Kubas Zukunft verlässt das Land
von Karl Kaufmann
William Espinosa steht wie fast jeden Abend mit seinem alten Moskwitsch vor Havannas derzeit wohl angesagtestem Kulturtreff, der Fábrica de arte cubano, die in einer alten umgebauten Speiseölfabrik im Stadtviertel Vedado untergebracht ist. Um wirklich gute Konzerte, Performances oder Ausstellungen zu sehen, finden sich hier zwischen Donnerstag- und Sonntagabend Kubaner:innen ein, die sich das Vergnügen noch leisten können, und natürlich das Touristenvolk.
Für William ist das nur ausnahmsweise etwas: Der 33-jährige Habanero mit den markanten Tätowierungen auf den Unterarmen steht nicht in der Schlange vor dem Einlass. Er ist zum Geldverdienen hier. Er fährt die Besucher von der Fábrica, meistens Tourist:innen, zurück ins Hotel oder in eine Privatunterkunft. „Ich spare für meinen Abgang, denn hier in Kuba sehe ich keine Perspektive. Das geht rund 80 Prozent meiner Freunde so. Wir sind mehr oder weniger alle auf dem Sprung“, sagt er. Sein Studium der Ingenieurwissenschaften hat er abgebrochen.
Das ärgert ihn jetzt, denn ihm ist völlig klar, dass ein Master oder ein Diplom im Ausland von Vorteil wäre. In Kuba gibt es hingegen kaum Jobs für Ingenieure. „Deshalb und aus finanziellen Gründen habe ich das Studium nicht beendet“, sagt William. „Hier geht alles nur in eine Richtung: Wir rutschen immer weiter abwärts in die Krise.“ Während wir an der Uferpromenade Malecón entlangfahren, zählt er auf, was ihm alles an der Regierung stinkt: „Sie schauen nur zu, ignorieren die soziale Misere, die mit der Verarmung der Rentner immer offensichtlicher wird. Sie äußern sich nicht mal dazu. Das hätte es unter Fidel Castro nie gegeben. Auseinandersetzung, Dialog, Reformen – Fehlanzeige!“
Die sich verschärfende prekäre Lage trägt – zumindest indirekt – auch zur massenhaften Auswanderung bei, die längst alle historischen Rekorde in den Schatten stellt. Zwischen November 2021, als die Flughäfen nach dem Corona-Lockdown wieder geöffnet wurden, und Ende Januar 2024 kamen allein in den USA nach offiziellen Zahlen der Einwanderungsbehörden 533 000 Kubaner:innen an.1 Seit der Revolution von 1959 hat Kuba noch nie einen derartigen Aderlass erlebt.
„Anders als früher reisen die Menschen heute ohne Rückreiseticket aus“, berichtet der kubanische Ökonom Omar Everleny Pérez. „Sie verkaufen alles, was sie haben. Lassen nichts zurück – manchmal nicht mal Verwandte. Die gesamte ökonomische Zukunft der Insel steht infrage.“ Bis 2016 leitete der 64-jährige das Forschungszentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC) – bis er mit seinen Reformvorschlägen aneckte. Nun ist als freier Analyst tätig.
Mindestens 10 000 US-Dollar braucht jede:r Kubaner:in für die Reise über Nicaragua, Honduras, Guatemala und Mexiko in die USA, so seine Berechnungen. Das ist ein immenser zusätzlicher Geldabfluss aus der notorisch klammen Insel, die seit Jahrzehnten unter dem US-Embargo leidet. Die Sanktionen sind mitverantwortlich für die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Revolution von 1959. „Die gegenwärtige Krise stellt selbst die ‚Periodo Especial‘ Anfang der 1990er Jahre in den Schatten“, sagt Everleny. „Damals löste sich der Ostblock auf, Kuba verlor das Gros seiner Außenhandelskontakte und rutschte in die Rezession. Doch heute wandert die Jugend aus, die Zukunft des Landes.“
Die Erwachsenen in der Alterskohorte zwischen 18 und 40 haben alle Hoffnung verloren, dass sich auf der Insel mit der derzeitigen politischen Führung etwas ändern könnte. Eine von ihnen ist Yanicel Navarro. Sie hat am 21. März das Land verlassen. „Ich glaube, dass ich meinen Eltern und meiner siebenjährigen Tochter Perla aus den USA besser helfen kann als in Santiago de Cuba“, meint die 39-jährige Afrokubanerin. Von Nicaragua aus reiste sie gemeinsam mit einer Freundin über Honduras und Guatemala nach Mexiko-Stadt – angeleitet von bezahlten Schleusern. Derzeit wartet sie in Mexiko-Stadt auf die Papiere von der US-Botschaft, um sicher einreisen zu können. „Ich will das Risiko einer Abschiebung ausschließen.“ Zu Hause hat sich die diplomierte Sportlehrerin und Sozialarbeiterin um diejenigen gekümmert, die derzeit ganz unten in der kubanischen Gesellschaft stehen: die Rentner der Revolution.
