Die indische Eisenbahn und ihr koloniales Erbe
von Jean-Pierre Benoit
Mit einer Streckenlänge von 68 426 Kilometern, 7308 Bahnhöfen und täglich 13 500 Personen sowie knapp 10 000 Güterzügen auf den Schienen gehört die indische Eisenbahn zu einer der größten der Welt. 1,2 Millionen Menschen beschäftigte die staatliche Eisenbahngesellschaft Indian Railways (IR) im vergangenen Jahr – sie ist einer der wichtigsten Arbeitgeber im Land.1 Zudem stammt fast alles, was für die Bahn geplant und verbaut wird, heute aus indischer Produktion.
Jenseits der touristischen Strecken, an denen Naturdenkmäler, Baukunstwerke und Tempel liegen, beeindruckt auf Zugreisen durch Indien die geografische Vielfalt des Subkontinents, von endlos weiten Landschaften bis zu ausufernden Megastädten. Auf den Bahnhöfen, wo Tag und Nacht eine fiebrige Betriebsamkeit herrscht, begegnen einem alle Gegensätze des Landes: Reichtum und Armut, Moderne und Rückständigkeit, Friedlichkeit und Gewalt, ethnische Diversität und die Dominanz des Hindunationalismus.
Die Bahnhöfe sind architektonische Kleinode, ob es nun eine malerische Holzhütte ist oder ein prachtvolles neogotisches Bauwerk aus der viktorianischen Epoche mit Elementen traditioneller indischen Architektur wie der Hauptbahnhof von Mumbai, der auf der Weltkulturerbe-Liste der Unesco steht.
Das indische Eisenbahnzeitalter begann 1837 in Madras im Süden des Landes mit einer Strecke für den Transport des Baustoffs Laterit. Finanzier war die britische East India Company, mit deren Gründung im Jahr 1600 die sukzessive Unterwerfung der indischen Fürstenstaaten begonnen hatte. Mit Waffengewalt und einer eigenen Armee erlangte die Handelsgesellschaft nach und nach die vollständige Kontrolle über den Subkontinent. Und mit ihrem Monopol auf Seide, Gewürze und andere begehrte indische Güter verdrängte sie alle anderen ausländischen Handelsniederlassungen, die lediglich Kontore unterhielten.
Vor allem aber vernichtete das britische Unternehmen damit das lokale Textilgewerbe, das nicht nur seine Exportmärkte verlor, sondern teilweise die gesamte Existenz: Nach der Eroberung von Bengalen 1757, der damals reichsten indischen Provinz, zerstörten die Soldaten der East India Company die Webstühle der bengalischen Weber. Von Indiens Anteil am Textilwelthandel, der Anfang des 18. Jahrhunderts bei 25 Prozent lag, blieb am Ende der britischen Herrschaft kaum etwas übrig.
Angesichts der gewaltigen Größe der Kolonie (sie umfasste mehr als 4 Millionen Quadratkilometer), fehlender Straßen und langsamer Transportmittel war der Eisenbahnbau von großer strategischer Bedeutung für die britischen Kolonialisten. Über das Schienennetz wurden die Rohstoffe, die sie den Indern raubten, zu den Häfen und von dort weiter nach Großbritannien transportiert. Ein Teil dieser Rohstoffe kehrte in Form von Fertigprodukten mit hoher Wertschöpfung ins Land zurück.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in den Zügen auch die britischen Truppen transportiert, die die Bauernaufstände zur Zeit der großen Hungersnöte (vor allem 1866 und 1876–1878, bei denen Millionen Menschen starben) niederschlagen sollten. Die Kolonialmacht hatte nämlich die traditionelle Subsistenzwirtschaft nach und nach durch eine Exportwirtschaft für Zuckerrohr, Jute, Baumwolle, Wolle, Indigo und Opium ersetzt. Viele Bauern, die unter der Steuerlast des Kolonialregimes ächzten, gerieten in die Fänge lokaler Kredithaie. Wenn sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten, wurde ihr Landbesitz konfisziert, und es blieb ihnen nur ein Leben als Landarbeiter unter sklavereiähnlichen Bedingungen.
Die ewiggestrigen Anhänger des britischen Empire – der Autor Pankaj Mishra nennt sie „Tropenhelm-Fetischisten“2 – behaupten gern, die Kolonialherrschaft habe Indien die Demokratie, den Rechtsstaat und das Eisenbahnnetz gebracht. Die Ausbeutung kommt in diesen Darstellungen nicht vor: Die Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik ist nach ihren Analysen der Handels- und Steuerstatistiken zu dem Schluss gekommen, dass die East India Company und der britische Raj (Kolonialherrschaft) zwischen 1765 und 1938 insgesamt fast 9,2 Billionen Pfund auf dem Subkontinent abgeschöpft haben.3 Durch Knebelverträge haben sich die Briten alle Gewinne gesichert.
