08.08.2024

Libanon an der Schwelle zum Krieg

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Libanon an der Schwelle zum Krieg

Nach den Morden an Hamas-Chef Haniyeh und Hisbollah-Kommandeur Schukr spitzt sich die Lage im Nahen Osten weiter zu. Vor allem im Libanon wächst die Angst vor einem großen Krieg. Dabei lehnt eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einen Konflikt mit Israel ab.

von Emmanuel Haddad

Aita asch-Scha‘b, 29. Juni 2024: Überlebende mit Nasrallah-Porträt nach israelischem Luftangriff MOHAMMAD ZAATARI/picture alliance/ap
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Ein Zaun teilt den Schulhof der Al-Takmeleye-Oberschule in Tyros, einer Küstenstadt im Südlibanon, in zwei Hälften. Auf der einen Seite spielen Kinder Fußball, bis der Gong zum Pausenende ertönt. Auf der anderen Seite sind Vertriebene aus den Dörfern an der is­rae­li­schen Grenze in umfunktionierten Klassenzimmern untergebracht.

Naama lebt hier mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern. Ihr Vater, ein Viehzüchter, ist zusammen mit dem ältesten Sohn trotz der Bomben bei den Tieren im Heimatdorf Bustan geblieben: „Wir hatten 400 Ziegen, nur 100 haben die Bomben und die Verseuchung durch das Phosphor überlebt“, erzählt die 26-Jährige. „Wir haben fast alles verloren, aber wir müssen stark bleiben.“ Bustan ist eine von fünf Gemeinden an der Grenze, wo die israelische Armee Wohngebiete mit weißem Phosphor beschossen hat. Ein im Juni veröffentlichter Bericht vom Human Rights Watch spricht von einem „schweren internationalen Verbrechen“.1

In einem Raum nebenan, wo der Putz von den Wänden bröckelt, sitzt Naamas Mutter zusammen mit anderen vertriebenen Frauen in der Gruppentherapie. Hoda Hassouna, die Therapeutin, arbeitet für die libanesische NGO Amel. Sie versucht die Teilnehmerinnen zu motivieren: „Du kommst vielleicht an den Punkt, an dem du dir sagst, dass dein Leben keinen Sinn mehr hat. Dann musst du wieder lernen, dich selbst zu mögen und dir Ziele zu setzen.“ Eine der Frauen antwortet lakonisch: „Und hilft uns das, unsere täglichen Ausgaben zu bestreiten?“

Seit dem 8. Oktober 2023, dem Tag nach den Angriffen der Hamas auf Israel, liefert sich die libanesische Hisbollah einen ständigen Schlagabtausch mit der israelischen Armee. In seiner ersten Rede nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten am 3. November verzichtete Generalsekretär Hassan Nasrallah auf eine offene Kriegserklärung. Der Umfang der militärischen Aktionen beschränke sich auf die Unterstützung der palästinensischen islamistischen Bewegung.

Angesichts der zunehmenden Brutalität des israelischen Vorgehens im Gazastreifen forderten die Anhänger der „Hisb“ (Partei) in den folgenden Wochen allerdings immer häufiger einen Großangriff auf Israel. „Los, Nasrallah, bombardiere Tel Aviv“, wurde auf spontanen Demonstrationen skandiert. Viele im Libanon waren geschockt von den Bildern des Gemetzels in Gaza. Auch aus anderen politischen Lagern kamen Rufe nach einer Eskalation.

Dessen ungeachtet hielt sich die mit dem Iran verbündete „Partei Gottes“ lange an die üblichen Spielregeln und beantwortete die israelischen Angriffe auf Aita asch-Scha’b, Bustan, Kfar Kila oder Aitarun mit dem Beschuss israelischer Grenzstädte und Orte in den von Israel besetzten Golanhöhen. Am 27. Juli wurden in der drusischen Kleinstadt Madschdal Schams Kinder auf einem Fußballplatz durch eine mutmaßlich von der Hisbollah abgefeuerte Rakete getötet; drei Tage später antwortete Israel mit einem Luftangriff auf ein Gebäude in einem Beiruter Vorort, in dem sich der Kommandeur Fuad ­Schukr befand. Doch die große Explosion ist – zum Leidwesen der Kriegstreiber in den Reihen der Hisbollah – bisher ausgeblieben.

