12.09.2024

Panafrikanismus

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Panafrikanismus

Renaissance einer antikolonialen Bewegung

von Rémi Carayol

Jan Ros, Carcover, 2024, Öl auf Holz, 51 × 46 cm
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Der neue Präsident des Senegal, Bassirou Diomaye ­Faye, hatte einen Bruch mit dem System versprochen. Seinen Amtseid legte er allerdings am 2. April mit allen Insignien überkommener Res­pek­ta­bi­li­tät ab: Im Anzug mit blauer Krawatte, dazu die grüne Schärpe des Nationalen Löwenordens samt der goldenen des Großmeisters, trat er vor die versammelten afrikanischen Staats- und Regierungschefs.1

Bereits im ersten Wahlgang hatte er mit über 54 Prozent der abgegebenen Stimmen die absolute Mehrheit errungen und ist nun mit 44 Jahren das jüngste Staatsoberhaupt in der Geschichte des Senegal. Er hielt eine minimalistische zehnminütige Ansprache, die sich in keiner Hinsicht von den Reden seiner westafrikanischen Amts­kol­le­g:in­nen unterschied.

Faye sprach von Demokratie, Freiheit, Fortschritt und Souveränität, aber weder von einem Bruch mit dem alten System noch gar von einer Revolution. Auch die Jugend des Landes erwähnte er nicht, obwohl sie maßgeblich für seinen Sieg verantwortlich war – nach zahlreichen, von der Regierung seines Vorgängers Macky Sall blutig unterdrückten Demonstrationen (laut Amnesty International gab es seit 2021 mindestens 56 Tote). Immerhin rang sich Faye zu der Feststellung durch: „Das Wahlergebnis ist der Ausdruck eines tiefen Wunsches nach einer Veränderung des Systems.“

Als eine Woche zuvor, am 25. März, der Wahlsieg des Kandidaten der Partei Afrikanische Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit (­Pastef) verkündet wurde, hatte er diesen Wunsch in einen symbolträchtigen Begriff gefasst: „Ich stehe für einen linken Panafrikanismus“, rief er seinen Anhängern zu. „Der einzig wahre Panafrikanismus“, ergänzten seine Berater. „Darum haben wir von Beginn an gekämpft“, versicherte einer von ihnen, „wir kämpfen für einen freien Senegal, in einem freien Afrika, in einer freien Welt.“ Der Sieg der Pastef sei eine „wichtige Etappe“, um diese Idee, die viele angesichts historischer Fehlentwicklungen bereits als obsolet betrachteten, wieder aufleben zu lassen.

Für den Historiker Amzat Boukari-Yabara ist der Panafrikanismus „ein historisches Rätsel“. Er weist darauf hin, dass es verschiedene Definitionen gibt, und „Tag und Stunde seiner Entstehung je nach Definition variieren“.2 Die gängigste beschreibt ihn als eine Bewegung zur politischen Emanzipa­tion und kulturellen Selbstbehauptung der afrikanischen und afrikanischstämmigen Völker gegen die kolonisatorischen und rassistischen Diskurse Europas. Georges Padmore, ein wichtiger Vertreter dieser Bewegung, hatte 1960 als ihr Ziel genannt, „eine afrikanische Regierung von Afrikanern für Afrikaner zu verwirklichen“.3

Das „erste Lebensalter“ des Panafrikanismus, wie es der Soziologe Saïd Boumama nennt,4 fällt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und findet vor allem auf dem amerikanischen Kontinent statt: Dort versuchen die Nachkommen der Sklavinnen und Sklaven, sich ihre Geschichte und Identität wieder anzueignen, um sich von der weißen Vorherrschaft (white supremacy) zu emanzipieren. Ähnlich wie der „Pan-Negroism“ stand der Panafrikanismus für Solidarität unter Schwarzen Menschen und für eine Aufwertung afrikanischer und Schwarzer Kulturen.

Die Bewegung kristallisierte sich um mehrere Vordenker, die unterschiedliche Wege einschlugen. Zwei von ihnen haben bleibende Spuren hinterlassen: der US-amerikanische Historiker W.E.B. Du Bois und der jamaikanische Aktivist Marcus Garvey. Du Bois forderte gleiche Rechte für alle in den USA und trat zugleich für die Unabhängigkeit der Kolonien ein. Er nahm an der ersten panafrikanischen Konferenz in London im Jahr 1900 teil und organisierte zwischen 1919 und 1945 fünf panafrikanische Kongresse. Garvey propagierte die Rückkehr der Nachfahren von Versklavten auf den afrikanischen Kontinent, was auch als „schwarzer Zionismus“ bezeichnet wird. Er war von der Idee „reiner Rassen“ und der Notwendigkeit ihrer Trennung überzeugt.

