11.07.2024

Verdientes Waterloo für die Tories

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Verdientes Waterloo für die Tories

Der Wahlsieg von Labour am 4. Juli ist weniger ein Triumph der bisherigen Opposition als vielmehr die erwartbare Quittung für die katastrophale Bilanz einer ganzen Reihe konservativer Regierungen. Damit steht Labour-Chef Keir Starmer vor schwierigen und undankbaren Aufräumarbeiten.

von Jamie Maxwell

Streik der „Junior Doctors“, London, Januar 2024 TEJAS SANDHU/picture alliance/zumapress
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Als Premierminister Rishi Sunak am 22. Mai im strömenden britischen Regen aus der Tür von Downing Street 10 trat, um vorgezogene Neuwahlen anzukündigen, gelobte er, sein Land wieder mit „Stolz und Zuversicht“ zu erfüllen. „Ich werde beweisen“, sprach er in die Kameras, „dass nur eine von mir geführte konservative Regierung unsere mühsam errungene wirtschaftliche Stabilität schützen wird.“

Sunaks Unverfrorenheit war fast schon bewundernswert. Hier stand ein konservativer Premier, der seine Wählerschaft glauben machen wollte, dass es nicht seine Partei war, die Großbritannien in den letzten 14 Jahren regiert hat. Doch die Bilanz der Tory-Herrschaft lässt sich nicht so leicht aufhübschen. Seit Sunaks Partei 2010 an die Macht kam, hat sie nicht nur ein fast permanentes politisches Tohuwabohu angerichtet – mit den Brexit-Turbulenzen, der verkorksten Covid-Strategie, der Ablösung von nicht weniger als vier Re­gie­rungs­che­f:in­nen –, sondern auch einen verheerenden sozialen Kahlschlag hinterlassen.

Die strikte Sparpolitik, die Premier David Cameron im Gefolge des Finanzcrashs von 2008 betrieben hat, führte zu noch größerer Ungleichheit in der öffentlichen Gesundheitsversorgung.1 Zudem wurden die Zuschüsse für die Kommunen, die einen Großteil der öffentlichen Dienstleistungen erbringen, im Zeitraum von 2009 bis 2020 um 40 Prozent gekürzt. Und während die allgemeine Kinderarmut in etwa konstant geblieben ist, erhöhte sich die Armutsrate bei Familien mit drei und mehr Kindern um mehr als 10 Prozent2  – eine direkte Folge des neoliberalen Sozialabbaus.

Das Vereinigte Königreich ist heute ein „armes“ Land mit einigen Inseln großen Reichtums, schrieb der Kolumnist John Burn-Murdoch in der Fi­nan­cial Times vom 16. September 2022. Tatsächlich kommt keine einzige objektive Analyse zu dem Befund, dass die britische Gesellschaft heute besser dasteht – also reicher, fairer oder sicherer ist – als vor 14 Jahren. Die wahre Lage war selbst Sunak irgendwie bewusst, und so war er bemüht, seine riskante Wahlwette als Akt politischer Selbstlosigkeit darzustellen. Er tue das, „was richtig für das Vereinigte Königreich ist – und nicht, was leicht ist“, erklärte er an der Haustür von Downing Street 10.

In Wahrheit war Sunaks Entscheidung, das Parlament aufzulösen, ein defensives Manöver. Es zielte weniger darauf ab, für die Konservativen eine vierte Amtszeit in Folge zu sichern; das war ohnehin undenkbar geworden, seit Sunaks Vorgängerin Liz Truss 18 Monate zuvor mit der Ankündigung radikaler Steuersenkungen das Pfund geschwächt und die Finanzmärkte in Panik versetzt hatte.

Mit seiner Flucht nach vorn wollte der Premier seine Partei lediglich vor dem totalen Absturz bewahren. Das hat nicht geklappt. Die Tories wurden vernichtend geschlagen. Labour hat – mit rund 34 Prozent der Stimmen – 412 der 650 Sitze in Westminster erobert; damit verfügt Parteiführer Sir Keir Starmer über die größte Unterhausmehrheit seit Tony Blairs Wahlsieg von 1997. Die Konservativen dagegen haben mit nur 121 Sitzen – bei 24 Prozent der Stimmen – das schlechteste Resultat ihrer Geschichte eingefahren.

