08.08.2024

Wie sicher ist Syrien?

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Wie sicher ist Syrien?

Deutschland will Schwerkriminelle und Gefährder nach Syrien abschieben. Im Juli wurde erstmals einem Syrer der subsidiäre Schutz verweigert. Der Mann stammt aus Hasaka im Nordosten – dort kämpfen die Menschen gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat und das, was vom einstigen „Kalifat“ übriggeblieben ist.

von Kristin Helberg

Al-Na’im-Platz (Paradiesplatz) im Zentrum von Rakka, Oktober 2023 CHRIS HUBY/picture alliance/zumapress
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Noch nie stellte sich die Frage, wie sicher Syrien ist, so dringend wie heute. Im Juli verweigerte das Oberverwaltungsgericht Münster einem Syrer erstmals subsidiären Schutz. Begründung: Es bestehe in Syrien keine pauschale Gefahr mehr für Leib und Leben – weder „infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts“ noch durch Folter oder unmenschliche Behandlung.

Für tausende Syrer, die Monat für Monat in Deutschland Asyl beantragen, ist das eine bedrohliche Entwicklung. Denn auf dieser Grundlage hatten syrische Geflüchtete, die kein Recht auf Asyl haben, bislang in der Regel subsidiären Schutz bekommen.

Gleichzeitig prüft das Bundesinnenministerium, wie Islamisten und Schwerkriminelle nach Syrien und Afghanistan abgeschoben werden können, ohne dabei gegen Menschenrechts- und Asylbestimmungen zu verstoßen.

Ein schwieriges Unterfangen angesichts der Machtverhältnisse vor Ort: In Afghanistan herrschen seit 2021 die extremistischen Taliban, ihnen wären zurückkehrende Islamisten und damit verbundenes Geld, das sie für deren weitere Verwendung nutzen könnten, sicher willkommen. In Sy­rien herrscht vor allem Angst. Je nachdem wo die Menschen leben, fürchten sie Verhaftung und Folter, islamistische Milizen, türkische Luftangriffe oder ­eine Rückkehr der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).

Nach 13 Jahren Krieg ist das Land in vier Einflusszonen geteilt – gibt es dadurch vielleicht mehr Optionen für die Rückführung von Syrern? Könnten deutsche Sicherheitsbehörden mit lokalen Akteuren verhandeln, ohne allzu großen diplomatischen Schaden anzurichten? Und wer wären die Ansprechpartner?

Offiziell zuständig ist Syriens Machthaber Baschar al-Assad, gegen den ein französischer Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Sein Regime kontrolliert zwei Drittel des Landes, dort leiden die Menschen unter einem mafiaähnlichen System aus Repression, Korruption und Folter. Abgeschobene Straftäter wären für Assad das perfekte Druckmittel, um von Deutschland Geld und politische Anerkennung zu erpressen.

Beides würde ein Regime stabilisieren, das die Rückkehr von Millionen Syrerinnen und Syrern verunmöglicht und die Hauptverantwortung für monatlich 6000 Asylerstantragsteller in Deutschland trägt (ein Viertel davon sind Kinder bis 11 Jahre).

Gerade Dschihadisten instrumentalisiert der syrische Geheimdienstapparat seit Jahrzehnten, um interne und externe Gegner zu destabilisieren und die eigene Herrschaft zu zementieren. Abgeschobene würden hier nicht gerecht bestraft, sondern als Faustpfand missbraucht.

Auch im Nordwesten des Landes wären radikale Straftäter nicht sicher verwahrt. Dort herrscht die Extremistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) über Teile der Provinz Idlib. Als international gelistete Terrororganisation kann sie kein Partner für Rückführungen sein.

In den türkisch besetzten Grenzgebieten im Norden treiben von der Türkei finanzierte Söldner der Syrischen Nationalen Armee (SNA) ihr Unwesen. In ihren Reihen finden sich auch ehemalige IS-Kämpfer. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen einzelne SNA-Milizen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. In einem völkerrechtswidrig besetzten Gebiet voller krimineller Banden gibt es für die Bundesregierung naturgemäß keine Ansprechpartner für Abschiebungen.

