11.07.2024

Demokratie für Guatemala – nächster Versuch

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Demokratie für Guatemala – nächster Versuch

Präsident Bernardo Arévalo muss sich gegen die korrupte Justiz behaupten

von Mikaël Faujour

Indigene für Arévalo, September 2023 MOISES CASTILLO/picture alliance/ap
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Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 äußerte sich Guatemalas Präsident Bernardo Arévalo bei einer Veranstaltung zum Thema Korruption. „Wir haben derzeit die Situation, dass sich politische Mafias organisieren, um die Kontrolle über staatliche Institutionen zu übernehmen und sie der Kriminalität und der Korruption auszuliefern. Das ist eine grundlegende Bedrohung für den Bestand unserer Demokratien.“ Arévalo weiß, wovon er spricht: Nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt am 20. August 2023 gab es zahlreiche Versuche von allen Seiten – insbesondere der Justiz –, ihn daran zu hindern, sein Amt am 14. Januar 2024 regulär anzutreten.

Arévalo sprach von einem „Pakt der Korrupten“. Das ist die in Guatemala geläufige Bezeichnung für eine Schattenallianz, die in staatlichen Insti­tu­tio­nen (Kongress, Justiz), in Wirtschaft und Medien zwischen der korrupten Oligarchie und dem – mit der organisierten Kriminalität innig verbundenen – Militärapparat geschmiedet wurde. Seine Mitglieder werden aktiv, wenn sich die Möglichkeit abzeichnet, dass eine demokratische Wahl das System, das die staatlichen Ressourcen zu ihrem Vorteil abschöpft, grundlegend infrage stellen könnte.

Arévalo siegte im zweiten Wahlgang mit 58 Prozent der Stimmen vor Sandra Torres (37 Prozent), der Ex-Frau des früheren Präsidenten Álvaro Colom (2008–2012).1 Der Präsident und seine Partei Semilla (Samenkorn) stehen für einen gemäßigten, sozialdemokratischen Kurs. Er ist Diplomat und promovierter Sozialanthropologe; sein Vater, Juan José Arévalo, war der erste demokratisch gewählte Präsident Gua­te­ma­las (1945–1951). Arévalo ist aber keine aus den sozialen Bewegungen und Kämpfen Guatemalas hervorgegangene Führungspersönlichkeit. Noch 2023 sagten ihm Umfragen gerade ­einmal 5 Prozent Stimmenanteil voraus.

Seinen Aufstieg und Sieg verdankt Aré­va­lo zum einen der niedrigen Wahlbeteiligung von 45 Prozent und den vielen ungültigen Stimmzetteln in beiden Wahlgängen, zum anderen dem großen Engagement seiner eher kleinen Wählerschaft, die vor allem aus den städtischen Mittelschichten kommt und seinen Antikorruptionskurs unterstützt. Damit verkörpert dieser Präsident, der bereits ab 2020 als Abgeordneter im Kongress saß, den Wunsch nach einem politischen Wandel im bevölkerungsreichsten Land Zentralamerikas.

Arévalo versprach, der Rechtsbeugung und dem Amtsmissbrauch ein Ende zu setzen, den Rechtsstaat wieder aufzubauen und Guatemalas Demokratie neu zu begründen. Damit machte er sich den „Pakt der Korrupten“ zum Feind, der sämtliche Fortschritte im Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit seit den 2000er Jahren wieder rückgängig zu machen versucht.

Am 12. Dezember 2006 wurde die Internationale Kommission für den Kampf gegen die Straflosigkeit in Gua­te­mala (Cicig) ins Leben gerufen.2 Die von den UN eingesetzte Strafverfolgungsbehörde hatte zum Ziel, „die staatlichen Institutionen zu unterstützen, die für Ermittlungen und Strafverfolgungen von Delikten zuständig sind, die durch illegale militärische Verbände und geheime Sicherheitsapparate begangen wurden: kriminelle Gruppen, die die staatlichen Institutionen in­fil­triert haben, um die demokratischen Erfolge zu untergraben, die in Guatemala seit dem Ende des bewaffneten Konflikts im Inneren erreicht wurden“. Der Bürgerkrieg in Guatemala hatte von 1960 bis 1996 gedauert.

