11.07.2024

Von der Leyen, die Zweite

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Von der Leyen, die Zweite

Die neue alte EU-Kommissionspräsidentin steht für eine Öffnung nach rechts und einen stramm atlantischen Kurs

von Frédéric Lebaron

Alireza Varzandeh, grosseto, 2023, Öl auf Leinwand, 120 × 95 cm
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Als Ursula von der Leyen im Juli 2019 mit knapper Mehrheit zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt wurde, ging man davon aus, dass die der politischen Mitte zugerechnete Christdemokratin lediglich die Routine-Aufgaben der Präsidentschaft abarbeiten würde. Sie sollte der Brüsseler Bürokratie, die mitunter in einer eigenen Welt zu leben scheint, ein Gesicht geben und die Balance zwischen dem konservativen Lager der Europäischen Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten austarieren, die zusammen mit den Liberalen das Europäische Parlament dominieren.

Doch dann haben die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine die Lage verändert. Die Kommissionspräsidentin nutzte ihre institutionellen Spielräume und setzte in der Verteidigungs-, Umwelt- und Einwanderungspolitik neue Richtlinien durch. Was ihr gelang, ohne die Fans eines föderalen Europas allzu sehr zu brüskieren und zugleich die Empfindlichkeiten der Linken wie der Konservativen zu berücksichtigen. Das ging nicht ohne Lavieren ab: Nachdem sie die Union zunächst auf nachhaltige Entwicklung und einen europäischen Green Deal ausgerichtet hatte, trat sie angesichts des Widerstands ihrer eigenen Fraktion und der europaweiten Mobilisierung der Landwirte den Rückzug an.

Die Nähe zum bäuerlichen Milieu gehört gewiss nicht zu den Kriterien für die Spitzenposition der Europäischen Kommission. Von der Leyen stammt aus einer Politikerfamilie: Ihr Vater Ernst Albrecht war zunächst Generaldirektor für Wettbewerb bei der Europäischen Gemeinschaft (Vorläuferin der EU), von 1976 bis 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen und zeitweise stellvertretender CDU-Vorsitzender.

Die alte und neue Kommissionspräsidentin ist in einem konservativen protestantischen Milieu aufgewachsen, studierte zunächst Volkswirtschaft, unter anderem an der London School of Economics, absolvierte dann aber ein Medizin-Studium, das sie mit der Promotion abschloss. Von der Leyen spricht fließend Englisch und Französisch. Für ein Bad in der Menge ist sie nicht zu haben; statt auf Parteiversammlungen ein Bier zu trinken, geht sie lieber reiten.

Im Umgang mit ihren Mit­ar­bei­te­r:in­nen gilt sie als spröde und in ihrem persönlichen Lebensstil als asketisch, ganz im Gegensatz zur Geselligkeit ihres Vorgängers Jean-Claude Juncker. Was sie vor allem auszeichnet, ist ihr meisterlicher Umgang mit den Medien. Die Regeln der audiovisuellen Selbstdarstellung lernte sie spätestens seit ihrer Berufung zur Familienministerin in der Regierung von Angela Merkel im November 2005, als sie sich als berufstätige Frau und Mutter von sieben Kindern inszenierte. Als Kommissionspräsidentin platziert sie sich bei offiziellen Gruppenfotos auf so energische Weise, dass die europäischen Staats- und Re­gie­rungs­che­f:in­nen sich zuweilen wie Komparsen vorkommen.

Die Coronakrise und der Ukrainekrieg boten von der Leyen die Chance, ihr Image zu stärken – und das, obwohl sie von einem Misserfolg zum anderen eilte. Ähnlich war es schon während ihrer Amtszeit als deutsche Verteidigungsministerin (2013–2019) gelaufen. Damals ließ sie Hochglanzbilder verschicken, auf denen sie Panzer ins­pi­ziert, während im Hintergrund die Berateraffäre hochkochte: Im Vertrauen auf die Effizienz des freien Markts hatte ihr Ministerium Aufgaben an private Beratungsfirmen ausgelagert. Mit dem gleichen blinden Glauben, gepaart mit Dilettantismus, agierte sie 2021 als Kommissionspräsidentin bei der Impfstoffbeschaffung1, oder nach 2022, als sie auf der Verschärfung unwirksamer Wirtschaftssanktionen gegen Russland bestand2, die dann einen Inflationsschub in ganz Europa und eine Rezession in Deutschland zur Folge hatten.

Damit sind wir bei dem politischen Thema, das für von der Leyen sogar noch absoluten Vorrang vor ihren liberalen Glaubenssätzen hat: ihre Haltung zu Russland, das sie als das absolute Böse wahrnimmt, aber auch als eine Bedrohung, die dazu führen könnte, dass endlich ein Europa der gemeinsamen demokratischen, liberalen und atlantischen Werte entsteht.

