11.07.2024

Melonis Kulturkampf

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Melonis Kulturkampf

Italien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Starautor Roberto Saviano wurde aus der Delegation ausgeschlossen – wohl aus politischen Gründen. Kein Einzel­fall, zeigt ein Blick auf die Kulturpolitik der Postfaschisten.

von Antoine Pecqueur

„Wer ist hier ein Faschist?“ Mural von Harry Greg in Rom picture alliance/IPP
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Gennaro Sangiuliano, Jurist, Journalist und Ex-Medienfunktionär in der öffentlichen Rundfunkanstalt RAI, ist seit 2022 italienischer Kulturminister und einer der engsten Vertrauten von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Schon als Jugendlicher war der gebürtige Neapolitaner in der Fronte della gioventù aktiv, der Jugendorganisation des 1995 aufgelösten neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI). Jetzt will er unter Meloni eine rechtsextreme Kulturpolitik in Italien etablieren.1

Am 17. März reiste Sangiuliano in seine Heimatstadt. Es herrschte Festtagsstimmung, denn es war der Tag der nationalen Einheit Italiens. Doch das war gar nicht der Anlass seines Besuchs. Er war nur da, um im Palazzo Reale die Retrospektive „Tolkien. ­Uomo, Professore, Autore“ zu eröffnen, die von seinem Ministerium maßgeblich finanziert wurde.

Die im Gegensatz zu ihren imposanten Schauplätzen eher unspektakuläre Wanderausstellung startete am 16. November 2023 in der römischen Nationalgalerie für Moderne Kunst – eröffnet von der Regierungschefin höchstpersönlich. Meloni ist ein großer Fan des britischen (und katholischen) Schriftstellers – wie übrigens Italiens gesamte rechtsextreme Szene schon seit den 1970er Jahren, nachdem die ersten Tolkien-Übersetzungen erschienen waren.2 So erklärt sich auch der Duktus der Ausstellungstexte, in der beispielsweise „die im christlichen Glauben verwurzelte Schönheit von ‚Herr der Ringe‘ “ gerühmt wird.

„Die Regierung besetzt die kulturellen Räume, um ihre Ideologie durchzusetzen. Die Kultur wird zur Kampfzone“, erklärt der Theaterregisseur Romeo Castellucci. Im Nachhinein betrachtet, war es wohl mehr als nur eine geschmacklose Bemerkung, als Giorgia Meloni vor ein paar Jahren über den international gefeierten Castellucci sagte, er gehöre zu jenen „selbsternannten Künstlern, die die Symbole des Christentums beleidigen“.3

Der Reisereporter und Schriftsteller Paolo Rumiz – seine Bücher erscheinen in deutscher Übersetzung im Wiener Verlag Folio – vergleicht das Treiben der Regierung mit Mussolinis Marsch auf Rom 1922: „Die Regierung kapert die Museen und das Fernsehen, um ihren Nationalismus zu verbreiten.“

Dass die Meloni-Regierung die Führungsposten in Italiens großen Kul­tur­ein­richtungen mit Kandidaten ihres Vertrauens besetzt, ist an sich nichts Besonderes. Nicola Lagioia, der frühere Leiter der wichtigen Turiner Buchmesse, ärgert sich jedoch darüber, dass es überhaupt nicht mehr darum geht, ob sie kompetent sind; sie sollen vor allem „politisch auf Linie“ sein. So ernannte Meloni nicht etwa eine Persönlichkeit mit internationalem Renommee zum neuen Präsidenten der Kunstbiennale in Venedig, sondern ihren Freund Pietr­an­ge­lo Buttafuoco, der früher im MSI aktiv war.

Der in Italien als Romanautor, Journalist und TV-Moderator bekannte Sizilianer gilt als „unberechenbar und unkonventionell“.4 Er ist zum Islam konvertiert, weil „die Identität Siziliens eindeutig islamisch ist“, und schreibt manchmal für die Tageszeitung La Repubblica, womit er sowohl seine Anhängerschaft als auch Gegner irritiert. Bislang hat Buttafuoco kein einziges Interview dazu gegeben, was er in Zukunft mit der Biennale vorhat, dessen diesjährige Ausführung noch von seinem Vorgänger konzipiert wurde. Auf unsere Anfrage kam nur die wolkige Antwort, er befände sich gerade in einer Phase „produktiver Stille“.