Mit einer monatlichen Durchschnittsrente von rund 1500 Pesos cubanos kann man sich nicht mehr als vier Pfund Bohnen oder drei Pfund Schweinefleisch auf dem freien Markt jenseits der staatlichen Zuteilungen kaufen, rechnet Omar Everleny Pérez vor. Die harte Realität ihrer Eltern und Großeltern vor Augen2 , entscheiden sich die Jungen auch deshalb für die kostspielige und riskante Reise mit Schleusern.
Iván García, Korrespondent für den in Miami erscheinenden Diario Las Américas, weiß von einer Dozentin der Universität von Matanzas (rund 120 Kilometer von Havanna entfernt), dass ihr gesamter Jahrgang wenige Monate nach dem Abschluss in die USA ausgereist ist. Auch die Tochter des 57-jährigen García sieht ihre Zukunft im Ausland. Sie will Psychologie studieren und bewirbt sich um ein Stipendium.
Doch was machen die, die keine Chance haben auszuwandern, denen das Geld fehlt, die bleiben müssen? Einige, und deren Zahl nimmt zu, schließen sich zu Banden zusammen. Kriminalität und Diebstähle nehmen zu, aber auch gewalttätige Auseinandersetzungen. Am Rande eines Reggaeton-Konzerts in Havanna gingen Jugendliche mit Macheten und Messern aufeinander los, zwei wurden verletzt. Und nach einem Vorfall in Santiago de Cuba am 16. Juni mussten zwei weitere Jugendliche notoperiert werden.
Solche Jugendbanden habe es früher nicht gegeben, sagt Manuel Cuesta Morúa und bestätigt eine Zunahme krimineller Gewalt, nicht nur in Havanna, sondern auf der ganzen Insel. Der sozialdemokratische Oppositionelle wird von den Behörden als „Söldner im Dienst der USA“ denunziert, weil seine Partei Arco Progresista Mittel aus der EU und den USA bekommen hat.
Iván García hat schon über die Jugendbanden berichtet. Begonnen hat er seine journalistische Laufbahn Mitte der 1990er Jahre bei der ersten unabhängigen Nachrichtenagentur Cuba Press. Heute zählt er zu den dienstältesten kubanischen Journalisten, die von der Insel und über die Insel berichten. Doch seine Bekanntheit schützt ihn nicht vor Vorladungen und Verhören.
Massiver Druck auf die Medien
Generell hat sich die Lage für unabhängige Journalist:innen in den letzten zehn Jahren merklich verschlechtert: „Nach dem Boom unabhängiger Medien wie El Toque, El Estornudo oder Periodismo del Barrio, die ab 2014 auf sich aufmerksam machten und mit fundierten Reportagen und kritischen Interviews zum Schaufenster der Insel wurden, versuchte die Regierung mit mehreren Gesetzen dieses Schaufenster wieder zu schließen.“
Unabhängiger, kritischer Journalismus ist den Verantwortlichen spätestens seit 2017 – als das Tauwetter mit den USA unter Barack Obama endete – ein Dorn im Auge. Er wird, weil er in aller Regel dank Spenden aus dem Ausland funktioniert, als politisches Werkzeug der Destabilisierung betrachtet. Das belegt auch die Debatte um das „Gesetz zur sozialen Kommunikation“, das am 26. Mai 2023 vom kubanischen Parlament verabschiedet wurde. Artikel 28 legt fest, dass sich alle Medien „im sozialistischen Besitz des Volkes oder der politischen und sozialen Massenorganisationen befinden müssen“.
Private, unabhängige Medien sind also schlicht nicht mehr vorgesehen und damit illegal. Präsident Miguel Díaz-Canel betonte vor den Abgeordneten, dass jegliche mediale „Subversion“ zu unterbinden sei und erklärte unabhängige Medien pauschal zu „Söldnern im Dienste ausländischer Interessen“.
Für Reporter ohne Grenzen, international anerkannte Organisation für die Pressefreiheit mit Sitz in Paris, ist das Gesetz der „angekündigte Tod der Pressefreiheit in Kuba“, so deren Lateinamerika-Direktor Artur Romeu. Das kubanische Parlament entziehe der fragilen unabhängigen Medienszene der Insel, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt habe, den Boden. Eine Einschätzung, die Reporter wie Iván García und sein Kollege Henry Constantín teilen.
Constantín ist der Vertreter Kubas in der Interamerikanischen Pressegesellschaft (IAPA) und Direktor von Hora de Cuba, einem der wenigen verbliebenen unabhängigen Onlinemedien, das in Camagüey sitzt, der drittgrößten Stadt im Zentrum der Insel. Seine Redakteur:innen wurden wiederholt von der Staatssicherheit vorgeladen oder festgenommen. Für Constantín ist der Fall klar: Die Kolleg:innen sollen eingeschüchtert werden, damit sie die Berichterstattung einstellen.