Von 2007 bis 2018 kamen durch die Cicig nicht weniger als 20 Affären ans Licht. Vier Präsidenten, zahlreiche Mi­nis­te­r:in­nen, Unternehmer und hohe Beamte, Abgeordnete, frühere Offiziere und Polizeichefs sowie Rich­te­r:in­nen wurden wegen verschiedenster Verbrechen und Delikte angeklagt.

2015 wurden Präsident Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin Roxana Baldetti beschuldigt, ein mafiöses System installiert zu haben, um Geld zu veruntreuen. Nach massiven Protesten im ganzen Land3 trat Pérez Molina im September 2015 zurück und wurde 2022 schließlich wegen Korruption zu 16 Jahren Haft verurteilt. Aus der in Guatemala historisch einmaligen Protestbewegung entstand 2017 auch Semilla, die 2018 zur offiziellen Partei wurde. Über 95 Prozent der Menschen in Guatemala unterstützten damals das Vorgehen der Cicig. Doch für die Machtzirkel war die unabhängige internationale Organisation fortan der Feind, den man zur Strecke bringen musste.

Zu Pérez Molinas Nachfolger wurde 2015 der evangelikale Fernsehkomiker Jimmy Morales gewählt. Sein Wahlslogan: „Weder korrupt noch Dieb“. 2017 ermittelte die Cicig auch gegen ihn und seine Familie wegen Korruption. Zudem wurde ihm vorgeworfen, systematisch sexuelle Übergriffe begangen zu haben. Acht bedeutende Unternehmer, deren Namen in der Affäre auftauchten, sahen sich im April 2018 zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen. Morales wandte sich gegen die UN und warf die Cicig vor Ende seines Mandats im September 2019 aus dem Land.4

Im selben Jahr ging auch die Amtszeit der Generalstaatsanwältin Thelma Adana zu Ende, die mit der Cicig zusammengearbeitet hatte. Als ihre Nachfolgerin setzte der scheidende Präsident María Consuelo Porras ein – und die profilierte sich als eifrige Verfechterin der Repression gegen alle, die Straflosigkeit und Korruption bekämpft hatten: Unter fadenscheinigen Anklagen wurden Richter und Staatsanwältinnen, Aktivisten und Journalistinnen inhaftiert oder ins Exil getrieben.

Der nächste Präsident, Alejandro Giammattei (2020–2024), erkaufte sich die Folgsamkeit des Justizapparats mit einer Erhöhung von dessen Budget um 76 Prozent.5 Prominentes Beispiel dafür ist Rafael Curruchiche, der 2021 an die Spitze der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit (Feci) berufen wurde. Sein Vorgänger Juan Francisco Sandoval war von Consuelo Porras entlassen worden, nachdem er enthüllt hatte, dass Präsident Giammattei von einer russischen Bergbaugesellschaft einen mit Geldscheinen durchwebten Teppich als Geschenk erhalten hatte. Curruchiche beendete die Ermittlungen.

Die Generalstaatsanwältin weigert sich zu gehen

Bei den Präsidentschaftswahlen 2023 war der „Pakt der Korrupten“ bemüht, missliebige und unberechenbare Kan­di­da­t:in­nen schon im Vorfeld aus juristischen oder verwaltungstechnischen Gründen abzulehnen. Es sah bereits so aus, als hätten nur Ver­tre­te­r:in­nen des Status quo Chancen, in die Stichwahl zu gelangen.

Doch mit dem ersten Wahlgang am 25. Juni 2023 gelangte Bernardo Arévalo überraschend in die Stichwahl. Die Justiz setzte alle Hebel in Bewegung, um eine Machtübernahme durch ihn und seine Partei zu verhindern: Eine Neuauszählung wurde angeordnet, Parteibüros wurden durchsucht, Semilla wurde verboten.

Noch am Tag der Amtseinführung, dem 14. Januar 2024, versuchten die Abgeordneten der konservativen Opposition, die Ernennung von Samuel Pérez (Semilla) als Parlamentspräsident zu verhindern – was ihnen jedoch nicht gelang. Daraufhin nahm das Verfassungsgericht Semilla erneut ins Visier, erkannte ihr den Status als Partei ab und stufte ihre Abgeordneten als „unabhängig“ und fraktionslos ein. Damit verloren sie den Anspruch auf die Parlamentspräsidentschaft und das Recht, Ausschüsse zu leiten. Trotz alledem ist Arévalo jetzt Präsident und genießt international breite Unterstützung.