Ökologischer Wandel hat keine Priorität

Mit ihren Auftritten in gelbem Jackett und hellblauer Bluse, ihrem Werben für den schnellstmöglichen EU-Beitritt der Ukraine, ihren fast täglichen antirussischen Bekundungen und ihrem Willen zur Stärkung der Nato erweckte die Kommissionspräsidentin teilweise den Anschein, sie wolle die Kon­trol­le über die europäische Diplomatie übernehmen. Für die ist allerdings nicht die Kommission, sondern der Europäische Rat zuständig ist, sprich die Regierungen der Mitgliedstaaten.

In dieser Frage vertritt von der Leyen eher die bellizistischen Posi­tio­nen der USA, der baltischen Staaten oder Polens als die der Südeuropäer. Ihre Partnerschaf mit Biden verschaffe der Kommission einen „beispiellosen Status“ und stärke von der Leyens Einfluss in Europa, war in der Financial Times vom 22. April 2023 zu lesen. Es war nie ein Geheimnis, dass die Kommissionspräsidentin gern das Amt der Nato-Generalsekretärin übernehmen würde. Dabei kam ihr aber ausgerechnet ihre Russland-Obsession in die Quere, die so ausgeprägt ist, dass Bundeskanzler Olaf Scholz befürchtete, sie könnte Deutschland langfristig schaden.3 Dabei ist ihre proukrainische Position umso auffälliger, als ihre Kritik an den israelischen Kriegsverbrechen in Gaza allzu diskret ausfällt.

Das Engagement für die Aufrüstung Europas stellt eine radikale Abkehr von den bislang üblichen Bekenntnissen zum Pazifismus dar. Konkretisiert wird die neue Priorität durch die im März beschlossene Europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich und den geplanten Posten eines neuen Kommissars für Verteidigung. Damit steht von der Leyen, die mit Friedensparolen angetreten ist, für die Entstehung einer europäischen Supermacht mit einem starken militärischen Arm; und mit massiven staatlichen Subventionen für eine Rüstungsindustrie, die unserer europäischen Identität förderlich sein soll.

Für von der Leyen sind Identität und Werte die ideologischen Säulen ihrer Präsidentschaft. Damit hat sie wesentlich zur Entstehung einer neuen politischen Konstellation beigetragen. Lange galt der Aufstieg der radikal rechten Parteien als Gefahr für die europäischen Institutionen, und zwar für das Europäische Parlament, wo nationalistische und antieuropäische Gruppierungen an Boden gewannen, wie für die Mitgliedstaaten selbst.4 In mehreren Ländern haben seit einigen Jahren vormals nur marginale rechtsradikale Kräfte ihre politische Agenda durchgesetzt. In Italien haben die postfaschistischen Fratelli d’Italia die Regierung übernommen; in Finnland, in der Slowakei und neuerdings auch in den Niederlanden und in Kroatien regieren Parteien der radikalen Rechten mit, in Schweden ist die Minderheitsregierung auf ihre Unterstützung angewiesen.5

Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben den Vormarsch der Radikalen bestätigt. Allerdings konnte sich die rechtskonservative EVP als größte Fraktion behaupten. Sie ist damit in der Lage, je nach den Umständen auf ihr informelles Bündnis mit den Sozialdemokraten und den Liberalen zu setzen oder aber die Unterstützung von rechts außen zu suchen. Bei den Abstimmungen im EU-Parlament wie auch in den nationalen Parlamenten kommt es immer häufiger zu einer Verwischung der Grenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen des rechten Spektrums. Dass sich dabei die radikalsten Parteien inzwischen auf Wirtschaftsfragen konzentrieren, erleichtert eine Annäherung, wie sie von der Leyen gegenüber Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni betreibt.

Die Kommissionschefin zeigt damit eindeutig, wo es ihrer Meinung nach langgehen soll: Die EU-Mitglieder sollen auch künftig an den Haushaltsregeln festhalten, die ihre öffentlichen Ausgaben beschränken und den Wohlfahrtsstaat zurückstutzen, gleichzeitig aber quasi unbegrenzt Gelder in das Militär und die Rüstungsindustrie pumpen. Dagegen sollen die Konjunkturprogramme zur Bekämpfung der Coronakrise auslaufen; und was noch schlimmer ist: Der ökologische Wandel ist auf der Prioritätenliste weit nach unten gerutscht, seitdem die Agrarkrise durch die Inflation und die ukrainischen Getreideimporte neu entfacht wurde.

Auf die schwindende Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, die vor allem auf die steigenden Energiekosten zurückgeht, reagiert die EVP mit dem üblichen neoliberalen Rezept: „Wettbewerbsfähigkeit muss das Leitmotiv der EU für die kommenden Jahre sein“, heißt es auf ihrer Website. Im Klartext: Die europäische Wirtschaft ächzt unter der Last zu hoher Sozialkosten und muss ihre „Strukturreformen“ vertiefen, um im globalen Wettbewerb zu bestehen.