Bleibt der Nordosten, fast ein Drittel des Landes, der von der kurdisch dominierten Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (­DAANES) kontrolliert wird. Im Vergleich zum Rest des Landes ist hier manches besser: Es gibt mehr Freiheiten für Medien und Zivilgesellschaft, die Todesstrafe wurde abgeschafft, Führungspositionen werden mit Frauen und Vertretern von Minderheiten besetzt. Trotzdem ist der Nordosten nicht sicher, denn er ist zwei Gefahren gleichzeitig ausgesetzt – türkischen Drohnenangriffen und IS-Dschihadisten.

DAANES-Vertreter erklärten sich dennoch bereit, rückkehrwillige Syrer aufzunehmen – allerdings keine Straftäter und Islamisten: Die Selbstverwaltung ist schon mit der Verwahrung und Versorgung zehntausender ehemaliger IS-Mitglieder überfordert.

Aufgeteilt in vier Einflusszonen

Mehr als fünf Jahre, von Ende 2013 bis Anfang 2019, herrschte die Terrormiliz im Osten Syriens. Die Gebiete des damaligen „Kalifats“ zählen heute zur DAANES, denn es waren ihre Kämpfer – die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) –, die mit internationaler Unterstützung die Dschihadisten vertrieben. Im März 2019 verlor der IS seine letzte Schlacht in Baghuz nahe der irakischen Grenze. Seitdem gilt er als besiegt – zumindest hinsichtlich seiner territorialen Kon­trolle.

Für den Westen hatte sich das Thema damit erledigt, nicht jedoch für die Menschen vor Ort. Sie leiden bis heute unter den Folgen der IS-Zeit. Viele haben Familienmitglieder verloren und mussten miterleben, wie Freunde oder Nachbarn verhaftet, öffentlich ausgepeitscht oder hingerichtet wurden. Den jungen Erwachsenen fehlen wertvolle Schuljahre, weil sie unter der IS-Herrschaft keinen regulären Unterricht hatten, andere fürchten die noch immer präsente radikale IS-Ideologie und eine Rückkehr der Dschihadisten.

Diese scheint immer wahrscheinlicher. Die US-Streitkräfte in der Re­gion gehen von 3000 bis 5000 aktiven IS-Kämpfern in Syrien und Irak aus, deren Anschläge sich im Vergleich zu 2023 voraussichtlich verdoppeln werden. Auch die gefangen genommenen IS-Mitglieder sind eine wachsende Gefahr. Dutzende Dschihadisten sind in der Vergangenheit aus den Gefängnissen der DAANES ausgebrochen.

In den Lagern wächst eine neue Generation von Kämpfern heran – indoktriniert von ihren Müttern, heimlich ausgebildet im Lager und dann herausgeschmuggelt mit Hilfe von Untergrundzellen. In den ländlichen und armen Regionen von Deir al-Sor ist die Not groß und jedes Einkommen willkommen. Manche Bewohner kooperieren deshalb mit den Dschihadisten.

Das Erbe des IS lastet schwer auf dem Nordosten. 9000 Kämpfer und mehr als 45 000 Angehörige der Terrormiliz sitzen in den Gefängnissen und Lagern der DAANES. Sie müssen bewacht, vor Gericht gestellt, versorgt und wenn möglich resozialisiert werden. 15 000 von ihnen sind weder syrische noch irakische Staatsbürger, sondern sogenannte Drittstaatler, darunter 6000 Kinder und Jugendliche, die von ihren Eltern mit nach Syrien genommen wurden oder hier geboren sind.

Die Behörden der DAANES müssen sich also um 9000 erwachsene Menschen kümmern, die sich in anderen Ländern radikalisiert und dann dem IS angeschlossen haben, darunter etwa 30 deutsche Männer. Vor diesem Hintergrund erscheint die aktuelle Debatte über die Abschiebung von 65 polizeibekannten syrischen Gefährdern geradezu weltfremd.

Die Selbstverwaltung wird mit diesem Problem weitgehend alleingelassen. Zwar erklärten sich in letzter Zeit immer mehr Länder bereit, Frauen und Kinder zu repatriieren – Deutschland hat 27 Frauen, 80 Kinder und einen Heranwachsenden zurückgeholt. Außerdem werden die SDF im Kampf gegen untergetauchte IS-Terroristen und bei der Bewachung der Gefängnisse und Lager von 900 in Nordostsyrien stationierten US-Militärs unterstützt. Aber was die Rückführung männlicher Kämpfer und eine internationale juristische Aufarbeitung der Verbrechen angeht, laufen die Bemühungen der ­DAANES seit fünf Jahren ins Leere.