Neben der EU, den lateinamerikanischen Staaten und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) spielen die USA dabei eine wichtige Rolle: Die Biden-Administration verlangte sofort nach der Wahl die Anerkennung von Arévalos Sieg und ließ ihren Worten auch Taten folgen. Wegen Korrup­tions­ver­dachts verhängte sie Sanktionen gegen rund 400 guatemaltekische Staatsangehörige, die nun nicht mehr in die USA einreisen durften. Auf der Liste stehen auch Porras und Curruchiche. Der Druck aus Washington erwies sich letztlich als entscheidend für die Anerkennung der Wahl.

Arévalos Programm entspricht den Interessen der USA, die hauptsächlich am Kampf gegen organisierte Kriminalität, Drogenhandel und illegale Einwanderung interessiert sind.6 Außenpolitisch setzt es den bisherigen Kurs fort: Unterstützung der Ukrai­ne gegenüber Russland (sehr selten in Lateinamerika) und Israels (die Botschaft Guatemalas wurde 2018 nach Jerusalem verlegt). Arévalo steht für eine saubere Regierung und mehr Stabilität, er ist als Partner weitaus präsentabler als seine Vorgänger. Am 25. März 2024 verkündete die US-Regierung ein Hilfsprogramm im Umfang von 170 Millionen Dollar für „Entwicklung, Wirtschaft, Gesundheitsversorgung und Sicherheit“ in Guatemala.

„Arévalos Amtsantritt hat neuen Sauerstoff ins System gebracht, vor allem ins Parlament“, sagt Edgar Balsells, Forscher an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flasco). Auch wenn der Präsident über keine Mehrheit im Parlament verfügt und der Spielraum seiner Partei stark eingeschränkt wurde, „gibt es im Parlament inzwischen eine Koalition einzelner Abgeordneter und Parteien, die sich von Fall zu Fall zusammenfinden, um die von Semilla eingebrachten Gesetzesanträge zu unterstützen“.

Die Glaubwürdigkeit und Legitimation der konservativen Parteien, die das Parlament in den letzten Jahren unangefochten beherrscht haben, sei zusammengebrochen, meint Balsells. Dies könnte ein Ergebnis der breiten Proteste gegen die Korruption sein, auf die die Politik vor allem mit opportunistischen Reflexen reagierte, um das eigene Überleben zu sichern. Laut Balsells ist „das Erste, woran ein Abgeordneter denkt, sobald er einen Fuß ins Parlament gesetzt hat, seine Wiederwahl“.

Das hat auch dazu geführt, dass viele Abgeordnete populären Gesetzesvorhaben zustimmen. So haben am 15. Februar 128 der 160 Parlamentarier das „Kreditkartengesetz“ verabschiedet, das die Möglichkeiten von Banken reguliert, Zinsen auf Kredite zu erheben. Ein Rahmengesetz zum Verbraucherschutz wird gerade diskutiert.

Nach 100 Tagen hat die Regierung das große Aufräumen in den staatlichen Institutionen begonnen: Der Generaldirektor der zivilen Luftfahrt wurde abgesetzt, eine nationale Kommission gegen Korruption eingerichtet und die interne Revision dem nationalen Büro für den öffentlichen Dienst übertragen. Das Ministerium für Energie und Bergbau, bislang ein Bollwerk der Konzerninteressen, verlängerte die Förderlizenz des Ölkonzerns Perenco nicht, der mindestens seit 2010 illegal im Land tätig ist.7

Zwar hat Arévalo nur eine indigene Ministerin ernannt – obwohl indigene Autoritäten eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung des gewählten Präsidenten gespielt haben –, aber er gibt sich alle Mühe, gute Beziehungen zur indigenen Bevölkerung aufzubauen. So besuchte Arévalo mehrere Maya-­Zere­mo­nien und verkündete Maßnahmen wie ein verbessertes Bildungsangebot.

Eine weitere Neuerung: Der Präsident ging im Februar acht Tage auf Europareise, wo er um Unterstützung für seinen Kampf gegen die Korruption warb und Kooperationsabkommen unter anderem mit der EU und der Unesco schloss.