Theoretisch hätte Sunak noch sechs Monate im Amt bleiben können. Da die Legislaturperiode des Unterhauses maximal fünf Jahre beträgt, hätte er den Wahltermin bis Dezember 2024 hinauszögern können. Mitte Juni glaubten die Tories sogar einen Silberstreif am Horizont zu erkennen, als die Inflationsrate auf die von der Bank of England als Zielmarke vorgegebenen 2 Prozent sank (von 11,2 Prozent Ende 2022).

Das konnte die Wahlchancen von Sunak aber nicht verbessern. Die wirtschaftlichen Aussichten sind angesichts der anhaltend niedrigen Wachstumsraten und der niedrigen Produktivität nach wie vor trübe. Eine Schätzung des Londoner Thinktanks IPPR (Institute of Public Policy Research) von Mitte 2023 bezifferte die Investitionslücken im öffentlichen Sektor für den Zeitraum von 2006 bis 2021 auf insgesamt 208 Milliarden Pfund (etwa 250 Milliarden Euro).4 Zwischen 2010 und 2019 wurden die öffentlichen Ausgaben von 41 auf 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückgefahren – ein in der europäischen Nachkriegsgeschichte fast einmaliger Rückgang.

Kürzlich rechtfertigte Ex-Finanzminister George Osborne dieses Re­duk­tions­pro­gramm, das er unter David Cameron durchgezogen hatte, rückblickend mit dem Argument, man habe damit die britischen Staatsfinanzen gegen spätere externe Schocks gewappnet, wobei er die Coronapandemie und den Ukrainekrieg meinte.5

Das sehen Wirtschaftsexperten anders. So argumentiert Professor Martin McKee, ein führender britischer Epidemiologe, die Politik der Konservativen habe mit ihrem drastischen Staatsabbau „die Bedingungen geschaffen, unter denen Covid im Vereinigten Königreich sehr viel mehr Unheil anrichten konnte als in den meisten westeuropäischen Nachbarstaaten“.6

Diese Austeritätspolitik hat das britische Wahlvolk zunehmend zermürbt und erschöpft. Bereits vor Sunaks Wahlankündigung herrschte im ganzen Land das Gefühl, dass die wichtigsten Pfeiler der nationalen Infrastruktur – Schulen, Krankenhäuser und Verkehrswege – unter den konservativen Regierungen schlicht verrottet waren. Nicht einmal 25 Prozent der Bevölkerung sehen die Wirtschaft auf dem richtigen Weg; weniger als die Hälfte sind mit dem öffentlichen Gesundheitssektor, dem National Health Service (NHS), zufrieden; und mehr als die Hälfte befürworten die erneute Verstaatlichung des maroden und fragmentierten privaten Eisenbahnsystems.

Der allgemeine Zynismus prägt auch die Wahrnehmung der politischen Institutionen. Das Vertrauen, das die Bürgerinnen und Bürger in die regierenden Eliten haben, ist im internationalen Vergleich äußerst gering, hat das Policy Institute am Londoner King’s College ermittelt. Nach der im März 2023 publizierten Studie hat sich seit 1990 die Zahl derjenigen, die eine „positive Wahrnehmung des Parlaments“ haben, halbiert.7

Rishi Sunak ist erst vor zehn Jahren in die Politik eingestiegen. Zuvor hatte er als Hedgefonds-Manager lukrative Jobs in London und Kalifornien. Im Oktober 2022 wurde er von seiner Partei als Premierminister rekrutiert, um in Downing Street 10 den Scherbenhaufen zu beseitigen, den der auf Skandale abonnierte Boris Johnson und die chao­ti­sche Liz Truss hinterlassen hatten.