In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wies Indien zwar den zweitgrößten Handelsüberschuss weltweit auf, doch das Pro-Kopf-Einkommen stagnierte und der Konsum von Getreideprodukten ging zurück. 1911 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Indien bei 22 Jahren.
Für die Verelendung war vor allem die East India Company verantwortlich, die auch das Eisenbahnnetz ausschließlich zu ihrem eigenen Nutzen schuf: „Schon die Konzeption und der Bau der indischen Eisenbahn war ein großer Kolonialbetrug“, schreibt Shashi Tharoor, Schriftsteller, ehemaliger UN-Diplomat und Abgeordneter im indischen Parlament.4
Heute beraten indische Ingenieure britische Firmen
Die britischen Aktionäre der East India Company – viele von ihnen saßen auch im britischen Unterhaus – verdienten Unsummen mit Investitionen in das indische Eisenbahnnetz, für die die Regierung eine Kapitalrendite von 5 Prozent netto pro Jahr garantierte: „Es war ein großartiges Geschäft für alle, außer für den indischen Steuerzahler.“
Zudem transportierten die Züge vor allem Bodenschätze und Baumwolle. Die Beförderung der Bevölkerung, die zu völlig überhöhten Preisen dritter Klasse reisen musste, war Nebensache, während die Frachttarife nirgendwo auf der Welt so niedrig waren wie in Indien. So finanzierten praktisch die indischen Fahrgäste den Gütertransport, von dem hauptsächlich die Kolonialmacht profitierte.
Briten waren auch die besseren Arbeitsplätze bei der Eisenbahn vorbehalten – angeblich um „die Investitionen zu schützen“. Diese diskriminierende Personalpolitik wurde kontinuierlich beibehalten, so dass bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle wichtigen Posten, von den Direktoren des Railway Board bis zu den Kontrolleuren, mit weißen Männern besetzt waren, deren Gehälter auf europäischem Niveau lagen.
Doch die indischen Arbeiter, die in den beiden großen Eisenbahnwerkstätten in Jamalpur (Bengalen) und Ajmer (Rajasthan) ab 1862 die Züge warteten, bildeten sich selbst so weit fort, dass sie schon 1878 auf eigene Faust Lokomotiven entwarfen und bauten, die genauso gut waren wie die britischen, nur deutlich günstiger. In Reaktion darauf verabschiedete das britische Parlament in Westminster 1912 ein Gesetz, das jegliche lokale indische Produktion untersagte. Zwischen 1854 und 1947 mussten deshalb rund 14 400 Lokomotiven aus Großbritannien und weitere 3000 aus Kanada, den USA und Deutschland importiert werden.
Nach Indiens Unabhängigkeit wurde das Schienennetz verstaatlicht. Doch weil den Indern das technische Know-how für den Eisenbahnbau über 100 Jahre systematisch vorenthalten worden war, mussten sie die ehemalige Kolonialmacht für den Aufbau neuer Lokfabriken um Hilfe bitten. Mittlerweile ist es umgekehrt: Die Technologieberater des in London ansässigen Unternehmens Rendel, Palmer & Tritton, das in der Kolonialzeit die Infrastruktur für die indische Eisenbahn aufgebaut hat, konsultieren heute die Ingenieure des indischen Staatskonzerns Rites Ltd., eine Tochtergesellschaft der Indian Railways.
Bis zum Dach überfüllte Züge und schlimme Unfälle prägen nach wie vor das Bild, das viele mit der Bahn in Indien verbinden. Die Katastrophe vom Juni 1981, als im Bundesstaat Bihar ein Zug von einer Brücke in den Bagmati-Fluss stürzte und an die 800 Menschen ums Leben kamen, gilt als eines der schlimmsten Eisenbahnunglücke der Welt. Im Juni 2023 starben im Bundesstaat Odisha bei einer Kollision und der Entgleisung von drei Zügen 296 Menschen; mehr als 1200 wurden verletzt.
Auch wenn solche Katastrophen das Gegenteil vermuten lassen – im Verhältnis zu den gefahrenen Kilometern kommt es bei den Indian Railways selten zu Unfällen. Schließlich ist das Streckennetz das Rückgrat des nationalen Transportwesens; Indien hat hier seit der Unabhängigkeit viel investiert: Das Schienennetz wurde vereinheitlicht, die Signalanlagen wurden modernisiert, Fahrten und Sitzplätze können problemlos online gebucht werden, und die Tickets sind erschwinglich.