Diese gängige Praxis hat ohne Zweifel zum Exodus der Journalist:innen beigetragen, der mit der Migrationswelle seit 2021 einhergeht. Rund 80 Prozent von ihnen haben die Insel in den letzten Jahren verlassen, schätzen Iván García und Henry Constantín. Internationale Beachtung fand beispielsweise die Entscheidung der Redaktion von El Toque, einem weiteren erfolgreichen Onlineportal, nach den ersten Protesten vom 11. Juli 2021 die Insel zu verlassen und die Berichterstattung aus dem Ausland fortzusetzen.
Der 11. Juli, als landesweit erstmals tausende Kubaner:innen auf die Straße gingen und für politische und ökonomische Reformen demonstrierten, ist ein Meilenstein in der kubanischen Geschichte. Die Proteste wurden niedergeschlagen.
Auf einer Pressekonferenz berichtete die Redaktion von El Toque über das repressive Vorgehen der Ordnungskräfte, die Festnahme von rund 1400 Demonstrant:innen und deren Verurteilung zu teils langjährigen Haftstrafen. Chefredakteur Jasán Nieves erklärte in einem Statement, der Druck der Sicherheitsbehörden sei merklich gestiegen, in Kuba gebe es schlicht keinen Freiraum mehr für kritische, unabhängige Berichterstattung.
Die Festnahme von José Luis Tan Estrada zeigt, wie recht er damit hat. Tan Estrada war bis Ende 2022 Dozent für Journalismus an der Universität von Camagüey gewesen. Dann wurde er entlassen – wegen seiner kritischen Artikel für CubaNet, ein von den USA aus betriebenes und vom State Department unterstütztes Onlineportal, und die in Spanien ansässige Onlinezeitung Diario de Cuba. Anstoß erregten außerdem seine Kommentare und Berichte auf Facebook und anderen Plattformen. Seither ist der 27-Jährige wiederholt von der Polizei vorgeladen, verhört und unter Druck gesetzt worden.
Am 26. April 2024 wurde der Bus, mit dem er auf dem Weg nach Havanna war, an einem Kontrollposten der Polizei angehalten. José Luis Tan Estrada wurde von zwei Beamten kontrolliert, festgenommen und in Handschellen ins Verhörzentrum der Staatssicherheit im berüchtigten Gefängnis Villa Marista gebracht. Dort wurde er ohne rechtliche Grundlage fünf Tage lang festgehalten – das widerspricht auch kubanischen Gesetzen.
Internationale Proteste von Amnesty International, der IAPA oder der mexikanischen Organisation für Pressefreiheit (Artículo 19) haben vermutlich zu seiner Freilassung am Morgen des 1. Mai beigetragen, als er von Polizisten in den Bus nach Camagüey gesetzt wurde. Zwei Tage später berichtete er in einer Videobotschaft und im Interview mit dem Diario de Cuba über seine Haftbedingungen im Villa Marista: psychologischer Terror, Isolationshaft bei gleißender Neonbeleuchtung, Hunger und Durst während der fünf Tage.
Iván García vermutet, dass es – neben Tan Estradas Berichterstattung über die üblichen alltäglichen Probleme wie Stromabschaltung oder Benzinmangel – einen weiteren Grund für die Festnahme gegeben habe. „Er hat in Camagüey Menschen in extremer Armut unterstützt und darüber berichtet. Außerdem hat er von Fällen erzählt, in denen Menschen durch das soziale Sicherungssystem gefallen sind und zum Beispiel nicht mehr medizinisch behandelt wurden. Damit untergräbt er das nach wie vor positive Image des kubanischen Gesundheits- und Sozialsystems.“ Ein Argument, das auch Henry Constantín für plausibel hält. José Tan Estrada sei ein doppelt Unbequemer. Zudem habe er seine Arbeit wieder aufgenommen.
Für Henry Constantín ist der junge Kollege ein Vorbild. Zumal er zu den wenigen jungen, unabhängigen Journalisten gehört, die mittlerweile nachgewachsen sind. Dass weitere dazustoßen werden, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Zum einen schreckt das repressive Vorgehen der Sicherheitskräfte die jüngere Generation ab, zum anderen scheint für viele seit den unterdrückten Protesten vom Juli 2021 klar, dass es kaum Optionen auf einen friedlichen Wandel in Kuba unter der Regierung von Miguel Díaz-Canel gibt.
Das sieht auch die 21-jährige Hotelfachfrau Alina Pérez so. Auf die Frage nach ihrer Zukunft imitiert sie mit Gesten und Geräuschen ein Flugzeug beim Abflug. Die einst sozialistische Insel sei in den Händen eines Zirkels steinalter Comandantes und ihrer Familien gelandet: „Die stehen einer Zukunft von unten im Weg“, sagt sie und meint eine Zukunft, die die Bevölkerung der Insel mitentscheidet. Doch das gibt sie nur hinter vorgehaltener Hand preis – wie so viele andere auch, die heimlich, still und leise an ihrer Ausreise basteln.
Karl Kaufmann ist Journalist.
© LMd, Berlin