In den Augen seiner Fans war Sunak, der unter Johnson als Schatzkanzler gedient hatte, ein versierter Technokrat, dem man zutraute, den britischen Staat zu stabilisieren. Nach dem Urteil seiner Kritiker war er ein geistloser Hightechtyp, der angesichts seiner materiellen Verhältnisse nicht für ein hartes Politikerleben geschaffen ist: Nach der neuesten „Rich List“ der Sunday Times vom Mai 2024 verfügt das Ehepaar Sunak über ein Vermögen von 651 Millionen Pfund (770 Millionen Euro).

Die Kritiker sollten recht behalten. Sunaks Amtszeit war eine einzige Serie politischer Fehlentscheidungen und misslungener PR-Kampagnen. Mit seiner Ende Mai vorgebrachten Idee, einen nationalen Pflichtdienst (in Form von Militärdienst oder gemeinnütziger Arbeit) einzuführen, erntete er nur Hohn und Spott. Und seine Entscheidung, die D-Day-Feier vom 6. Juni vorzeitig zu verlassen, löste einen patriotischen Aufschrei aus.

Nach jüngsten Umfragen haben 75 Prozent der Wählerschaft ein negatives Bild von Sunak.8 Nie zuvor war ein amtierender britischer Regierungschef unmittelbar vor den Wahlen derart unbeliebt.

Zu allem Übel für Sunak kündigte dann auch noch Nigel Farage seine Kandidatur für das Unterhaus an. An der Spitze der UK Independence Party (Ukip) hatte Farage einst die Brexit-Bewegung beflügelt. Nach der Umbenennung der Ukip – zuerst in Brexit Party und dann in Reform UK – hatte er sich 2021 aus der britischen Politik zurückgezogen und sich als europäischer Trump-Propagandist profiliert. Aber dann erklärte er am 3. Juni überraschend seine Bewerbung um den Unterhaussitz von Clacton-on-Sea, einer Hochburg der Brexit-Bewegung an der Küste von Essex.

In seiner ersten Wahlrede als Kandidat von Reform UK versprach Farage, ein sofortiges Moratorium für jegliche „nicht unbedingt notwendige“ Einwanderung durchzusetzen. Seitdem sind zwei populistische Forderungen dazugekommen: die Aufkündigung des britischen „Zero Emission“-Klimaziels und die Verbannung der „Gender-Ideologie“ aus dem Schulunterricht. Am 20. Juni erklärte er in einem BBC-Interview zudem, der Westen habe die russische Invasion in der Ukraine „provoziert“.

Solche Auftritte haben Farage das Mandat von Clacton und seiner Partei 14 Prozent der Stimmen eingebracht. Damit konnte Reform UK zwar nur vier Sitze erringen, doch Farage strebt ohnehin keine unmittelbare politische Verantwortung an. Er hat bereits die nächsten Wahlen von 2029 im Auge und will bis dahin von der Auffächerung der traditionell konservativen Wählerbasis profitieren. Das Brexit-Motiv hat seine mobilisierende Kraft verloren; wichtiger sind inzwischen andere rechte Reizthemen wie Immigration, ein angeblicher „Kampf der Kulturen“ und steigende Lebenshaltungskosten.

Umfragen zufolge konnten sich rund ein Drittel der bisherigen Tory-Wählerinnen und Wähler vorstellen, Reform UK zu wählen, die so etwas wie die englische Variante des französischen Rassemblement National (RN) darstellt. Vier Jahre nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU nähert sich das Wahlverhalten – zumindest in England – immer mehr dem kontinentalen Muster an.9

Der Vormarsch von Farage wird einigermaßen aufgewogen von dem überraschenden Wahlerfolg der Liberal Democrats. Die Anti-Brexit-Partei konnte mit ihrem Stimmenanteil von 12,2 Prozent die Rekordzahl von 72 Wahlkreisen erobern; einen Großteil ihrer Sitze hat sie den Konservativen abgenommen. Damit sind die Liberaldemokraten im Unterhaus die drittstärkste Fraktion, allerdings ist ihr Einfluss wegen der großen Labour-Mehrheit eher bescheiden.

