereinkommen (Unclos) ist die Festlandsockelgrenzkommission (FSGK) für die Prüfung und Anerkennung solcher Territorialforderungen zuständig.
Russland hat 2001 als erster Arktisstaat einen solchen Antrag gestellt, doch auch nach der Übermittlung ergänzender Informationen 2015 hat die FSGK die Forderungen Moskaus noch immer nicht bestätigt. Denn es gibt tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die geologische Einstufung des Meeresbodens im Nordpolarmeer, vor allem am Lomonossow-Rücken. Dänemark (2014) und Kanada (2019) haben ebenfalls Anträge für dieses Seegebiet gestellt; doch die FSGK ist eine relativ kleine Behörde und hat es bislang nicht geschafft, die Anträge zu überprüfen.
Die USA, die mit Alaska an den Arktischen Ozean grenzen, haben sich an diesem Wettbewerb um das Kontinentalschelf der Arktis bislang nicht beteiligt. Denn sie befinden sich in einer rechtlich unklaren Situation. Wegen des Widerstands republikanischer Senatoren hat Washington das Unclos nicht ratifiziert und ist deshalb auch kein Mitglied der FSGK; ob sie als Nichtmitglied überhaupt einen Antrag stellen können, ist fraglich. Zudem gibt es die Sorge vor einer Blockade durch FSGK-Mitglieder, die dasselbe Gebiet beanspruchen.
Vor Februar 2022 wollte das US-Außenministerium bei der FSGK einen Antrag für die Erweiterung sämtlicher Küstengebiete einschließlicher derer im Arktischen Ozean stellen. Weil es aktuell kaum denkbar ist, dass die russische FSGK-Delegation einen solchen Antrag durchgehen lässt, hat Washington seine Forderungen am 19. Dezember 2023 öffentlich gemacht. In einem Begleitdokument heißt es, dass die nach dem Unclos und den technischen Richtlinien der FSGK erforderlichen wissenschaftlichen Belege sogleich nach der Ratifizierung des Unclos übermittelt werden sollen. So kann Washington das Datum festlegen und davon ausgehen, dass seine Gebietsansprüche allgemein bekannt sind; sie beziehen sich auf insgesamt 1 Million Quadratkilometer, die Hälfte davon in der Arktis.
Die US-Forderungen betreffen nicht die zentrale Arktis, um die sich Kanada, Dänemark und Russland streiten, sondern das Schelf der Tschuktschensee, das an den russischen Festlandsockel grenzt. Kurz vor dem Ende der UdSSR hatten Washington und Moskau ihre Seegrenze in der Beringsee und der Tschuktschensee am 1. Juni 1990 durch ein Abkommen geregelt. Darin heißt es, dass die Grenze im Nordpolarmeer entlang eines Meridians verläuft und „sich so weit nach Norden erstreckt, wie es das Völkerrecht erlaubt“. Damals wollten beide Staaten keine Aussage über die Ausdehnung des Schelfs treffen, weil es dazu noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen gab.
Die Grenze zwischen den Hoheitsgewässern der USA und Russlands verläuft also entlang des festgelegten Längengrads, allerdings behauptet Washington, das Schelf der Tschuktschensee reiche bis 82 Grad nördlicher Breite, während Moskau meint, sein Festlandsockel erstrecke sich bis zum Nordpol. Am 18. März 2024 widersprach Russland vor der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) der US-Forderung nach Ausdehnung des Festlandsockels in der Arktis und verwies darauf, dass die meisten Staaten ihre Anträge bei der FSGK stellen. Es drängte die USA damit, dem Unclos beizutreten. Duma-Abgeordnete, die das Grenzabkommen von 1990 aufkündigen wollen, rief der russische Außenminister Sergei Lawrow zur Ordnung. Womöglich eine Art Friedenszeichen.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Didier Ortolland war im französischen Außenministerium für internationales Seerecht zuständig.