Kulturminister Sangiuliano scheint sich ohnehin nicht so sehr für Venedig zu interessieren. Neapel, Hauptstadt der Region Kampanien, die vom Partito Democratico (PD) regiert wird, ist ihm wichtiger. Um den ausländischen Intendanten des Opernhauses Teatro San Carlo, den Franzosen Stéphane Lissner, loszuwerden, verabschiedete die Regierung Meloni sogar extra ein Dekret, mit dem eine Altersgrenze von 70 Jahren für Operndirektoren eingeführt wurde. Lissner ist Jahrgang 1953. „Eine dumme Entscheidung“, meint der Soloklarinettist Luca Sartori: „Bevor Lissner kam, hatte die Oper nur eine regionale Ausstrahlungskraft. Heute treten bei uns die größten Stimmen auf.“

Lissner klagte, das Arbeitsgericht von Neapel erklärte das Dekret für rechtswidrig, und die Absetzung des Intendanten musste zurückgenommen werden. Für die Museen allerdings sind keine Dekrete vonnöten. Durch die Reform des früheren Kulturministers Da­rio Franceschini, der 2014 die Direktorien der großen Museen für Bewerbungen aus dem Ausland geöffnet hatte, wurden zahlreiche ausländische Direktoren ernannt, die bis Dezember 2023 aber das Ende ihrer zweiten und damit letzte Amtszeit erreicht hatten.

Die von Franceschini eingeführte Regelung ist zwar weiter in Kraft, aber de facto wurden unter Sangiuliano alle vakanten Museumsleitungen bislang ausschließlich mit Italienern besetzt. Zudem wurden in den letzten zwei Jahren auch in anderen wichtigen Kultureinrichtungen die Führungsposten ausschließlich an Männer vergeben.

Der Brite James Bradburne, der in seiner achtjährigen Amtszeit das Museumskonzept der Pinacoteca di Brera in Mailand revolutioniert hat, wurde durch Angelo Crespi ersetzt, den ehemaligen Berater des Kulturministers in der Berlusconi-Ära. Und im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel wurde der Franzose Sylvain Bellenger vom ehemaligen Direktor der Uffizien in Florenz, Eike Schmidt, abgelöst, der seit Ende 2023 die italienische Staatsbürgerschaft besitzt.

Der in Deutschland geborene Schmidt ließ sich jedoch gleich wieder freistellen, um bei den Kommunalwahlen für das Bürgermeisteramt von Florenz zu kandidieren – mit Unterstützung von Melonis rechter Regierung, für deren kulturpolitische Linie er vollstes Verständnis hat: „In Italien wurde die Oper geboren. Es ist besorgniserregend, wenn ausländische Direktoren diese Institution übernehmen.“ Schmidt wurde bei den Stichwahlen am 23. Juni von der PD-Kandidatin Sara Funaro deutlich geschlagen, die nun als erste Frau die toskanische Hauptstadt regieren wird.5

Im Januar demonstrierten in Rom 300 Menschen gegen die Berufung von Luca de Fusco zum Generaldirektor und künstlerischen Leiter der Stiftung Teatro di Roma, die vier Bühnen verwaltet. Der Regisseur ist unter anderem wegen seines autoritären Führungsstils umstritten. Hinzu kommt, dass seine Ernennung unter fragwürdigen Umständen zustande kam, weil bei der entscheidenden Vorstandssitzung weder der Stiftungspräsident noch die Vertreterin der aktuell PD-regierten Hauptstadt anwesend waren.

An dem Protestzug in Rom nahmen vor allem Künst­le­rinnen und Künstler teil, wie die Schauspielerin Sonia Bergamasco. Sie erhalte in der Öffentlichkeit viel Unterstützung, erzählt sie: „Leute sprechen mich auf der Straße an und ermutigen uns zu kämpfen.“ Doch sie macht nicht nur die Meloni-Regierung für die römische Theaterkrise verantwortlich; die Linke habe ebenfalls dazu beigetragen.