Die Turbulenzen im rechten Lager sind der Hauptgrund für den Wahlerfolg der Labour Party unter ihrem Vorsitzenden Sir Keir Starmer. Die hat allerdings mit 34,1 Prozent der Stimmen nur 1,5 Prozentpunkte mehr erzielt als 2019 mit dem linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der seinen Wahlkreis im Norden Londons am 4. Juli als Unabhängiger verteidigen konnte.

Der heutige Labour-Chef Starmer, ehemals Direktor der Staatsanwaltschaft für England und Wales, präsentiert sich als moderate Größe der britischen Politik, als sichere Alternative der Mitte nach 14 Jahren „Tory-Chaos“. Sein zurückhaltende Auftreten prägt auch die politische Agenda der Partei. Als er im April 2020 Jeremy Corbyn ablöste, versprach er, an den Hauptpunkten des linkem Programms festzuhalten, also etwa die öffentlichen Investitionen drastisch zu erhöhen, das House of Lords als zweite Kammer abzuschaffen und die Superreichen höher zu besteuern. Doch seitdem hat er fast alles abgeräumt, was von Corbyns ­sozialistischer Vision übrig geblieben war.

Im Februar kassierte Starmer das programmatische Versprechen, eine Labour-Regierung werde jedes Jahr 28 Milliarden Pfund für die Entkarbonisierung der britischen Wirtschaft ausgeben. Stattdessen reduzierte er seine Zusage auf 5 Milliarden Pfund pro Jahr, die bis Ende des Jahrzehnts in „grüne Investitionen“ fließen sollen.

Auch bei anderen Themenfeldern verließ Starmer die Linie seines Vorgängers. Corbyn hatte es noch abgelehnt, die Zahl der nach Großbritannien kommenden Migranten zu deckeln. Starmer dagegen fordert lautstark eine Begrenzung der Netto-Einwanderung. Im April 2022 forderte er ein härteres Vorgehen gegen Um­welt­ak­ti­vis­t:in­nen. Im Mai 2024 nahm er die konservative Unterhausabgeordnete Natalie ­Elphicke, die in Migrations- wie in Umweltfragen stramm rechte Positionen vertritt, mit offenen Armen in die Labour-Fraktion auf.

Solche Gesten sind Teil eines umfassenderen politischen Konzepts. Im März 2023 hatte die Labour-Spitze ihrem Ex-Vorsitzenden Corbyn untersagt, für einen Labour-Parlamentssitz zu kandidieren.10 Ähnlich erging es im Juni 2024 der linken Wirtschaftsexpertin Faiza Shaheen, der die Kandidatur für ihren Wahlkreis in Nord-London entzogen wurde. Das Gleiche versuchte Starmer bei der altgedienten sozialistischen Abgeordneten Diane Abbott, die 1987 als erste schwarze Frau ins Unterhaus gewählt worden war. Allerdings musste er seinen Widerstand gegen Abbotts Kandidatur nach heftigen öffentlichen Protesten aufgeben.

In all diesen Fällen operierte die Parteispitze mit dem Vorwurf angeblich „antisemitischer“ Äußerungen. Das Thema Palästina wurde zu einem politischen Dauerproblem für Starmer, der sich monatelang weigerte, trotz wachsenden Unmuts innerhalb der Partei für einen Waffenstillstand in Gaza einzutreten. Dass der Labour-Vorsitzende zögert, die israelische Kriegsführung zu verurteilen, lässt bereits ahnen, dass er als Regierungschef eine strikt „atlantische“ Außenpolitik betreiben wird.

Starmer hat bei seinem politischen Aufstieg vom Zusammenbruch des konservativen Lagers profitiert, aber ihm kam noch eine andere Entwicklung zugute: die selbstverschuldete Implosion der Scottish National Party (SNP), die seit 2007 in Edinburgh ­regiert.

Am 30. April trat der SNP-Vorsitzende Humza Yousaf als schottischer Regierungschef (First Minister) nach nur 13 Monaten im Amt zurück. Yousaf war der Wunschkandidat seiner Vorgängerin Nicola Sturgeon, die zehn Jahre lang sowohl der SNP als auch der schottischen Regierung vorgestanden hatte. Als die Leitfigur Sturgeon, die der SNP zu vielen Wahlsiegen verholfen hatte, im März 2023 ihre Ämter aufgab, verfiel die nationalistische Bewegung in Schockstarre.