Juan Alberto Fuentes Knight, ehemaliger Finanzminister im Exil8 und Gründungsmitglied von Semilla, findet, man müsse jetzt „vom diplomatischen zu mehr politischem Handeln“ kommen. Aber Arévalos diplomatische Erfahrung werde ihm in der Konfrontation mit seinen Gegnern im Innern nicht helfen.

Die indigene Aktivistin Lucia Ixchíu erklärt, ebenfalls aus dem Exil: „Der ‚Pakt der Korrupten‘ beginnt zu bröckeln, er hat die Exekutive und die Nationalpolizei verloren, aber die Diktatur der Justiz ist noch nicht beendet.“ Das Verfassungsgericht, die Staatsanwaltschaft und der Oberste Gerichtshof befänden sich nach wie vor in den Händen einer „kriminellen Bande“. Während der Präsident der – lange von der Justiz verfolgten – Antikorruptionsrichterin Virginia Laparra einen Orden verleiht, lässt die Staatsanwaltschaft korrupte Po­li­ti­ke­r:in­nen frei, die in der Zeit der Cicig angeklagt oder verurteilt wurden.

Sofort nach seinem Amtsantritt hatte Arévalo die unbeliebte Generalstaatsanwältin Consuelo Porras zum Rücktritt aufgefordert. Sie erklärte jedoch, sie werde bis zum Ende ihres Mandats 2026 weiterarbeiten. Da die Verfassung es dem Präsidenten untersagt, eine Generalstaatsanwältin abzusetzen, suchen Semilla-Anwälte jetzt nach einer Gesetzeslücke. Der Gründer des Onlinemediums gazeta.gt, Virgilio Álvarez Aragón, meint, dass eine Volksabstimmung über ihren Verbleib im Amt dabei helfen könnte, „den Korken knallen zu lassen“ – also Porras von ihrem Posten zu entfernen und die Generalstaatsanwaltschaft wieder in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Doch er fürchtet: „Bernardo hat keine Kampferfahrung.“

Die vier Jahre, die vor dem Staatschef liegen, werden schwierig. Zum einen könnte eine mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus bewirken, dass der starke Druck vonseiten der USA nachlässt – gerade hat das State Department Sanktionen gegen Alejandro Giammattei und den früheren Energie- und Bergbauminister Alberto Pimentel Mata wegen Korruption verhängt.

Zum anderen ist eine entscheidende Frage, wie sich der Einfluss der mexikanischen Drogenkartelle auf die guatemaltekische Politik entwickeln wird. Die kontinuierliche Schwächung staatlicher Institutionen hat es ihnen leicht gemacht, direkt in die Politik des Landes einzugreifen, wie auch in anderen lateinamerikanischen Staaten.

Das Ziel von Präsident Arévalo, die Korruption zu bekämpfen und den Rechtsstaat wieder aufzubauen, liegt angesichts der Ruinenlandschaft, die ihm seine Vorgänger hinterlassen haben, und der Widerstandskraft des „Pakts der Korrupten“ jedenfalls noch in weiter Ferne.

1 Beim ersten Wahlgang am 25. Juni kam Arévalo auf 11,8 Prozent, Torres auf 15,7. 25 Prozent hatten ungültige Stimmzettel abgegeben.

2 „¿Qué es la Cicig?“, Cicig.org, historisches Archiv.

3 Sandra Weiss, „Die Mutigen von Guatemala. Bürgeraufstand für den Rechtsstaat“, LMd, Februar 2016.

4 Clément Detry, „Keine Gerechtigkeit in Guatemala“, LMd, April 2019.

5 Asier Andres, „El presupuesto del MP aumentó un 76 por ciento durante la gestión de Giammattei“, No Ficción, 9. November 2023.

6 Guatemala gehört mit Honduras und El Salvador zum „Norddreieck“ des regionalen Drogenhandels. Etwa ein Drittel aller Migrant:innen, die aus Zentralamerika in die USA gelangen wollen, stammt aus Guatemala.

7 Mikaël Faujour, „Le Guatemala dit enfin adieu au pétrolier franco-britannique Perenco“, Reporterre, 6. März 2024.

8 Unter Präsident Colom 2008 bis 2010. Er trat zurück, weil er seinen Plan für ein gerechteres Steuersystem nicht durchsetzen konnte.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Mikaël Faujour ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Mikaël Faujour