Für die Menschen im Südlibanon ist ein schwelender Konflikt allerdings nicht weniger verheerend. Nach Zahlen der Nachrichtenagentur AFP wurden bis Ende Juli 523 Menschen auf libanesischer Seite getötet, darunter 342 Hisbollah-Kämpfer.2 Nach libanesischen Angaben beliefen sich die Schäden durch das israelische Bombardement bereits im Mai auf 1,5 Milliarden US-Dollar. An die 94 000 Menschen mussten aus der Grenzregion fliehen.

„Die 130 Familien in Bustan haben ihre Olivenernte verloren, konnten ihre Tabakernte nicht verkaufen und keinen Weizen säen“, klagt Sara Salloum, Mitglied der Biolandwirtschaftsorganisation Agri-Movement. „Und wenn sie eines Tages zurückkehren, müssen sie bis zur nächsten Erntesaison warten, um wieder Einnahmen zu erzielen. Vorausgesetzt, die Belastung mit weißem Phosphor lässt es überhaupt zu.“

Beobachtern zufolge versucht Israel, eine Pufferzone an der Grenze zu errichten, die eine Rückkehr der vertriebenen Li­ba­ne­s:in­nen unmöglich machen würde – was die israelische Regierung jedoch dementiert.3 Ob dem so ist oder nicht – für die Menschen dort ist alles in der Schwebe, während ihre Landsleute, so gut es geht, weitermachen wie bisher.

Seit zehn Monaten gleicht der Libanon dem in zwei Hälften geteilten Schulhof von Tyrus. Auf der einen Seite die verwüsteten Landstriche und Dörfer im Süden, in denen der Krieg das Leben unmöglich macht, und auf der anderen Seite der Rest des Landes, der kaum Unterstützung bekundet. „Der Libanon will keinen Krieg“ ist dort auf zahlreichen Plakaten zu lesen. Laut einer Umfrage von Mitte Oktober 2023 lehnen 73 Prozent der Li­ba­ne­s:in­nen einen Konflikt mit Israel ab.

Schwache Solidarität mit der Hisbollah

Die Unterschiede zwischen beiden Welten sind frappant für die Betroffenen. Hassan Charafeddine aus dem grenznahen Dorf Taiba etwa fand Zuflucht bei seiner Schwester in einem Vorort von Beirut, nachdem sein Nachbarhaus von einer israelischen Bombe getroffen wurde. „Die Leute, die etwas weiter nördlich leben, etwa in Naba­tiye, wo die Zerstörungen geringer sind, haben viele Vertriebene aufgenommen, sie teilen unser Leid. Dann gibt es in Beirut die Menschen, die ein normales Leben führen, sich aber solidarisch zeigen und befürchten, dass sich der Krieg auf das ganze Land ausdehnen könnte. Und es gibt auch solche, die dir feindselig gegenüberstehen, während deine Angehörigen sterben und dein Haus zerstört wird.“

Ghassan Makarem ist der Mitbegründer von Samidoun, einer Solidaritätsinitiative für Südlibanon, die 2006 entstand.4 Er zieht einen Vergleich zwischen dem damaligen Konflikt und dem heutigen. „Als damals der Krieg ausbrach, waren wir gerade auf dem Märtyrer-Platz in Beirut, um gegen die Operation ‚Sommerregen‘ der israelischen Armee in Gaza zu protestieren. Daraufhin haben wir beschlossen, uns dafür einzusetzen, dass die öffentlichen Schulen für Vertriebene aus dem Süden geöffnet werden.“ Ihre politische Position sei klar gewesen: „Unterstützung des Widerstands gegen den israelischen Angriff, egal ob man für die Hisbollah ist oder nicht.“

Nizar Rammal, ein weiterer Samidoun-Mitbegründer, bedauert, dass diese Position heute schwer aufrechtzuhalten ist: „In Beirut leben die Leute, als gingen uns die Geschehnisse im Süden gar nichts an. Man kann aber nicht die Hisbollah beschuldigen, einen Staat im Staat zu errichten, und dann sagen, wenn an der Grenze etwas passiert, dass uns das nichts angeht. Das treibt die Menschen dort nur noch mehr in die Arme der Hisbollah.“

Diese Spaltung ist Ausdruck der politischen Realität im Libanon. Während die christliche Partei Freie Patriotische Bewegung (CPL) 2006 ein Bündnis mit der Hisbollah eingegangen war, herrscht zwischen Hisbollah und der christlichen Partei Libanesische Kräfte (FL) erbitterte Feindschaft. Die FL werfen der Hisbollah vor allem vor, die Wahl eines neuen Präsidenten zu blockieren. Seit dem Ende der Amtszeit von Michel Aoun (CPL) im Oktober 2022 ist der Posten des Staatsoberhaupts vakant.