Die Regierungschefin war zum Opfer ihrer eigenen Erfolge geworden. Während ihrer Amtszeit hatte das erklärte Ziel eines unabhängigen Schottlands – die Raison d’être der SNP – mit 58 Prozent ein Rekordniveau erreicht. Als Sturgeon dann aber von der Regierung in London ein Gesetz über ein neues Unabhängigkeitsreferendum einforderte, holte sie sich mehrmals eine Abfuhr. Am Ende entschied das Oberste Gericht des Vereinigten Königreichs, dass eine Sezession Schottlands ohne Zustimmung der Londoner Institutionen rechtlich unmöglich sei.

Diese Entscheidung verriegelte den letzten verfassungskonformen Weg in die schottische Unabhängigkeit. Aber auch Sturgeon geriet damit in eine persönliche Sackgasse, denn die SNP-­Stra­te­gie der „Risikobegrenzung“ war ihre Erfindung. Diese beruhte auf der Vorstellung, dass sich Schottland ­etappenweise aus der 300 Jahre alten Union mit England lösen könnte, ohne größere politische Turbulenzen zu riskieren.

Und es gab einen weiteren Grund, warum Sturgeon mit ihrem Rückzug die SNP in eine tiefe Krise stürzte. Kurze Zeit später, am 5. April 2023, wurde ihr Ehemann Peter Murrell, der ehemalige Generalsekretär der Partei, im Zusammenhang mit Ermittlungen zur Finanzierung der SNP-Wahlkämpfe vorübergehend festgenommen. Zwei Wochen später wurde auch Colin ­Beattie, der Schatzmeister der Partei, verhaftet. Im Juni 2023 holte die Polizei Stur­geon selbst zum Verhör ab. Gegen Murrell läuft seit April 2024 ein Verfahren wegen Unterschlagung von Parteispenden; gegen Sturgeon und Beattie aber nicht.

Shitlist der drohenden Krisen

Der Rücktritt von Sturgeons Nachfolger Yousaf hatte einen anderen politischen Hintergrund. Der ehemalige Gesundheitsminister hat es nicht geschafft, die SNP zu stabilisieren. Stattdessen verfiel er nach den Ermittlungen gegen Sturgeon und andere Parteispitzen. Er begann zentrale politische Gesetzesinitiativen zu schreddern, einschließlich einiger groß angekündigter umweltpolitischer Reformen.

Diese Kehrtwende belastete das Verhältnis der SNP zu ihrem Junior-Regierungspartner, den Scottish Greens. Als Yousaf im April 2024 den Koalitionsvertrag mit den Grünen aufkündigte, den Sturgeon drei Jahre zuvor ausgehandelt hatte, entzogen die Grünen dem Regierungschef ihre parlamentarische Unterstützung. Damit war die Pro-Unabhängigkeits-Koalition geplatzt. Anfang Mai erklärte der völlig überforderte Yousaf seinen Rücktritt. Obwohl die SNP noch immer den Abgang von Nicola Stur­geon zu verdauen hatte, war sie abermals zur Wahl eines neuen Parteivorsitzenden gezwungen.

Dies Mal traf es John Swinney. Der hatte schon zwischen 2000 und 2004 als – relativ erfolgloser – SNP-Vorsitzender gedient und zwischen 2007 und 2023 mehrere Ministerposten bekleidet. 2014 hatte Sturgeon den konservativen und zurückhaltend auftretenden Swinney zum stellvertretender First Minister berufen. Doch der allgemein respektierte Elder Statesman der Unabhängigkeitsbewegung hat wie Yousaf die Erblast der Sturgeon-Ära zu schultern: eine verworrene Kombina­tion aus finanziellen Unstimmigkeiten, innerparteilichen Streitereien und konstitutioneller Blockade.