Beide Vordenker leisteten ihren Beitrag zu einer Abgrenzung des Panafrikanismus vom „Pan-Negroism“, indem sie das Bewusstsein von race in ein politisches und geografisches Projekt überführten – mit dem Ziel, Afrika von der Kolonialherrschaft zu befreien. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen Befreiungsbewegungen den Begriff des Panafrikanismus und nutzten ihn als Werkzeug im Kampf gegen den Imperialismus. Dies war sein „zweites Lebensalter“. Neue Führungsfiguren traten hervor. Einer der bekanntesten war Kwame Nkrumah aus Ghana, der die Vereinigten Staaten von Afrika gründen wollte. In seinen Augen war eine solche Union nötig, um sich gegen den Zugriff der früheren Kolonialmächte und der beiden Großmächte UdSSR und USA zur Wehr zu setzen.5

Zentrale Impulse kamen von dem aus Martinique stammenden Psychiater Frantz Fanon, dem senegalesischen Historiker Cheikh Anta Diop und dem kurzzeitigen Staatschef des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba. Sie warnten allesamt vor der Gefahr der Zersplitterung in Nationalstaaten, die wirtschaftlich von den ehemaligen Kolonialmächten abhängig blieben. Sie sahen sich als Revolutionäre und führten einen antikapitalistischen Diskurs, grenzten sich jedoch vom kommunistischen Block ab. Insbesondere Nkrumah trat für einen in vorkolonialen, afrikanischen Traditionen begründeten Sozialismus ein, den er als „Consciencismus“ bezeichnete und der „Afrika seine humanistischen und egalitären gesellschaftlichen Prinzipien zurückgeben“ sollte.6

Wer solche Ideen jedoch umsetzen wollte, wurde mit Hilfe des Westens rasch gestürzt oder ermordet: 1961 wurde Patrice Lumumba ermordet, 1966 gab es einen Staatsstreich gegen Nkrumah. Zwar wurde 1963 die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU, seit 2002 Afrikanische Union, AU) gegründet, jedoch lediglich als „Bündnis zwischen Staatschefs, die ihre Macht verteidigen wollten“, meint Boukari-Yabara.

In den folgenden Jahrzehnten traten weitere Revolutionäre für das panafrikanische Ideal ein, wie Julius Nye­re­re in Tansania, Amílcar Cabral in Guinea-Bissau und Thomas Sankara in Burkina-Faso. Doch mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 begann eine Phase, in der der Begriff des Panafrikanismus jeden Gehalts entleert wurde. In den 1990er und 2000er Jahren beriefen sich alle auf ihn, von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi, der riesige Projekte in Subsahara-Afrika finanzierte und zugleich bewaffnete Aufstände in einigen Ländern unterstützte, bis zum senegalesischen Präsidenten Ab­dou­laye Wade, der in Dakar ein gigantisches Denkmal der afrikanischen Wiedergeburt errichten ließ und zugleich eine neoliberale Agenda verfolgte.

Die Instrumentalisierung des Begriffs erreichte ihren Höhepunkt, als der französische Präsident Emmanuel Macron beim Gipfeltreffen der Frankofonie in Tunesien im November 2022 doch tatsächlich behauptete, Französisch sei „die wahre Universalsprache des afrikanischen Kontinents“, und in diesem Sinne sei „die Frankofonie die Sprache des Panafrikanismus“.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fürchtete niemand mehr den Panafrikanismus. Selbst die Bretton-Woods-Institutionen, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, nutzten seine Kritik an Staatsgrenzen, um Zollschranken abzuschaffen. Die Afrikanische Union spricht in ihrer Gründungsakte von den „edlen Idea­len, die die Gründungsväter dieser kontinentalen Organisation und Generationen von Panafrikanisten geleitet haben“, während sie gleichzeitig das Leuchtturmprogramm Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (Nepad) ins Leben rief, das darauf abzielt, den gesamten Kontinent im Sinne des – häufig von internationalen Finanzorganisationen auferlegten – neoliberalen Wirtschaftsmodells zu entwickeln und zu vereinen.