Auch der Regisseur Castellucci beklagt „eine schon seit Langem erstarrte Kultur“ und dass den zeitgenössischen Künst­le­r:in­nen viel zu wenig Raum gegeben werde. Ex-Kulturminister Dario Franceschini stimmt ihm zu: „Als ich mein Amt antrat, habe ich eine Direktion für zeitgenössische Kunst eingerichtet. So etwas gab es bis dahin nicht.“

Die jüngsten Entscheidungen der Regierung passen zu dem kulturellen Niedergang, der schon seit Jahrzehnten zu beobachten ist. „Nach dem Krieg galt Kultur in der Politik noch als Mittel der gesellschaftlichen Emanzipa­tion“, erklärt der Komponist Filippo Del Corno, der einmal Kulturstadtrat in Mailand war und 2021 von Enrico Letta zum Kulturbeauftragten des PD ernannt wurde: „Unter Aldo Moro wurde 1974 das Kulturministerium geschaffen. Aber danach ging es bergab.“

Der Filmproduzent Roberto Cicutto, bis vor Kurzem noch Präsident der Kunstbiennale in Venedig, verweist etwa darauf, wie „in den Berlusconi-Jahren im audiovisuellen Bereich unglaublich viel produziert wurde, aber die Qualität dramatisch abnahm.“ Seit der im vergangenen Jahr verstorbene Medienunternehmer Berlusconi 1994 zum ersten Mal Ministerpräsident wurde, hat auch die staatliche Rundfunkanstalt RAI immer mehr auf seichte Unterhaltung gesetzt und ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag der politischen Aufklärung vernachlässigt.

Meloni hat gleich nach ihrem Amtsantritt Nägel mit Köpfen gemacht. Angesehene Moderator:innen, die den Sender verließen, wurden durch regierungsnahe Leute ersetzt. Heute wird die RAI von ihrem Parteifreund Giampaolo Rossi geleitet – einem Verschwörungstheoretiker, der zu einer drastischen Wortwahl neigt. So beschimpfte er etwa Staatspräsident Mattarella als „Dracula“, als dieser während der Pandemie für die Impfkampagne warb.

Bezeichnend für die neuen Machtverhältnisse war auch die Reaktion der Moderatorin Mara Venier im Interview mit dem Rapper Dargen D’Amico während des Sanremo-Musikfestivals im Februar. Als D’Amico auf die Vorzüge der Zuwanderung zu sprechen kam, unterbrach sie ihn sofort mit dem Hinweis, dass für solche Themen keine Zeit sei: „Sprechen wir über Musik.“

Ins Bild passt ganz offensichtlich auch nicht Antonio Scurati, der am 25. April, zum Tag der Befreiung Ita­liens vom Faschismus, auf dem dritten Kanal des Staatssenders eigentlich eine Rede halten sollte. Sein Beitrag wurde mit einer fadenscheinigen Begründung kurzfristig aus dem Programm gestrichen. Der Schriftsteller und Me­dien­theo­re­ti­ker hat unter anderem einen vielbeachteten Fortsetzungsroman über Mussolini verfasst.6

Heute beträgt der italienische Kulturetat 3,5 Milliarden Euro. Das sind 0,4 Prozent des Staatshaushalts und im Vergleich zum Vorjahr 124 Millionen Euro weniger. Die Museen leiden unter permanenter Unterbesetzung. Im Museo Nazionale di Capodimonte etwa ist nur ein Konservator für 49 000 Kunstwerke zuständig. Die Gehälter im Kulturbereich sind bescheiden. „Ich verdiene ungefähr 2000 Euro brutto“, erzählt Luca Sartori vom Teatro San Carlo in Neapel, „die Hälfte von dem, was meine Kollegen in französischen oder deutschen Orchestern bekommen.“ Im vergangenen Oktober haben die Beschäftigten von Italiens 13 Opernhäuser aus Protest gegen die schlechten Arbeitsbedingungen gestreikt.

Im Gegensatz zu ihrer erzwungenermaßen anfangs eher konsensorientierten Außenpolitik verfolge Meloni in der Kulturpolitik einen unmissverständlich faschistischen Kurs, erklärt der Journalist Gianni Riotta. Wie unter Mussolini würden die Künste für ein nationalistisches Narrativ eingespannt und missbraucht. So bezeichnete Kulturminister Sangiuliano auf einer Parteiversammlung im Januar den Dichter der „Göttlichen Komödie“, Dante Alighieri, als „Begründer der rechten Denkschule Italiens“. Dante sei bereits von den Faschisten vereinnahmt worden, erklärt der Literaturhistoriker Giorgio Inglese. In den ersten Gesang der Hölle interpretierten sie etwa Mussolinis Ankunft hinein.