„Die Hisbollah hat einen strategischen Fehler begangen, als sie eine Front im Libanon eröffnete“, meint Richard Kouyoumjian, der bei den FL für auswärtige Angelegenheiten zuständig ist. Mit ihrer Unterstützung für die Palästinenser füge die Hisbollah dem Libanon erheblichen Schaden zu. „Wir hingegen sind für die Neutralität des Libanon und die Umsetzung der Resolution 1701.“ Diese nach dem Krieg von 2006 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution sieht vor, dass sich die Hisbollah-Kämpfer von der Grenze zurückziehen und die libanesische Armee zusammen mit der Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (Unifil) die Sicherung der Grenzregion übernimmt.

Mohanad Hage Ali vom Carnegie Middle East Center in Beirut sieht „einen immer tieferen Graben zwischen den christlichen Parteien auf der einen Seite, die der Hisbollah vorwerfen, unter Missachtung der staatlichen Institutionen über Krieg oder Frieden zu entscheiden, und den denjenigen, die sich mit den Palästinensern solidarisch fühlen“. Immer wieder beschuldigen Hisbollah-Anhänger ihre Gegner, mit Israel gemeinsame Sache zu machen. Die wiederum betrachten die Hisbollah als Werkzeug des iranischen Imperialismus im Libanon.5

Ganz abgesehen davon fürchten viele Li­ba­ne­s:in­nen, dass ein offener Krieg mit Israel den Libanon vollends kollabieren lassen könnte. Seit 2019 steckt das Land in einer multiplen Krise in praktisch allen Bereichen – Finanzen, Wirtschaft, Energie, Soziales und Politik. „Die Hisbollah hat sich für den Krieg entschieden, ohne Rücksicht auf den Zustand des Landes“, so Hage Ali. „Die kumulierte Inflation seit Oktober 2019 beträgt 5000 Prozent, innerhalb von fünf Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt um die Hälfte geschrumpft und die Institutionen des Staats befinden sich in einer permanenten Krise.“

Die ständigen Drohungen der israelischen Führung tragen noch mehr zu den Spannungen bei. So hatte Pre­mier­minister Netanjahu am 7. Dezember 2023 gewarnt: „Wenn die Hisbollah einen totalen Krieg gegen Israel beginnt, wird sie damit Beirut und den Südlibanon in Gaza und Chan Yunis verwandeln.“ Am 18. Juni gab die israelische Armee bekannt, „operative Pläne für eine Offensive im Libanon“ seien „gebilligt und bestätigt“ worden. Daraufhin riefen Ende Juni mehrere Länder ihre Bür­ge­r:in­nen dazu auf, das Land zu verlassen. Das Auswärtige Amt verschärfte seine Reisewarnung für Libanon und fordert Deutsche dringend zur Ausreise auf.

Die Libanesinnen und Libanesen haben keine andere Wahl, als sich anzupassen, mit schwarzem Humor, Beruhigungsmitteln und Rezepten, die sie aus vergangenen Kriegen kennen. „Im Libanon haben wir schon mehrere israelische Militäroperationen erlebt. Wir wissen, was im Fall eines neuen Konflikts zu erwarten ist“, sagt die Psychotherapeutin Dania Dandashli.

Und das Risiko eines umfassenden Kriegs ist bei Weitem nicht gebändigt, das zeigt die Eskalation der letzten ­Monate. „Die Hisbollah erklärt weiterhin, dass sie keinen offenen Krieg will, aber auf der anderen Seite erhöht Is­rael ständig die Intensität seiner Angriffe“, sagt Joseph Daher, Professor an der Universität Lausanne. Eine beträchtliche Eskalation war schon die gezielte Tötung der Nummer zwei der Hamas, Saleh al-Arouri, mitten in einem der von der Hisbollah kontrollierten südlichen Vororte von Beirut am 2. Januar. Seitdem hat Israel die Häufigkeit der Anschläge auf Hisbollah-Kader im gesamten Libanon gesteigert, zuletzt mit dem Angriff auf Fuad Schukr vom 30. Juli.