Was die Weltwirtschaft betrifft, so setzt die Kommissionschefin auf eine aggressivere EU-Strategie. Vorbei sind die Zeiten der glückseligen Globalisierung in den 1990er und 2000er Jahren. Die Politik unter der neuen alten Kommissionspräsidentin von der Leyen stellt sich damit als ein Mischrezept dar: Sparpolitik plus Marktliberalisierung im Innern, ergänzt durch einen zaghaften europäischen Protektionismus und massive Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex. Hier und da werden auch ökologische und soziale Schlagworte eingestreut.

Auf dieses Rezept haben sich offenbar die wichtigsten politischen Kräfte in der EU geeinigt. Der grüne Aufschwung wird ersetzt durch einen Aufschwung der Nato-grünen Rüstungswirtschaft – eingebettet in einen Diskurs über die europäische Identität, die sich vor allem negativ und je nach Bedarf antirussisch, antichinesisch und antiislamisch definiert.

Um die „postliberalen“ Kräfte zu beschwichtigen und den Zusammenhalt eines wirtschaftlich, politisch und religiös heterogenen Europas zu sichern, ist allerdings ein starker ideologischer Kit vonnöten. Als solcher dient die Erzählung von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation6 , die allerdings bewusst vage definiert wird – eine Kunst, die Ursula von der Leyen meisterlich beherrscht.

Damit sich die unterschiedlichsten politischen Strömungen in dieser Erzählung wiederfinden können, verzichtet sie auf die Unterscheidung zwischen einem „Europa der Werte“ (demokratisch, ökologisch und sozial) und einem „ethnisch-religiösen Europa“. Letztere Version ist vor allem in Osteuropa verbreitet, exemplarisch etwa von der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Die PiS gehört der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an, die von der Leyen offen umworben hat.

Innerhalb der EU existieren also zwei theoretisch gegensätzliche Vorstellungen von Europa nebeneinander her. Nach Auffassung der linken und grünen Parteien, aber auch Teilen der traditionellen Christdemokraten hat das politische Europa keine ethnische oder religiöse Dimension. Es definiert sich in erster Linie über Rechte und kennt auch keine klaren geografischen Grenzen. So verstanden könnte sich Europa durchaus vom Atlantik bis zum Ural oder sogar darüber hinaus erstrecken und im Prinzip auch eine künftige „demokratische“ Türkei umfassen.

Dem steht ein „anderes“ Europa gegenüber, das sich durch die zumal von Meloni und von der Leyen betriebene restriktive Migrationspolitik gegenüber den Menschen aus dem Globalen Süden zunehmend abschottet. Ganz im Sinne dieses konservativen Europas der „traditionellen“, familienorientierten Werte wütet etwa die EKR-Fraktion auf ihrer Website gegen die „Gender-Ideologie“, die angeblich „die biologische und soziale Realität leugnet und die Identität der Bürger untergräbt“.

Die europäischen Rechtextremisten wollen „das Schicksal verfolgter Christen ganz oben auf die außenpolitische Agenda der EU“ sehen. Wenn sich die Wirtschaftsliberalen mit dieser extremen Rechten einlassen, rückt die im Entstehen begriffene „europäische Ideologie“ in die Nähe jenes konservativ-nationalistischen Weltbilds, das Donald Trump, Wladimir Putin oder auch Narendra Modi pflegen.

Offenbar will von der Leyen euro-nationalistische Positionen beziehen, um die verschiedenen Lager zusammenbringen, die sich auf nationaler Ebene häufig befehden. Da ist zum einen das „demokratische Lager“, das sich vor allem in Westeuropa aus Besserverdienenden mit hohem kulturellem Kapital rekrutiert und das seine Vorstellung eines „Europas der Werte“ auf die Welt projiziert. Da ist zum Zweiten das xenophobe Lager, das vor allem viele Angehörige der Arbeiter- und der Mittelschicht umfasst, die ihre Frustration über neoliberale Reformen und krasse soziale Ungleichheiten an Migranten und Migrantinnen auslassen. Und da ist drittens die ökonomisch dominante Klasse und ihre intellektuelle und mediale Gefolgschaft, die mit ihrer Politik den sozialen Zusammenhalt immer mehr zersetzen.

Diese soziopolitische „große Koalition“, die vor unseren Augen Gestalt annimmt, war die große Gewinnerin der Wahlen vom 9. Juni.

1 Peter Kuras, „The Aristocratic Ineptitude of Ursula von der Leyen“, Foreign Policy, 30. April 2021.

2 Siehe David Teurtrie, „Warum die Sanktionen gegen Russland scheitern“, LMd, Juni 2024.

3 Siehe „Scholz verhinderte von der Leyen – nun ist ein Niederländer Favorit als Nato-Chef“, Welt am Sonntag, 22. Februar 2024.

4 Guillaume Sacriste, „Le Parlement européen contre la démocratie“, Paris (Presses de Sciences Po) 2024.

5 Siehe Grégory Rzepski, „Rechtsextrem in Europa“, LMd, Juni 2024.

6 Siehe Frédéric Lebaron, „Wir sind die Guten“, LMd, März 2023.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Frédéric Lebaron ist Professor für Soziologie an der Hochschule École normale supérieure Paris-Saclay.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Frédéric Lebaron