Wie kann der Nordosten Syriens angesichts solcher Herausforderungen stabilisiert werden? Was hilft gegen eine menschenverachtende Ideologie? Lassen sich IS-Frauen resozialisieren? Und wie versöhnt man Menschen in einer von Gewalt und Misstrauen geprägten Gesellschaft?

Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt zu ehemaligen IS-Anhängerinnen nach Tabqa, zu einer kurdischen Kämpferin, einem NGO-Projekt in Rakka und Malkursen in einem Lager für IS-Mitglieder. Dabei könnten die ideologischen Gegensätze kaum größer sein. In Nordostsyrien kämpfen tausende junge Kurdinnen mit der Waffe in der Hand für ihre Freiheit, während manche Mädchen mit 13 Jahren verheiratet werden; eine linksmarxistische Partei propagiert Basisdemokratie und Geschlechterparität – jede Führungsposition ist mit einer Frau und einem Mann besetzt –, während tiefgläubige Lehrerinnen fordern, mit Gesichtsschleier arbeiten zu dürfen. Willkommen in der Autonomen Verwaltung der Widersprüche.

In Tabqa sitzen neun Frauen um einen großen Konferenztisch. Sie tragen den Nikab, sind also schwarz verhüllt bis zu den Augen. Ab 2013 hatten sie sich dem IS angeschlossen, nach dessen Niederlage kamen sie nach al-Hol, das größere der beiden abgeriegelten Lager für IS-Mitglieder unweit der Grenze zum Irak. Weil ihre Familien für sie bürgten, durften sie al-Hol verlassen. Seit Juli 2019 sind sie zurück in Tabqa, einer Kleinstadt an den grünen Ufern des Euphrats, einst bekannt für seine Ausflugslokale und beliebt bei Touristen.

Aicha1 ergreift als Erste das Wort. Sie hat an der Universität Aleppo Arabisch studiert und vor dem Krieg als Lehrerin für das Assad-Regime gearbeitet. Die Rückkehr nach Tabqa sei schwer gewesen, sagt die 42-Jährige. „Unsere Familien haben sich nicht um uns gekümmert, keiner hat gefragt, wie es uns geht oder was wir brauchen.“ ­Aicha hat vier Kinder, ihr Mann sitzt im Gefängnis. Bis heute stünden sie als IS-Frauen am Rande der Gesellschaft, erklärt sie. „Die Nachbarn gehen uns aus dem Weg, sie sehen uns als Terroristinnen und wollen nichts mit uns zu tun haben.“

Die meisten der Rückkehrerinnen leben isoliert und in großer Armut. Sie sind alleinerziehend mit mehreren Kindern, die Männer entweder tot oder inhaftiert. Ihre Familien wollen oder können sie nicht unterstützen, weil sie selbst kaum über die Runden kommen oder weil sie den Frauen die alleinige Schuld an ihrer Misere geben.

Alia, eine junge Frau Mitte 20, findet das ungerecht. Sie ist geschieden und hat drei Kinder, fünf, sieben und neun Jahre alt. Sie erzählt ihre Lebensgeschichte so, als hätte sie keine andere Wahl gehabt. Während des Kriegs hätten verschiedene bewaffnete Gruppen in Tabqa die Macht übernommen, die Leute hätten sich untergeordnet, um zu überleben. Auch der IS habe Gehorsam gefordert, so Alia: „Sie haben Stellen aus dem Koran genommen, und dann Dinge dazu erfunden, die gar nicht dort stehen“, sagt sie. Anfangs hätte sie das nur widerwillig akzeptiert, doch irgendwann sei es normal gewesen. „Wenn jemand Fremdes mich bedroht, dann mache ich, was er will, damit er mir nichts tut“, erklärt sie.

Als der IS aus Tabqa vertrieben wurde, sind Alia und die anderen Frauen mitgezogen – das unterscheidet sie von den meisten anderen Bewohnern, die blieben und sich befreit fühlten. Syrerinnen, die dem IS gefolgt und nach dessen Niederlage im Lager al-Hol gelandet sind, gelten deshalb als Anhängerinnen und nicht als Mitläuferinnen. Alia begründet ihre Entscheidung mit Furcht: „Wir hatten Angst, dass die ­neuen Machthaber uns als IS-Anhängerinnen betrachten und deshalb verhaften und töten würden“, sagt sie.