Der nigrische Menschenrechtler Moussa Tchangari sprach damals vom „afrikanischen Bubu (Gewand) des Neoliberalismus“. Auf die Nepad folgten weitere ähnliche Projekte: die Agenda 2063 oder die panafrikanische Freihandelszone (AfCTA). Für dieses Abkommen, das 2021 in Kraft trat, engagierte sich vor allem der ruandische Präsident Paul Kagame. Es sollte einen alle 54 Staaten umfassenden afrikanischen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen schaffen. Nach den drei offiziellen panafrikanischen Kongressen von 1974, 1994 und 2014 soll der nächste im Oktober und November 2024 in Togo stattfinden. Solche von Staats- und Regierungschefs mit eher rechter Agenda instrumentalisierten Veranstaltungen rufen bei Ak­ti­vis­t:in­nen jedoch keinerlei Enthusiasmus mehr hervor.

Von Thomas Sankara bis zum Bürgerbesen

Angesichts der Vereinnahmung des einstigen Kampfbegriffs gibt es nur noch wenige Parteien, Vereine und verstreute Gruppen von Wis­sen­schaft­le­r:in­nen und Intellektuellen, die die alte Idee weitertragen. Dazu gehört der Forscher Aziz Salmone Fall, Sohn eines senegalesischen Diplomaten und einer ägyptischen Professorin, der 1984 die Forschungsgruppe und Initiative zur Befreiung Afrikas (Group for Research and Initiative for the Liberation of Africa, Grila) mitgründete. Seit 40 Jahren vertritt Grila einen „Panafrikanismus des Systemwandels“ und grenzt sich vom „institutionellen Panafrikanismus“ ab. Nach ihrem „langen Marsch durch die Wüste“ beobachten sie jetzt wieder „echte Begeisterung“. Doch Fall ist auch besorgt, da die junge Generation im Neoliberalismus aufgewachsen sei und weder Nkrumah noch Padmore gelesen hat.

An der Universität Dakar sieht der Philosophiedozent Oumar Dia die wachsende Beliebtheit von „Helden“ des Panafrikanismus wie Cheikh Anta Diop und Thomas Sankara. „Nach der Unabhängigkeit gab es eine Phase der Enttäuschung“, erklärt er. „Heute erleben wir eine neue Begeisterung, vor allem bei der Jugend.“ Manche sprechen vom „neuen Leben“ oder – wie Bouamama – vom „dritten Lebensalter“ des Panafrikanismus.

Doch auch wenn sich der heutige Panafrikanismus auf die großen Li­nien der historischen Bewegung stützt, weicht er in zwei wichtigen Aspekten davon ab: Zum einen wird er nicht mehr – wie im 20. Jahrhundert – von den akademischen und politischen Eliten propagiert. „Ich sehe kaum Staatschefs oder Parteien, die sich darauf berufen. Man hört solche Töne viel eher von normalen Menschen, vor allem in der Sahelzone und in den Exilgemeinden“, meint der senegalesische Ökonom Ndongo Samba Sylla. Und zum Zweiten sei der neue Panafrikanismus-Begriff oft unscharf und heterogen.

Der Soziologe Mouhamed Abdallah Ly, der am Institut Fondamental d’Afrique Noire (Ifan) in Dakar forscht, nimmt die engagierte Generation als „bunt zusammengewürfelt“ wahr, „von Doktoranden mit perfektem Französisch bis zu Straßenhändlern, die nur Wolof sprechen“. Die Bewegung sei vom Wunsch nach Souveränität getragen und erst durch die sozialen Medien möglich geworden, über die sich Wissen oder zumindest Slogans leicht verbreiten ließen. Ganz wichtig sei aber auch die politische Bildungsarbeit unabhängiger Organisationen, die sich seit etwa zehn Jahren an die Jugend richtet.

Dazu zählt zum Beispiel die im Januar 2011 entstandene Bewegung „Y’en a marre“ (YEM, „Wir haben es satt“) im Senegal. Damals hatten vier Rapper und ein Journalist während eines der stundenlangen Stromausfälle in Dakar beschlossen, es müsse endlich Schluss sein mit schlechter Daseinsvorsorge, Misswirtschaft und Preiserhöhungen.7 Ihre radikalen Reden und konkreten Aktionen vor Ort ließen die Gruppe zum Sprachrohr einer neuen Generation werden, die begonnen hatte, sich unter Einsatz ihres Lebens auf den Weg nach Europa zu machen. YEM traf sofort den richtigen Ton, und ein Jahr später spielten seine Mitglieder eine zentrale Rolle bei den Protesten gegen Präsident Wades Versuch, sich durch eine Verfassungsänderung an der Macht zu halten.