Damit hat die SNP – die seit 2007 durchgehend an der Macht ist – ihre Aura der dominierenden Partei eingebüßt. Diese politische Leerstelle konnte Labour besetzen. Die Partei des überzeugten Unionisten Starmer verfügt erstmals seit einem Jahrzehnt über eine klare Mehrheit, nämlich über 37 der 57 schottischen Sitzen im britischen Unterhaus. Zudem konnte Labour sogar alle sechs Sitze der SNP-Hochburg Glasgow zurückgewinnen.

Merkwürdigerweise scheint das Labour-Comeback in Schottland jedoch das Streben nach Unabhängigkeit keineswegs zu schwächen. Die Forderung wird noch immer von rund 50 Prozent der Wählerschaft unterstützt. Der Bestand des Vereinigten Königreichs scheint also mitnichten garantiert, wobei allerdings bislang unklar ist, wie der politische Prozess hin zu einer Auflösung der Union aussehen könnte.

Seit den nordirischen Parlamentswahlen vom Mai 2022 ist die stärkste Partei im Belfaster Parlament die republikanische Sinn Féin.11 Die hat am 4. Juli von den 18 nordirischen Wahlkreisen sieben erobert und ist damit auch in Westminster die stärkste nord­iri­sche Kraft.

In Wales ist Labour zwar immer noch die stärkste Partei im Parlament (der Senedd Cymru), aber auch hier gewinnt die Idee der Unabhängigkeit langsam an Boden. Im Januar 2024 hat eine von der Regierung in Cardiff berufene Kommission die Übertragung weiterer Rechte auf die Senedd für möglich erklärt und die Eigenständigkeit von Wales als „umsetzbar“ (­viable) bezeichnet, wenn auch nicht empfohlen.12

Die Labour Party ist also nach mehr als 14 Jahren zurück an der Macht. Dabei dürfte die Ablösung von zwei zunehmend diskreditierten Regierungsparteien – der Tories in England und der SNP in Schottland – die leichtere Etappe gewesen sein. Weit schwerer wird die Aufgabe, das Land nach dem 4. Juli zu regieren.

Rachel Reeves, designierte Schatzkanzlerin der Regierung Starmer, hat einen Plan zur „Wiederbelebung“ der britischen Wirtschaft vorgelegt, der einerseits eine neue „strategische Partnerschaft“ zwischen dem Staat und dem privaten Sektor vorsieht, andererseits einen nationalen Vermögensfonds, um massive Investitionen in den industriell rückständigsten Regionen des Landes voranzutreiben. Doch mahnende Stimmen weisen darauf hin, dass die von Labour angekündigten Staatsausgaben die Schäden nicht ausgleichen können, die das jahrelange Austeritätsregime hinterlassen hat.

Eine anders gelagerte Kritik hat das unabhängige marktradikale Insti­tute for Fiscal Studies (IFS) vorgebracht: Kurz vor den Wahlen wurde in einem IFS-Report moniert, dass sowohl Labour als auch die Konservativen in ihren Ausgabenplänen „scharfe reale Einsparungen vorsehen, ohne zu sagen, wo genau diese vorgenommen werden sollen oder wie man sie erreichen will“. Also handelten beide Parteien unaufrichtig, weil sie über die „Unvermeidlichkeit künftiger Kürzungen“ schweigen.13

Demgegenüber machte Reeves geltend, bei einer Labour-Regierung werde die Notwendigkeit fiskalischer Einsparungen dank eines größeres Wirtschaftswachstums entfallen. Diese Argumentation wird allerdings durch die Haltung der Partei zur Brexit-Frage geschwächt, denn Starmer beteuert immer wieder, mit ihm werde es „keinen Weg zurück“ in den Europäischen Binnenmarkt und in die Zollunion mit der EU geben.