Der IS verbreitete jahrelang Lügen über „ungläubige kurdische Kämpfer“, die Frauen und Kinder sofort umbringen würden. Die Angst sitzt deshalb auf beiden Seiten tief. Das einzige Mittel dagegen sei Begegnung, sagt der 28-jährige Kardo von der Hilfsorganisation Dan for Relief and Development (DRD) – das erste Wort „dan“ ist Kurdisch und bedeutet „geben“. Die mit Geldern aus Europa und den USA finanzierte lokale NGO ist eine der ersten, die sich in Nordostsyrien um die Resozialisierung von IS-Frauen bemüht; mit Workshops, beruflicher Weiterbildung, psychologischer Betreuung und Angeboten für die Kinder.

Die Nachbarn würden ihrem Nachwuchs verbieten, mit den Kindern der IS-Frauen zu spielen, erzählt Kardo. Dabei bräuchten sie dringend psycho­soziale Unterstützung: „Sie kommen aus den Lagern, haben beim IS gelebt, sie haben gesehen, wie ihre Väter gestorben sind. Am Ende sind sie nur Kinder, die sichere Orte zum Spielen brauchen.“

Auch Alias jüngere Kinder gingen mehrere Monate zu den DRD-Aktivitäten. Dann lief das Projekt aus, und es gab kein Geld für eine Verlängerung. „Meine Kinder waren sehr glücklich dort, sie haben Freunde gefunden“, erzählt Alia. Sie selbst hat mit Unterstützung des DRD eine sechsmonatige Weiterbildung zur Frisörin gemacht, findet aber keine Arbeit. „Ich habe viel gelernt und könnte jetzt als Frisörin arbeiten oder einen Salon eröffnen, aber mir fehlt das Geld dazu“, beklagt die junge Frau. „Wir bemühen uns, integrieren uns, aber am Ende bringt das alles nichts – was sollen wir tun?“

Keine der Frauen hat nach dem Berufstraining Arbeit gefunden. Aicha hat mehr Glück, sie gibt private Nachhilfestunden in Arabisch. Mit ihrem Universitätsabschluss könnte sie als Lehrerin arbeiten, aber in den Schulen der Selbstverwaltung müsste sie den Gesichtsschleier ablegen, und das will sie nicht. Verhüllt unterrichte sie erfolgreich Schüler der neunten Klasse und Abiturienten, sagt sie. „Sie verstehen alles und schreiben gute Noten.“ Dass die Selbstverwaltung sie nicht mit Nikab anstellt, findet sie diskriminierend.

Die DAANES akzeptiert die Vollverschleierung in der Öffentlichkeit, in Nordostsyrien darf jeder Mensch tragen, was er will. Nur im Unterricht sollen die Lehrerinnen ihr Gesicht zeigen. Warum legt Aicha den Nikab nicht ab? Schließlich trug sie vor dem Krieg auch ein Kopftuch. Sie habe sich daran gewöhnt, erwidert die Lehrerin: „Wenn du jemanden nicht grüßen willst, kannst du einfach vorbeilaufen, der Nikab schützt das Gesicht vor Sonne, keiner erkennt mich.“

Den Bewohnern von Tabqa machen es die Frauen damit schwer. Woher sollen sie wissen, dass die schwarz verhüllten Frauen ihre Ansichten geändert haben, wenn sie sich noch genauso anziehen wie beim IS? Das weite schwarze Gewand ist in Syrien unüblich, konservative Musliminnen tragen hier einen langen Mantel und ein helles Kopftuch.

Wie denken die Frauen über ihre Zeit beim IS, über dessen Ideologie und die Verbrechen? Aicha zögert einen Moment. Sie habe sich im Kalifat Gott näher gefühlt und sei glücklich gewesen, erklärt sie dann. Aber der IS habe viele Fehler gemacht. „Sie haben eine richtige Theorie falsch umgesetzt“, meint sie und beteuert, dass sie die extremistischen Ideen und das radikale Verhalten der Dschihadisten ablehnt.

Die 26-jährige Roxanne ist schwarz verhüllten Frauen gegenüber skeptisch. Sie trägt grünen Flecktarn, ihre langen braunen Haare sind zum Zopf zusammengebunden. Roxanne ist Sprecherin der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), der weiblichen Brigaden innerhalb der Volksverteidigungseinheiten (YPG), die den größten Teil der SDF stellen. Laut Roxanne leben in al-Hol bis heute viele überzeugte Extremistinnen, die an der Rückkehr des Kalifats arbeiteten, darunter vor allem Ausländerinnen. Sie seien für die ideologische Indoktrination der Kinder und die Durchsetzung der „Kalifat-Regeln“ zuständig, erklärt die Kämpferin. Außerdem würden sie andere Frauen bedrohen und die Rekrutierung männlicher Jugendlicher organisieren.