Zur selben Zeit entstand in der Demokratischen Republik Kongo eine ähnliche Bewegung unter dem Namen „Lucha“. Wenige Monate später fegte der „Balai Citoyen“ („Bürgerbesen“) durch Burkina Faso; diese Protestbewegung wurde 2013 von Intellektuellen und Künst­le­r:in­nen gegründet und berief sich auf Thomas Sankara, der von 1983 bis 1987 das Land regiert hatte – sehr zum Verdruss des Mannes, der Sakara gestürzt hatte: Präsident Blaise Compaoré. Der „Bürgerbesen“ stand 2014 im Zentrum des Aufstands, der Compaoré nach 27 Jahren autoritärer Herrschaft ins Exil zwang.8

Zu jener Zeit war bereits klar, dass diese Bürgerbewegungen einen radikalen Bruch mit dem alten System darstellten. Sie waren das Ergebnis der demografischen Entwicklung (60 Prozent der Bevölkerung Afrikas waren 2020 nach UN-Angaben jünger als 24 Jahre), der Vertrauenskrise in das Parteiensystem und der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Ein Vorläufer waren die Demonstrationen gegen hohe Lebenshaltungskosten, die 2008 vielerorts stattgefunden hatten.

„Der Generationenfaktor erklärt nicht alles, aber er hat sich als zentral erwiesen“, schrieben die Politologen Augustin Loada und Mathieu Hilgers 2013 über den Erfolg des „Bürgerbesens“. „Diese junge Generation wächst in einem geschlossenen politischen System auf, und die Mehrheit, die nicht zu den Clans der Mächtigen gehört, fühlt sich komplett übersehen.“9

Mitte der 2010er Jahre gab es einen Umbruch. Die Bewegungen wendeten sich nun vor allem gegen den Neokolonialismus. In Burkina Faso zum Beispiel änderte die Jugendbewegung Collectif antiréferendum CAR,10 die sich gegen Präsident Compaoré gerichtet hatte, nach dessen Sturz ihren Namen. CAR bedeutet jetzt Cito­yens Africains pour la Renaissance. Ihr Gründer Hervé Ouattara ordnete sie 2017 der panafrikanischen Bewegung zu und machte den Kampf gegen den CFA-Franc zur Priorität.

Als „Y’en a marre“ im Senegal die Puste ausging, gründete ein Bündnis verschiedener Organisationen 2017 die Front pour une révolution anti-­im­pé­ria­liste, populaire et panafricaine (Front für eine antiimperialistische, volksnahe und panafrikanische Revolution, Frapp). Ihre Losung war einfach und verbreitete sich schnell: „France, dé­gage!“ („Frankreich, hau ab!“). Auch die Frapp kämpft gegen hohe Lebenshaltungskosten und fordert mehr Mittel für Bildung sowie eine Neuverhandlung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit der EU.

Zudem versucht sie sich im Rahmen der 2022 gegründeten West African People’s Organisation (Wapo) mit anderen Gruppen in der Region zu vernetzen. Doch ihre Priorität liegt auf der „wirtschaftlichen Souveränität des Volkes“: Sie will das Ende des CFA-Francs und den Abzug der französischen Armee, die seit der Unabhängigkeit eine Militärbasis in Dakar unterhält.

Ihr Anführer Guy Marius Sagna hält Schmähreden gegen die ehemalige Kolonialmacht und die „parasitäre, bürokratische Bourgeoisie des Senegals, die sich dem Imperialismus unterworfen hat“.11 „Das ist genau, was die Jugend hören will, sie will ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen“, sagt Souleymane Gueye, ein Gründungsmitglied von Frapp. Für ihn gehört der Kampf gegen den Imperialismus zum pan­afri­ka­nischen Ideal.

Ein Argument der neuen Panafrikanisten lautet, man brauche eine „zweite“, eine „wahre Unabhängigkeit“. „Die Jungen haben das Gefühl, dass die Aufgabe 1960 nicht zu Ende gebracht wurde, dass der Kolonialismus nie aufgehört hat, sondern im Gegenteil stärker geworden ist“, meint der Soziologe Ly.