Für den Fall eines groß angelegten Angriffs durch die Hisbollah haben die USA Israel zwar ihre Unterstützung zugesichert, zugleich aber verstärkt Zurückhaltung angemahnt. Neben all den Drohungen hat selbst Netanjahu Ende Juni angedeutet, dass er eine diplomatische Lösung bevorzugt, die die Rückkehr der über 60 000 aus dem Norden Israels Evakuierten ermöglicht.

Denn auch Netanjahu ist nicht entgangen, dass die Hisbollah mittlerweile über erhebliche Feuerkraft verfügt. Sie veröffentlichte Mitte Juni Drohnen­aufnahmen von potenziellen Zielen in Israel – eine deutliche Warnung. Israelischen Angaben zufolge verfügt die schii­ti­sche Miliz über mindestens 150 000 Raketen und Flugkörper, zehnmal mehr als im Krieg von 2006, sowie über mindestens 30 000 Kämpfer; ihr Chef Nasrallah spricht sogar von 100 000.6

Viele Menschen im Südlibanon sehen in diesem Abschreckungspotenzial ihre einzige Sicherheit. „Im Gegensatz zu 2006 haben wir heute das Gefühl, dass jemand da ist, um uns zu beschützen, und dass Israel nicht mehr ungestraft Zivilisten bombardieren kann“, sagt Hassan Charafeddine, der erzählt, dass er seit 1982 bereits dreimal aus seinem Haus in Taiba fliehen musste. Auch mit ihrer Sozialpolitik gewinnt die Hisbollah Unterstützung. „Sie zahlt jeder vertriebenen Familie 100 Dollar im Monat und gibt ihnen Einkaufsgutscheine“, berichtet Nizar Rammal.

Ist die „Partei Gottes“ also „ein Staat im Staat, besser gesagt, ein Staat in einem Nichtstaat?“, fragt Sami Atallah, Gründer der libanesischen Denkfabrik The Policy Initiative. Er prangert die chronische Unfähigkeit der libanesischen Behörden an, die Bür­ge­r:in­nen zu schützen, weder vor den Folgen der Finanzkrise noch vor der Explosion im Hafen im August 2020 noch vor den israelischen Bombardierungen. Den Befürwortern der Neutralität hält er entgegen: „Angesichts des laufenden Völkermords in Palästina kann der Libanon nicht sagen: ‚Das geht uns nichts an.‘ “

Charbel Nahas, ehemaliger Minister und Gründer der Partei „Bürger im Staat“, geht noch weiter: „Es gibt keinen Staat mehr, daher hat die Forderung, die Armee solle die Hisbollah an der Südgrenze ersetzen, keinen Sinn. Dafür bräuchte es eine Volkszählung, eine Wehrpflicht und Waffen.“ Seiner Meinung nach müssten die militärischen und sozialen Errungenschaften der Hisbollah wieder unter die Kontrolle einer „säkularen und starken“ Regierung gestellt werden. Israel ziele jedoch darauf ab, die Staaten in der Region zu delegitimieren. „In den Augen Israels sind zersplitterte arabische Staaten und Gesellschaften der Idealzustand.“

1 „Lebanon: Israel’s White Phosphorous Use Risks Civilian Harm“, Human Rights Watch, 5. Juni 2024, www.hrw.org.

2 „Israel army says readying ‚decisive offensive‘ against Lebanon’s Hezbollah“, France24, 27. Juli 2024.

3 „Israel’s push to create a ‚dead zone‘ in Lebanon“, Financial Times, 27. Juni 2024.

4 Nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, in ­Deutschland mittlerweile verbotenen palästinen­sischen Organisation.

5 „,Nasrallah fait comme Hafez el-Assad’: entre les chrétiens et le Hezbollah, le fossé se creuse“, L’Orient-Le Jour, 27. Juni 2024.

6 Will Lowry, „War between Israel-Hezbollah will be ‚10 times worse’ than 2006“, The National, 25. Juni 2024.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Emmanuel Haddad ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.08.2024, von Emmanuel Haddad