Damit die syrischen IS-Frauen, die al-Hol verlassen durften, nicht erneut unter den Einfluss der Dschihadisten gerieten, müssten sie wirtschaftlich und auch psychisch gestärkt werden, meint Roxanne. „Wir wissen von einigen Fällen, in denen der IS versucht hat, die Rückkehrerinnen zu kontaktieren“, erzählt die YPJ-Sprecherin, „sie haben ihnen Geld angeboten oder versprochen ihnen zu helfen.“

Gefährdeter Wiederaufbau im Nordosten

Roxanne ist in Afrin aufgewachsen. 2013 hat sie sich den YPJ angeschlossen. 2018 kämpfte sie in Afrin gegen einrückende türkische Truppen; seitdem ist ihre Heimatstadt von der Türkei besetzt. Von der internationalen Gemeinschaft fühlt sich die Kurdin im Stich gelassen – keiner kümmere sich um die Verbrechen der SNA in Afrin und die türkischen Drohnenangriffe auf das Gebiet der Selbstverwaltung. Diese richten sich nicht nur gegen kurdische Militärs, sondern töten auch Zivilisten und zerstören Infrastruktur. Die Strom- und Energieversorgung in der Region ist deswegen dauerhaft erschwert.

Die Bedrohung seitens der Türkei behindere außerdem den Kampf gegen den IS, erklärt Roxanne. Wann immer die Türkei angreife, nutze der IS die Gelegenheit, um Anschläge zu verüben oder Gefangene zu befreien. Die Gefahr, die von den Dschihadisten ausgehe, sei keineswegs gebannt, betont die Militärsprecherin und fordert mehr internationale Unterstützung für die SDF. Der IS werde von Tag zu Tag stärker, sagt Roxanne: „Das ist nicht nur für uns in Syrien ein Problem, sondern weit über die Region hinaus.“ Die Türkei und der IS seien allerdings nicht ihre einzigen Feinde, betont die Kurdin, sie kämpfe auch für die „Befreiung der Frau“.

In Rakka haben Iman und ihre Nachbarinnen schon zweimal „Befreiung“ gefeiert. Die Frauen sitzen in einem Besprechungsraum der NGO Ashti im Zentrum von Rakka. Kein anderer Ort in Syrien hat unter den gewaltvollen Machtwechseln der vergangenen 13 Jahre so gelitten wie die 300 000-Einwohner-Stadt am Euphrat. Im Zuge der syrischen Revolution, die 2011 begonnen hatte, vertrieben Demonstrierende 2013 das Assad-Regime. Nach 50 Jahren Einparteiensystem feierten damals Aktivisten im ganzen Land Rakka als die erste befreite Provinzhauptstadt ­Syriens.

Nur wenige Monate später übernahm der IS die Kontrolle und machte Rakka zur Hauptstadt seines „Kalifats“. Das Fußballstadion wurde zum Gefängnis, der zentrale „Paradiesplatz“ zum „Platz der Hölle“, auf dem der IS seine Feinde hinrichtete und abgehackte Köpfe zur Abschreckung auf Zäune spießte. Vier Jahre später vertrieben die SDF-Truppen mit Unterstützung der von den USA angeführten internationalen Anti-IS-Koalition die Dschihadisten aus Rakka.

Wenn sich Iman an jenen Tag im Oktober 2017 erinnert, strahlt ihr rundes Gesicht: „Eine kurdische Soldatin kam in unsere Straße und rief: ‚Ihr könnt herauskommen, der IS ist weg‘ “, erinnert sich die 32-Jährige. Sie habe die schwarze Abaja und den Nikab ausgezogen und sei auf die Straße gelaufen. „Endlich konnte ich wieder atmen“, erzählt sie mit einem Lachen, in dem Moment sei ihre Seele in den Körper zurückgekehrt. Seitdem trägt Iman wieder ein helles Kopftuch.

Komplett „befreit“ fühlt sich die Syrerin dennoch nicht. Sie wurde mit 13 Jahren verheiratet – lange vor der IS-Herrschaft. Mit 17 hatte sie bereits drei Kinder. Um diese nicht zu verlieren, blieb sie bei ihrem gewalttätigen Ehemann. Sie lernte Schneiderin und verdient mit Änderungsarbeiten zu Hause etwas eigenes Geld.