Im Senegal, wie auch in allen anderen ehemaligen französischen Kolonien, wird vor allem die französische Vorherrschaft als Neokolonialismus begriffen. Der Ökonom Samba Sylla erklärt, der Panafrikanismus 2.0 unterscheide sich von seinen Vorgängern insofern, als es dabei „weniger um Föderalismus geht als um dégagisme, den endgültigen Abschied von der Kolonialmacht. Die Jungen wollen keine korrupten Politiker mehr, und vor allem wollen sie kein Françafrique mehr.“

Aus dieser „antifranzösischen Stimmung“ heraus – wie man sie in Frankreich fälschlicherweise nennt – sind in den letzten Jahren zahlreiche Organisationen entstanden, denen es in Wahrheit um den Widerstand gegen die französische Afrikapolitik geht. Andere Bewegungen haben sich diesem Kampf angeschlossen, ihn sogar zu ihrer Priorität gemacht, auch wenn das ursprünglich nicht ihr Ziel war. In den sozialen Medien ebenso wie in der Politik sind neue „neopanafrikanistische“ Führungsfiguren aufgetaucht.

Die bekannteste und auch umstrittenste Figur im frankofonen Raum ist Kémi Séba. Eigentlich heißt er Stellio Capo Chichi, seine Eltern sind aus Benin nach Frankreich eingewandert. Bekannt wurde er Mitte der 2000er Jahre, als er mehrere Gruppen gründete, die für Schwarze Vorherrschaft (Black Supremacy) eintreten. Eine davon war Tribu Ka, die 2006 unter Präsident Chirac wegen rassistischer und antisemitischer Hetze verboten wurde. Seba wurde in Frankreich mehrfach verurteilt und musste mehrere Haftstrafen absitzen. „Wir waren exzessiv“, gibt er heute zu, meint aber auch: „Wir waren die Rächer unserer Vorfahren.“12

Kémi Sébas Schwarzer Suprematismus

2011 verließ Séba Frankreich und zog in den Senegal. Dort widmete er sich fortan dem Kampf gegen den Neokolonialismus und für einen „revolutionären Panafrikanismus“. 2017 machte er über Senegal hinaus Furore, als er öffentlich einen 5000-CFA-Franc-Schein (7,60 Euro) verbrannte. Er wurde verhaftet und nach Frankreich ausgewiesen. Im selben Jahr zog er nach Benin, wo er die Panafrikanistische Nothilfe (Urgences panafricanistes) gründete, eine NGO, die er selbst als „bürgerlich, geopolitisch, traditionalistisch und souveränistisch“ bezeichnet.

Am 9. Juli 2024 wurde Kémi Séba in einem sehr selten angewendeten juristischen Verfahren die französische Staatsbürgerschaft entzogen. In den letzten Jahren hatte er dazu aufgerufen, den CFA-Franc abzuschaffen und das französische Militär zu verjagen. Wie zahlreiche andere „Neopanafrikanisten“ bejubelte auch er die Militärputsche 2020 in Mali, 2021 in ­Guinea, 2022 in Burkina Faso und 2023 im ­Niger. Er unterstützt Staatschefs, die mit Paris brechen, und kritisiert vehement die übrigen, die er als Lakaien Frankreichs bezeichnet, wie Alassane Ouattara in Côte d’Ivoire und Patrice Talon in Benin. Séba ist in Afrika, aber auch in Frankreich und seinen Überseegebieten ziemlich einflussreich, mit 1,3 ­Millionen Followern auf Facebook, 306 000 auf Instagram und 268 000 auf X.

Séba verkörpert in gewisser Weise die Spannungen und Widersprüche, die das panafrikanistische Milieu durchziehen. Viele Ak­ti­vis­t:in­nen kritisieren seine prorussische Haltung und seine suprematistische, maskulinistische Rhetorik. Doch für die meisten gehört er trotz allem zur panafrikanischen „Familie“ der Marcus-Garvey-Linie: konservativ, rassistisch und sogar faschistisch, ein Begriff, den der Jamaikaner in den 1930er Jahren tatsächlich für sich in Anspruch nahm.