Indiens erklärtes Ziel ist das „weltweit größte grüne Eisenbahnnetz“. Diesellokomotiven wurden nach und nach ausgemustert, und die Anzahl der elektrifizierten Strecken hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Der Elektrifizierungsgrad soll noch in diesem Jahr 90 Prozent erreichen (gegenüber 57 Prozent in Europa und 61 Prozent in Deutschland). Jedes Jahr baut die indische Bahn neue Strecken, und immer mehr Bahnhöfe werden mit Solarpanelen ausgestattet.
Der Bau neuer Containerbahnhöfe soll in den nächsten acht Jahren dazu beitragen, dass sich die Anzahl der Güter, die auf der Schiene transportiert werden können, vervierfacht. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Güterzüge, bisher die Schwachstelle der Indian Railways, hat sich ebenfalls gesteigert und liegt mittlerweile bei 44,3 Kilometern pro Stunde. Die hindunationalistische Regierung unter Premierminister Narendra Modi, die grundsätzlich Privatisierungen befürwortet, spricht seit Jahren davon, dass sie auch die Bahn für Investoren öffnen will. Aber die Fortschritte in dieser Richtung sind bescheiden: 95 Prozent der Bahn befinden sich immer noch in Staatsbesitz.
2 Siehe Pankaj Mishra, „Auf den Ruinen des Imperiums“, LMd, Januar 2013.
3 Siehe Utsa und Prabhat Patnaik, „Eine Theorie des Imperialismus“, Kassel (Mangroven Verlag) 2023.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Jean-Pierre Benoit ist Journalist und Autor. Der vorliegende Beitrag sowie der nebenstehende Kasten von Philippe Descamps stammen aus Le Monde diplomatique (Hg.), „Les batailles du Rail“, Manière de Voir, Nr. 196, August/September 2024.
Express zum Taj Mahal
von Jean-Pierre Benoit
Mit bis zu 160 Stundenkilometern saust der Gatimaan Express von Neu-Delhi nach Agra. Die eisige Luft aus der Klimaanlage scheint geradewegs vom Himalaja zu kommen. In den großen, bequemen Sitzen fühlt es sich an wie in der Business Class im Langstreckenflug; und so ist auch der Service: Das Essen wird auf Tabletts am Platz serviert, es gibt gekühlte Getränke, WLAN und Multimedia-Entertainment.
Indiens erster „Semihochgeschwindigkeitszug“ ging 2016 in Betrieb, und so spektakulär wie der Zug ist auch das Ziel der Reise: das Taj Mahal am Stadtrand der alten Mogulhauptstadt Agra. Bei der Ankunft schlägt einem tropische Schwüle entgegen, zarte Düfte gemischt mit infernalischem Gestank. Neben dem marmorweißen Mausoleum, das Großmogul Schah Dschahan Mitte des 17. Jahrhunderts für seine verstorbene Hauptfrau Mumtaz Mahal errichten ließ, wirkt die Stadt Agra schmutzig und vernachlässigt.
Dagegen herrscht auf dem Gelände des Taj Mahal, das jedes Jahr 6 Millionen Menschen besichtigen, eine fast überirdische Harmonie. Die Besucher:innen bewundern die Gärten und die Architektur, lächeln viel und schießen ununterbrochen Selfies.
Zurück am Bahnhof und dann unterwegs in einem normalen Zug ohne Klimaanlage, staunt man wieder einmal über das breite Angebot an Leistungen und Tarifen. Es spiegelt die abgrundtiefe Ungleichheit Indiens wider und reicht vom Luxuszug „Palace on Wheels“ bis hinunter zu Großraumwaggon mit drei harten Klappliegen übereinander und Sitzbänken ohne Kopfstützen für jeweils drei Personen. In Sachen Pünktlichkeit sollte man hier nicht viel erwarten.
Der schicke Gatimaan Express wird allerdings bald überholt sein: Indien und Japan unterzeichneten 2016 im Rahmen ihrer „besonderen und umfassenden strategischen Partnerschaft“, die sich vor allem gegen China richtet, auch eine Vereinbarung für die indische Bahn: Auf der technologischen Basis des japanischen Superschnellzugsystems Shinkansen entsteht gerade zwischen Mumbai und Ahmedabad eine Hochgeschwindigkeitsstrecke über 500 Kilometer. Ein erstes Teilstück soll 2026 in Betrieb gehen.
⇥Philippe Descamps