08.08.2024

Die Bahnkiller

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Die Bahnkiller

von Benoît Breville

New York, 1913: mit der Straßenbahn in die Sommerfrische picture alliance/heritage images/bain news service
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Manchmal zahlt sich Aktivismus aus – vor allem wenn er finanziell gut gepolstert ist. Wie damals am 1. Mai 2018, als eine Volksabstimmung über das Verkehrsprojekt „Let’s Move Nashville“ für ein Light-Rail-Netz1 und mehrere neue Schnellbuslinien angesetzt war, dem ein durchschlagender Erfolg vorausgesagt wurde.

In der zweitgrößten Stadt des Bundesstaats Tennessee gab es praktisch keinen öffentlichen Nahverkehr. Die Straßen waren ständig vom Autoverkehr verstopft, zum großen Ärger der gestressten Bürgerinnen und Bürger, die zudem unter der Luftverpestung litten. Ladeninhaber und Gewerbetreibende beschwerten sich ihrerseits über geschäftliche Einbußen. Erste Umfragen sagten also eine große Mehrheit für ein Ja zu „Let’s Move Nashville“ voraus.

Doch dann trat die Gruppe Americans for Prosperity auf den Plan, die 42 000 Anrufe tätigte, an über 6000 Türen klopfte, Flugblätter verteilte und Werbekampagnen finanzierte. Die eingängige Botschaft war immer dieselbe: Öffentlicher Nahverkehr ist eine Verschwendung von Steuergeldern.

Das Ganze wurde allerdings mit verschiedenen Argumenten durchdekliniert: Bus und Bahn seien schon deshalb obsolet, weil die Zukunft den selbstfahrenden Fahrzeugen gehöre; öffentliche Verkehrsmittel förderten die Gentrifizierung; sie staatlich zu finanzieren verstoße gegen die Freiheit der Steuerzahler. „Wenn die Leute die Freiheit hätten, zu gehen, wohin sie wollen, und zu tun, was sie wollen, dann würden sie niemals öffentliche Verkehrsmittel nutzen“, war ein Lieblingsspruch der Aktivisten.2

Die Kampagne trug Früchte: Das Projekt wurde – anders als erwartet – von der überwiegenden Mehrheit abgelehnt. Überaus erfreut waren indes die Brüder Charles und David Koch. Denn die beiden Milliardäre unterstützen die Americans for Prosperity genauso reichlich wie die konservativen Lobbyorganisationen Heritage Foundation und Cato Institute, die grundsätzlich gegen jede Form öffentlicher Finanzierung vorgehen – vor allem gegen Tram- und Bahnprojekte, die dem Auto den Rang streitig machen könnten.

Der Familienkonzern Koch Industry bezieht nämlich einen großen Teil seiner Einkünfte aus der Produktion von Asphalt, Benzin, Sicherheitsgurten und Reifen.

In den USA haben sich die Autoindustrie und deren Zulieferer stets als Gegnerin der Bahn erwiesen. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen ging es den Trams an den Kragen. Damals waren zahlreiche US-Städte mit dichten Straßenbahnnetzen ausgestattet, und man konnte für wenige Cents weite Strecken zurücklegen. Überall gab es in ein paar Dutzend oder hundert Metern Entfernung eine Halte­stelle.

Doch der auf verschiedene Unternehmen aufgesplitterte Markt befand sich nahezu vollständig in privater Hand. Die Verkehrsbetriebe sollten rentabel sein, doch sie verfügten nicht über ausreichende Mittel, um die teure Infrastruktur instandzuhalten. Sie fuhren daher Defizite ein und waren schlecht gerüstet, als ihnen die Automobile Konkurrenz machten, die neuerdings durch die US-amerikanischen Städte kurvten. Mitte der 1920er Jahre waren in Los Angeles bereits 160 000 Autos unterwegs und in New York über 600 000 – zehn Jahre zuvor waren es noch weniger als 40 000 gewesen.

Die Tram verlor allmählich an Attraktivität, da sie als weniger komfortabel und praktisch galt als der glänzende und relativ erschwingliche Ford T.

Diese Situation machten sich einige der wichtigsten US-Automobil- und Ölproduzenten wie General Motors, Standard Oil, Firestone Tire and Rubber und Phillips Petroleum zunutze. Über die Tarnfirma National City Lines, die sich auf Busse spezialisiert hatte, kauften sie die ersten Straßenbahngesellschaften nach und nach auf. Zwischen 1930 und 1950 übernahm die Tarnfirma etwa 50 miteinander konkurrierende Nahverkehrsbetriebe.

Nach dem Kauf wurden sämtliche Investitionsvorhaben gestoppt, das Netz verfiel und die Bahnen wurden durch Busse ersetzt. Deren Service war deutlich schlechter, die Busse fuhren seltener und waren auch viel unbequemer. Der Kundschaft gefielen sie nicht; und wer es sich leisten konnte, stieg aufs eigene Auto um. 1963 fuhr die letzte Tram durch Los Angeles.