In dem Vorort von Rakka, in dem Iman und die anderen Frauen leben, herrsche große Not, erklärt Vyan, die Direktorin von Ashti. Zugezogene aus Deir al-Sor, die in Zelten und halbfertigen Unterkünften leben, würden von den Einheimischen angefeindet, deren Häuser noch immer beschädigt sind, so Vyan. Durch die massiven Luftangriffe des US-Militärs während der Befreiung wurden weite Teile der Stadt zerstört. Der IS hatte außerdem Minen gelegt, die zunächst geräumt werden mussten. Die Instandsetzung der Strom- und Wasserversorgung und der Wiederaufbau Rakkas dauerten Jahre und sind bis heute nicht abgeschlossen.

Vyan ist 43 Jahre alt, sie trägt Jeans, weiße Turnschuhe und die Haare stufig geschnitten – für Rakka ein eher ungewöhnliches Outfit. Die Kurdin hat in Damaskus Medienwissenschaften studiert, 2013 kehrte sie in ihre Heimatstadt Qamishli ganz im Nordosten des Landes zurück und beschloss, mit vier Freundinnen ein Zentrum für Frauen und Kinder zu gründen. Zehn Jahre später war daraus eine NGO mit 171 Angestellten geworden. Seit Ende 2018 arbeitet Ashti in Rakka – die Organisation hilft Kindern und Jugendlichen, den versäumten Schulstoff nachzuholen, bildet junge Erwachsene beruflich weiter und kümmert sich um psychosoziale Probleme wie familiäre Gewalt. „Über das Bildungsthema kommen wir mit den Familien in Kontakt“, sagt ­Vyan. So entstehe das Vertrauen, das für Gespräche über Erziehung und Gewalt entscheidend sei.

Ashti hat ein Schnell-Lern-Programm entwickelt. „So musste ein Zehnjähriger, der unter dem IS keinerlei Schulbildung erhalten hat, nicht in die erste Klasse, sondern konnte die Inhalte der ersten zwei Jahre in sechs Monaten lernen und dann in die dritte Klasse gehen“, erklärt die Direktorin. Die Zehnjährigen von damals sind heute Teenager – sie hätten es besonders schwer, weil ihnen entscheidende Schuljahre fehlen, erklärt Vyan.

Für die 15- bis 24-Jährigen gibt es deshalb berufliche Trainings, und wenn sie volljährig sind, kleine Kredite zur Selbstständigkeit. 122 Personen wurden zu Frisören, Automechanikern und Teppichreinigern, zu Kosmetikerinnen, Schneiderinnen oder Konditorinnen ausgebildet. Angesichts von tausenden Kindern und Jugendlichen, die im Kalifat zum Teil nicht einmal lesen und schreiben gelernt haben, ist das nur ein kleiner Beitrag – doch für mehr fehlt das Geld.

Alle NGOs in Nordostsyrien klagen über die zeitliche Limitierung ihrer Projekte: Nach wenigen Monaten endet meist die Finanzierung eines Projekts. Einen anderen internationalen Geber zu finden, der das Programm weiterführt, ist schwierig – egal wie erfolgreich es läuft.

Das wichtigste Thema sei Gewalt, sagt Vyan. Nach einem halben Jahrhundert Diktatur, 13 Jahren Krieg, davon mehrere Jahre unter einem Terrorregime, sei die Gesellschaft in Rakka zerrüttet. „Die Leute sind in einem Kreislauf der Gewalt gefangen“, erklärt sie. Der Mann schlage die Frau, die Frau die Kinder, die Kinder prügelten sich untereinander. In letzter Zeit komme noch die Suchtproblematik hinzu, berichtet Vyan. „Inzwischen nehmen auch Kinder und Frauen Drogen, weil sie ihre schrecklichen Erfahrungen vergessen wollen und einen Moment der Entspannung suchen.“

In den Stadtvierteln, die Ashti betreut, hat sich jedoch schon manches geändert. Iman und ihre Nachbarinnen haben Selbstvertrauen gewonnen, sie haben gelernt, offen über ihre Probleme zu reden und sich gegenseitig zu unterstützen. Natürlich müsse man die Männer miteinbeziehen, sagt ­Vyan. Ashti organisiert deshalb auch Gesprächsrunden für Männer und Treffen für Jungen und Mädchen zwischen 14 und 24 Jahren.