Prominente britische Wirtschaftswissenschaftler haben konstatiert, die nach 2020 errichteten Handelsbarrie­ren zur Europäischen Union würden die Investitionen in Großbritannien „abwürgen“. Und der Ökonom Dimi­tri Zenghelis von der London School of Economics (LSE) sagte Ende Juni, nur die Rückkehr in den Binnenmarkt könne die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes merklich verbessern.14 In dieselbe Richtung weist ein Report von Cambridge Econometrics vom Januar 2024. Nach Schätzung des Beraterunternehmens würde das britische Bruttoinlandsprodukt ohne den Brexit heute um 140 Milliarden Pfund höher ausfallen.15

Eine neue Labour-Regierung wird wahrscheinlich sicherheitspolitische Argumente – sprich Russland und den Ukrainekrieg – ins Feld führen, um eine langsame Reintegration des Landes in die europäischen Entscheidungsstrukturen zu begründen. Doch das Thema eines formalen Wiedereintritts in die EU wird sie wohl noch längere Zeit nicht anfassen.

Bis dahin wird sich Labour mit den Hinterlassenschaft der Konservativen herumschlagen müssen. Wie man hört, hat Starmers Chefberaterin Sue Gray bereits eine Shitlist der drohenden innenpolitischen Krisen erstellt, die ihren Boss in Downing Street 10 vom ersten Tag an unter Stress setzen werden.

Diese Liste ist lang: bankrotte Kommunen, überfüllte Gefängnisse, die chronische Unterfinanzierung des NHS, die Dauerstreiks des Eisenbahnpersonals und der Ärztinnen und Ärzte in den NHS-Einrichtungen; und nicht zuletzt der drohende Kollaps des mit 15,6 Milliarden Pfund verschuldeten Privatunternehmens Thames Water, das rund 15 Millionen Menschen im englischen Südosten mit Wasser versorgt.

All diese Probleme werden den politischen Spielraum der Starmer-Regierung von Beginn an einschränken. Dabei hat der neue Premier immerhin einen Vorteil: Die Tories haben das Land in einem erschöpften und chaotischen Zustand hinterlassen. Da kann es Labour wohl kaum schlechter machen.

1 „The devastating cost of austerity on health across the UK“, University of Glasgow, 31. Mai 2022.

2 Peter Walker, „Two-child benefit cap is ‚key driver of child poverty‘ in UK, research suggests“, The Guar­dian, 6. Juni 2024.

3 Siehe, „Großbritannien aus den Fugen“, LMd, Oktober 2022.

4 Diese Zahl beziffert die Differenz zum Durchschnitt der öffentlichen Investitionen aller G7-Länder; siehe: George Dibb und Luke Murphy, „Now is the time to confront UK’s investment-phobia“, IPPR, 20. Juni 2023.

5 Sam Knight, „What have fourteen years of Conservative rule done to Britain?“, The New Yorker, 25. März 2024.

6 Martin McKee u. a., „Weakened by a decade of austerity: Why the UK’s Covid-19 inquiry is right to look at policies since 2010“, in: British Medical Journal, Bd. 381, Nr. 8388, 2023.

7 „UK has internationally low confidence in political institutions, police and press“, King’s College London News Centre, 30. März 2023.

8 Matthew Smith, „Rishi Sunak now less popular than Corbyn and Johnson ever were“, YouGov, 21. Juni 2024.

9 Josh Holder, „How support for Britain’s Conservative Party is collapsing“, The New York Times, 24. Juni 2024.

10 Corbyn tritt in seinem alten Londoner Wahlkreis Islington North als unabhängiger Kandidat an.

11 Siehe Daniel Finn, „Zwei Länder, eine Partei“, LMd, Juni 2022.

12 Gareth Lewis und Adrian Browne, „Welsh independence: Leaving UK is viable, says new report“, BBC News, 18. Januar 2024.

13 Morgan Jones, „IFS: ‚Sharp cuts‘ likely under Labour to justice system and further education“, LabourList, 23. Juni 2024.

14 Toby Helm und Phillip Inman, „Starmer’s growth plan ‚doomed‘ without access to EU markets, warn economists“, The Guardian, 22. Juni 2024.

15 „London’s economy after Brexit: Impact and implications“, Cambridge Econometrics, Januar 2024.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Jamie Maxwell ist Journalist und Autor. Er lebt in Glasgow.

© LMd, London; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Jamie Maxwell