Das ganze Verfahren roch nach illegaler Kartellbildung, mit dem Ziel, die Konkurrenz auszuschalten und ein Monopol zu schaffen. Schon 1946 wollte das Justizministerium gegen National City Lines und seine Geldgeber vorgehen. 1949 kam es zum Prozess. General Motors und seine Partner wurden für schuldig befunden, doch die Geldstrafe, die sie zahlen mussten, war lächerlich: 5000 Dollar für jedes beteiligte Unternehmen.3

Natürlich waren diese Machenschaften der Autoindustrie nicht allein für das Ende der Straßenbahn in den USA verantwortlich. Sie verschwand aus allen Städten, auch aus solchen, deren Verkehrsbetriebe nicht von Na­tio­nal City Lines aufgekauft worden waren. Der von General Motors verfolgte Plan beschleunigte nur einen bereits begonnenen Verfall. Es fehlte schlicht an Unterstützung und Interesse für den Nahverkehr seitens der staatlichen Ins­titutionen.

Ebenfalls zu den Feinden der Bahn wurde die zivile Luftfahrtindustrie. Sie nahm umgehend den Kampf auf, sobald ein Schienenprojekt ihre Interessen bedrohte. Ihre Lobby bekämpfte mehrere Schnellzugprojekte an der Ostküste, in Florida, rund um Chicago und in Kalifornien.

In Texas brachte die in Dallas ansässige Fluggesellschaft Southwest, die 1971 mit drei Boeings zwischen Dallas, Houston und San Antonio einst gestartet war, das Vorhaben eines Hochgeschwindigkeitszugs zum Scheitern, der zwischen diesen drei größten Städten des Bundesstaats verkehren sollte. Das 1989 von Texas TGV aufgelegte Projekt wurde von der Fluggesellschaft von Anfang an hintertrieben – aus gutem Grund: Das neue Angebot hätte ihre Flugauslastung in Texas um 60 Prozent senken können.

„Die Bahn hat einen romantischen Reiz“, argumentierte das Unternehmen in einem 1991 den Behörden vorgelegten Dokument. „Doch dieses Projekt kann nicht von nostalgischen Gefühlen entschieden werden oder von dem Wunsch, die Bahn in Frankreich oder Deutschland zu imitieren. Die Realität in Amerika sieht so aus, dass ein Hochgeschwindigkeitszug in Texas nur überlebensfähig ist, wenn er den praktischen und preiswerten Transportservice zerstört, den derzeit die Fluggesellschaften bieten – und das auch nur, wenn er beträchtliche öffentliche Subventionen in Anspruch nimmt.“4

Southwest schloss sich der Bürger­initiative „Texaner gegen TGV“ an, um das altbekannte Lied von der Verschwendung öffentlicher Mittel zu singen. Die Fluggesellschaft drohte sogar damit, den Bundesstaat zu verlassen, und mobilisierte die Rancher. „Sie redete sogar den Viehzüchtern ein, ihre Kühe würden keine Milch mehr geben, sobald die elektrisch betriebenen Züge vorbeifuhren, und verbreitete alle möglichen Schauermärchen“, erinnert sich Ben Barnes, ein ehemaliger Vizegouverneur von Texas. Das Vorhaben wurde 1994 beerdigt. Jetzt, 30 Jahre später, wird es erneut aus der Schublade gezogen – und vermutlich wieder unter Sperrfeuer geraten.

In Florida kann man heute mit einem privaten Schnellzug in weniger als 3 Stunden von Orlando nach Miami fahren. Dagegen weiß man in Kalifornien immer noch nicht, ob das per Volksentscheid bestätigte Projekt eines Hochgeschwindigkeitszugs zwischen Los Angeles und San Francisco jemals gebaut wird. Benoît Bréville

1 Mischform zwischen Stadt- und Straßenbahn, die teilweise oder ganz unterirdisch fährt.

2 Zitiert in: „How the Koch brothers are killing public transit projects around the country“, in: The New York Times, 19. Juni 2018.

3 Vgl. Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fres­soz, „L’Événement anthropocène. La Terre, l’histoire et nous“, Paris (Seuil) 2013.

4 Zitiert in: „Southwest Airlines hasn’t decided whether or not to oppose Texas High-Speed Rail“, Bloomberg, 6. Mai 2015.

5 „Can Amtrak finally bring high-speed rail to Texas?“, CNBC, 10. März 2024.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Der vorliegende Beitrag stammt aus Le Monde diplomatique (Hg.), „Les batailles du Rail“, Manière de Voir, Nr. 196, August/September 2024.

Le Monde diplomatique vom 08.08.2024, von Benoît Breville