Der senegalesische Journalist und Schriftsteller El Hadj Souleymane Gassama, genannt Elgas, bezeichnet Séba als „Totengräber“. Er kritisiert die „sektiererische Abgeschlossenheit“, in der die neuen Panafrikanisten gefangen seien, ihre „politische Desorientierung“, und spricht von einem „verfälschten Erbe“. 13

Ohne konkrete Namen zu nennen, zeigt sich auch Aziz Salmone Fall besorgt, der historische Panafrikanismus könne von der neuen Generation missbraucht werden, die sich auf den Sankarismus bezieht, ohne etwas von Thomas Sankara zu wissen. Er fürchtet eine Instrumentalisierung des Panafrikanismus durch „neosouveränistische“, reaktionäre und nationalistische Bewegungen, die die Ängste und die Unwissenheit der Menschen für ihre eigenen Zwecke nutzen.

In Mali, Guinea, Burkina Faso und im Niger haben die Putschisten den antikolonialistischen Diskurs schnell aufgriffen. Keiner der neuen Machthaber war zu Beginn für seine revolutionären Ideen bekannt. Aber sie haben verstanden, dass sie sich besonders beliebt machen, wenn sie sich das panafrikanische Ideal zu eigen machen, sprich: den französischen Imperialismus anprangern und den Souveränismus hochhalten. Tatsächlich war es auch die breite Mobilisierung der Bevölkerung, der es ihnen ermöglicht hat, an der Macht zu bleiben und dem internationalen Druck standzuhalten.

Oberst Assimi Goïta in Mali empfängt regelmäßig sogenannte panafrikanistische Delegationen – unter anderem waren Guy Marius Sagna und Kémi Séba zu Gast – und spricht in seinen Reden von der „panafrikanistischen Berufung Malis“. Gleichzeitig lässt er alle Kri­ti­ke­r:in­nen im Land verhaften, unterbindet jede öffentliche Debatte und lobt die Leistungen der russischen Gruppe Wagner im Kampf gegen dschihadistische Milizen.

In Burkina Faso setzt Hauptmann Ibrahim Traoré auf das Erbe Sankaras. Den Boulevard Charles de Gaulle benannte er in Boulevard Thomas Sankara um und erhob den 1987 ermordeten Staatschef zum offiziellen Na­tio­nal­helden. Er behauptet, er verfolge „denselben Kampf“ wie der Revo­lu­tio­när, und schließt seine Ansprachen gern mit denselben Worten wie einst Sankara: „Vaterland oder Tod, wir werden siegen!“ Doch auch Traoré duldet keinerlei Kritik und lässt Abweichler verhaften.

Der Herrscher in Niger, General Abdourahamane Tiani, spricht seit seiner Machtübernahme im Juli 2023 von Antiimperialismus und forderte erst den Abzug der französischen, dann den der US-amerikanischen Truppen. Zuvor, als Kommandant der Präsidentengarde, hatte er mit noch mit westlichen Offizieren zusammengearbeitet. Anfang August ernannte er Séba zum Sonderberater, was in Paris als erneute Provokation aufgefasst wurde.

Das Momentum der Putschisten

Die Juntas haben ein paar wirtschaftliche Reformen eingeführt, um die Erwartungen der Menschen zu erfüllen. Sie haben vor allem das Bergbaurecht geändert und einige Verträge mit westlichen Bergbaumultis neu verhandelt. Im Juni 2024 entzog Niger der französischen Orano-Gruppe (früher Areva) die Abbaulizenzen für die Uranvorkommen in Imouraren. In Burkina Faso hat Hauptmann Traoré Ernährungssouveränität zum Ziel erklärt: Er startete eine „agropastorale Offensive“, in deren Rahmen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Weizen im Land angebaut wurde.

Doch von dem „großen Moment“, den die neuen Panafrikanisten versprochen hatten, ist man noch weit entfernt: Niemand von ihnen stellt die Interessen der Oberschicht infrage oder hat mit dem IWF oder der Weltbank gebrochen. Es gab nur sehr wenige Versuche, die Einkommen der Ärmsten anzuheben und die Korruption zu bekämpfen. Zudem vertreten alle Militärregierungen bei gesellschaftspolitischen Fragen konservative Positionen: Im Gegensatz zu Sankara kümmern sie sich weder um Frauenrechte noch um Umweltschutz.

Unter anderen Umständen hätte die panafrikanistische Linke solche autokratischen Militärregime wohl nicht gutgeheißen – oder sie sogar bekämpft. Doch nun haben die neuen Herrscher die französische Armee zum Rückzug aufgefordert, die diplomatischen Beziehungen zu Paris abgebrochen und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas), die vielen als Werkzeug des Imperialismus gilt, verlassen. Stattdessen haben sie mit der Al­lianz der Sahelstaaten (AES) ihr eigenes Bündnis geschaffen und die Absicht erklärt, ihre Mittel in den Bereichen Sicherheit, Landwirtschaft und Energieversorgung zu bündeln, aus dem CFA-Franc auszusteigen und eine eigene neue Währung einzuführen.