Der Philosophiehistoriker und Autor Paolo Pecere erinnert an die 1980er Jahre, als „die faschistischen Gruppen, in denen Giorgia Meloni verkehrte, das Werk Tolkiens für sich entdeckten und die MSI-Jugend Hobbit-Camps organisierte“. Tolkiens religiöser Ehrenkult ersetzte den offiziell verpönten Mussolini-Kult.

Die Tolkien-Ausstellung stößt indes nur auf mäßiges Interesse. Aber die Regierung hat noch andere Projekte: In Bologna zum Beispiel will Sangiuliano ein „Museo dell’Italianità“ einrichten – auch diesen Begriff hat das Mussolini-Regime popularisiert. Und in Rom ist ein Gedenkstätten-Museum geplant für die Opfer der „Foibe-Massaker“: Zwischen 1943 und 1945 töteten jugoslawische Partisanen hunderte Repräsentanten des faschistischen Regimes und italienische Zivilisten und warfen deren Leichen in die örtlichen Karsthöhlen (Italienisch: foibe).7

Staatssekretär im Kulturministe­rium wurde nach dem Antritt der Meloni-Regierung im Oktober 2022 Vittorio Sgarbi. Dem halbseidenen Kunstkritiker werden Verbindungen zur Mafia nachgesagt. Im Februar dieses Jahres musste er jedoch zurücktreten, nachdem er wegen bezahlter Vorträge (Regierungsmitglieder dürfen kein Honorar annehmen) und der mutmaßlichen Verstrickung in einen Gemäldediebstahl ins Visier der Justiz geraten war.8

In seiner römischen Wohnung redet sich Sgarbi in Rage: „Sangiuliano führt schwachsinnige Reden, um eine rechte Kultur zu erfinden. Er will die intellektuelle Klasse ersetzen, aber das ist eine Mission impossible! Man muss den Menschen die Freiheit lassen, zu denken, was sie wollen.“ Er führt uns auf seine Dachterrasse und richtet den Kegel seiner Taschenlampe auf die Kuppel der Kirche Sant’Ivo alla Sapienza: „Sehen Sie sich dieses Meisterwerk von Borromini an! Italien war damals keine Demokratie, aber es hat seinen Künstlern kreative Freiheit gewährt.“

Diese Kombination aus Demokratieverachtung und Vergangen­heits­ver­klä­rung spiegelt sich auch in seiner Ausstellung „Arte e fascismo“, die Sgarbi als Leiter des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst von Trient und Rovereto (Mart) initiiert und am 14. April eröffnet hat.

1 Gennaro Sangiuliano stand für ein Interview nicht zur Verfügung.

2 Siehe Francesca Polistina, „Tolkien-Ausstellung in Rom. Das Nichts, das sind die anderen“, taz, 2. Dezember 2023.

3 Paolo Trentini, „L’ira della Meloni: ‚Che schifo il teatro di Castellucci‘ “, 2. April 2016, www.giornaletrentino.it.

4 Siehe Rachel Donadio, „Meloni’s Cultural Revolution“, New York Review of Books, 6. Juni 2024.

5 Auch in Bari (Apulien), Potenza (Basilikata) und Perugia (Umbrien) gewannen im Juni die Kan­di­da­t:in­nen des Mitte-links-Lagers. Siehe Michael Braun, „Meloni-Lager wird abgestraft“, taz, 24. Juni 2024.

6  Auf Deutsch erschienen bei Klett-Cotta: „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ (2020), „M. Der Mann der Vorsehung“ (2021) und „M. Die letzten Tage von Europa“ (2023).

7 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Triest und sein Gestern. Widerstreitende Erinnerungen im Grenzgebiet von Italien, Kroatien und Slowenien“, LMd, September 2023.

8 Siehe Angela Giuffrida, „Italian minister accused of possessing painting stolen from castle“, Guardian, 10. Januar 2024.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Antoine Pecqueur ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Antoine Pecqueur