Etwa ein Fünftel der Bewohner Rakkas sind laut NGO-Schätzungen nach wie vor extremistisch eingestellt. Sie bleiben unter sich und betrachten DAANES-­Mitarbeiter als Ungläubige. Umso wichtiger wäre es, mit IS-Anhängern schon vor ihrer Entlassung aus den Lagern oder Gefängnissen zu arbeiten. Frauen, die bereits in al-Hol über ihre traumatischen Erfahrungen gesprochen und über die „richtige“ Auslegung des Koran diskutiert haben, seien besser auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet und schneller integriert, sagt Taha Khalil.

Der 61-jährige Kurde – nebenbei Schriftsteller, Künstler und politischer Analyst – hat eine Organisation namens Hiro gegründet, die den IS ideologisch besiegen möchte. Dabei hat Khalil auch an seine Tochter gedacht, die 2016 bei einem IS-Anschlag in Qamishli getötet wurde: „Wenn ich IS-Anhänger dazu bringe, ihre Einstellung zu ändern und andere Ideen, Religionen und Lebensweisen zu tolerieren, ist das die beste Rache für mich.“

Vergangenes Jahr hatte Hiro im Lager al-Hol ein Zelt gemietet und den IS-Frauen in Gruppensitzungen psychologische Unterstützung angeboten.

„Wir haben die weniger Radikalen gesucht, vor allem Syrerinnen und Irakerinnen“, sagt Khalil und scherzt, manche seien anfangs vor allem wegen der Cola und des Kuchens gekommen. Aber von Woche zu Woche seien die Frauen offener geworden. Zwei Psychiaterinnen und eine Sozialarbeiterin hätten insgesamt 40 Sitzungen geleitet, dabei sei es um Frauenrechte, die Erinnerungen der Frauen, ihre Ängste und erlittenen Schmerzen gegangen, erzählt der NGO-Leiter.

„Mit der Zeit haben einige ihr Gesicht gezeigt, sogar vor mir als Mann“, berichtet Khalil. „Viele bereuen es, sich dem IS angeschlossen zu haben.“ Sie hätten Angst vor den radikalen Frauen im Camp, meint der Hiro-Gründer, gleichzeitig fürchteten sie die Rückkehr in eine feindselige Gemeinschaft. Nur 12 der rund 300 Kursteilnehmerinnen sind seitdem in ihre Heimatorte zurückgekehrt, berichtet Khalil, das Projekt endete nach fünf Monaten – aus finanziellen Gründen.

Die Ängste der Frauen in den Lagern sind den Rückkehrerinnen in Tabqa vertraut. Alia, Aicha und die anderen wissen aus eigener Erfahrung, wie aggressiv überzeugte IS-Anhängerinnen sein können. „Die Frauen in al-Hol sind über die Jahre noch fanatischer geworden, weil sie nur unter sich sind und nichts anderes mitbekommen“, meint Alia, die angelernte Frisörin mit den drei kleinen Kindern. Deshalb müssten sie dort raus und zurück in die Gesellschaft. „Die Frauen zusammenzusperren, ist der größte Fehler“, warnt die junge Mutter.

Was könnte helfen? Indem die deutsche Bundesregierung die Abschiebung syrischer Extremisten und Schwerverbrecher vorantreibt, erhöht sie die Gefahr für die Menschen in Syrien und – angesichts einer möglichen Wiedereinreise – auch für Deutschland. Stattdessen könnte sie versuchen, dazu beizutragen, wenigstens den Nordosten sicherer zu machen. Dafür müssten die Angriffe der Türkei gestoppt und der IS effektiver bekämpft werden – nicht nur militärisch und durch die Rücknahme der Dschihadisten mit deutscher Staatsangehörigkeit, sondern auch ideologisch, indem man ihm den ­gesellschaftlichen Nährboden entzieht.

Erst dann könnten Syrer im Nordosten Hoffnung schöpfen und bleiben – und womöglich ihre Landsleute in Europa überzeugen, freiwillig zurückzukehren.

1 Die meisten Gesprächspartner wollten aus Sicherheitsgründen nur mit ihren Vornamen genannt werden.

Kristin Helberg ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie berichtete sieben Jahre lang aus Damaskus und hat mehrere Bücher zu Syrien geschrieben, zuletzt „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“, Freiburg im Breisgau (Herder Verlag) 2018.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2024, von Kristin Helberg