Das verschafft ihnen in der panafrikanischen Galaxie hohes Ansehen. Viele Linke rühmen den Mut der Militärs und stellen sie als vorbildlich dar, obwohl diese manche ihrer Ge­nos­s:in­nen ins Gefängnis gesteckt haben. So meint etwa Pierre Sané, der ehemalige Generalsekretär von Amnesty International (1992–2001): „Sie können durchaus Panafrikanisten sein, auch wenn sie Uniform tragen.“

In dieser ideologischen „Bouillabaisse“, wie es der Historiker Boukari-Yabara formuliert, fällt die Orientierung schwer. Wer ist Panafrikanist, wer nicht? Wie stark ist die „Flutwelle“, von der viele unserer Gesprächspartner sprechen? Wird sie den französischen Einfluss in Afrika endgültig hinwegspülen?

Viele fragen sich, wie es mit der Pastef-Partei des neuen senegalesischen Präsidenten weitergehen wird und ob die Länder der Sahel-Allianz das Kräftegleichgewicht in der Region verändern werden. Doch es gibt noch eine andere Frage: Könnte der Panafrikanismus 2.0, der manchmal die Züge eines politischen Messianismus annimmt, zu einer neuen Art Faschismus führen? Oder zu einer identitären Bewegung, die von „der Fetischisierung des vorkolonialen Afrikas“ (Bouamama) lebt, indem sie das Afrika der Vorfahren zum egalitären Paradies stilisiert? Das ist es, was die Tempelwächter des Panafrikanismus umtreibt.

„Die politischen Phänomene, die wir in der übrigen Welt beobachten, gibt es auch in Afrika“, erläutert einer von ihnen, der anonym bleiben möchte. „Überall stellt sich die Frage nach Identitätspolitik, und überall wird die Position der ehemaligen Kolonialmächte und des sogenannten Westens infrage gestellt. Die Ablehnung der modernen Formen des Imperialismus ist eine unvermeidliche und notwendige Etappe. Sie kann nur radikal und sogar gewalttätig sein, weil die imperialen Mächte wie Frankreich nicht von allein gehen wollen. Aber wenn man aus dem Blick verliert, dass der Panafrikanismus vor allem eine internationalistische Idee ist, der die Solidarität der Völker über alle Grenzen und Herkünfte hinweg fördern will, dann fährt man das Projekt gegen die Wand.“

1 Siehe Francis Laloupo, „Senegal: Demokratie gerettet“, LMd, April 2024.

2 Amzat Boukari-Yabara, „Africa Unite! Une histoire du panafricanisme“, Paris (La Découverte) 2014.

3 Georges Padmore, „Pan-Africanism or Communism? The Coming Struggle for Africa“, London (Dennis Dobson) 1956.

4 Saïd Bouamama, „Pour un panafricanisme révolu­tion­naire. Pistes pour une espérance politique continentale“, Paris (Syllepse) 2023.

5 Vgl. Adom Getachew, „Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung“, Berlin (Suhrkamp) 2022.

6 Kwame Nkrumah, „Le Consciencisme“, Paris (Présence africaine) 2009 (1. Auflage: Payot 1964).

7 Siehe Jacques Denis, „Bewegte Jugend“, LMd, Mai 2015.

8 Siehe David Commeillas, „Ausfegen in Burkina Faso“, LMd, April 2015.

9 Mathieu Hilgers und Augustin Loada, „Tensions et ­protestations dans un régime semi-autoritaire: croissance des révoltes populaires et maintien du pouvoir au Burkina Faso“, in: Politique africaine, Bd. 3, Nr. 131, Paris 2013.

10 Siehe Rémi Carayol, „Kampf zweier Linien in Burkina Faso“, LMd, April 2018.

11 Siehe Florian Bobin, „Au Sénégal, sortir du bourbier néocolonial“, Les blogs du „Diplo“, 7. Mai 2021.

12 Kemi Seba, „Supra-Négritude“, Marseille (Fiat Lux) 2013.

13 Elgas, „Les Bons Ressentiments. Essai sur le malaise post-colonial“, Paris (Riveneuve) 2023.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Rémi Carayol ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Rémi Carayol