13.06.2024

Offiziell illegal

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Offiziell illegal

Wie Frontex die Pushbacks der griechischen Küstenwache vertuscht

von Tommy Olsen und Rory O'Keeffe

Die Überlebenden von Pylos am 16. März 2024 in Athen: „Die 600 ertrunkenen Flüchtlinge haben Namen!“NIKOLAS GEORGIOU/picture alliance/zuma press
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Am Nachmittag des 25. Januar 2024 wurde ein Schlauchboot mit 38 afghanischen Geflüchteten an Bord vor der Nordküste von Lesbos von zwei Schiffen der griechischen Küstenwache (HCG) gestoppt und in türkisches Hoheitsgebiet zurückgedrängt.1

Die lettische Besatzung eines Patrouillenboots, das im Dienst der EU-Grenzschutzagentur Frontex in den Gewässern unterwegs war, wurde Zeuge dieser illegalen Pushback-Aktion und unternahm – nichts.

Nach einer kurzen Verfolgungsjagd enterte ein griechischer Offizier das Boot und demolierte den Motor mit einem Knüppel. Danach wurde das manövrierunfähige Boot von der griechischen Küstenwache zurück in türkische Gewässer gezogen. Dort trieb es einige Stunden lang im Meer, bis die türkische Küstenwache kam und die Menschen wieder an Land brachte.

Auf den Videos, die die Flüchtlinge gemacht haben und die von „­Aegean Boat Report“ verbreitet wurden, sind drei Schiffe zu sehen: ein weißes zweimotoriges Schnellboot, ein HCG-­Pa­trouil­len­boot vom Typ Lambro 57 sowie das lettische Schiff mit der Kennung RK-30, das im Rahmen der Frontex-Mission „Poseidon“ auf Lesbos stationiert ist.

Die Letten hätten eigentlich einen Bericht anfertigen müssen. Gemäß der EU-Verordnung 2019/1896 und dem Frontex-Verhaltenskodex muss jedes Ereignis gemeldet werden, bei dem Anzeichen beziehungsweise Verdachtsmomente auf Verstöße gegen interna­tio­nales Recht oder fundamentale Menschenrechte vorliegen.

Wohlgemerkt: Nicht erst, wenn solche Verstöße bewiesen sind, sondern schon, wenn sie möglicherweise begangen wurden. In diesem Fall ist ein sogenannter Serious Incident Report (SIR) an die Warschauer Frontex-Zentrale fällig. Dass die HCG am 25. Januar einen illegalen Pushback begangen hat, lässt sich angesichts der Fakten schwerlich anzweifeln. Doch merkwürdigerweise hat der lettische Frontex-Kapitän keinen SIR übermittelt. Über die Gründe können wir nur spekulieren.

Seit 2020 haben unsere Mit­ar­bei­te­r:in­nen immer wieder Fälle dokumentiert, bei denen Frontex-Schiffe in Pushbacks verwickelt oder deren Mannschaften zumindest Augenzeugen waren.2 Insgesamt haben wir in der Ägäis in den letzten vier Jahren rund 3000 Pushbacks erfasst, bei denen die Griechen 82 000 Personen zurück in die Türkei geschickt haben. In diesem Zeitraum war Frontex in der Ostägäis mit einem tausendköpfigen Personal, mit hunderten Schiffen, mit Beobachtungsflugzeugen und Hightechgeräten präsent – finanziert aus europäischen Steuergeldern in Milliardenhöhe.3

Angesichts derartiger Investitionen in die Grenzüberwachung sollte man erwarten, dass die Frontex-Missionen nicht nur über die Menschen berichten, die Europa zu erreichen versuchen, sondern auch über diejenigen, die auf illegale Weise aus Europa „abtransportiert“ wurden.

Frontex informiert die griechische Küstenwache tagtäglich über Boote, die über die Ägäis nach Europa zu gelangen versuchen. Das zeigt, dass sie zumindest eine gewisse Kontrolle oder jedenfalls Kenntnisse über das Geschehen in diesem Seegebiet hat. Dass die Frontex-Mitarbeiter über die griechischen Pushbacks nicht berichten, mutet merkwürdig an – als würden sie Menschenrechtsverletzungen bewusst kaschieren, um sicherzustellen, dass die Agentur weiterhin in Griechenland operieren kann.

Damit stellen sich mehrere Fragen: Bei wie vielen der 3000 Pushback-Fälle der letzten vier Jahre wurden Frontex-Leute zu Zeugen? Und wenn sie nichts mitbekommen haben, wozu sind sie dann da? Warum sollen wir Personal und Ausrüstung einer Frontex-­Mis­sion finanzieren, wenn sie Vorfälle übersieht, die in ihrem Einsatzbereich stattfinden?

Seit Beginn der „Poseidon“-­Mis­sion haben Frontex-Offiziere lediglich drei „Serious Incident Reports“ eingereicht. Aber kann es wirklich sein, dass sie von den von uns dokumentierten Pushbacks nur 0,1 Prozent mitbekommen haben sollen? Natürlich verstehen wir, dass sie nicht alles sehen können. Aber man sollte doch erwarten, dass sie in der Lage sind, die Boote zu sehen, die ihre Überwachungszone verlassen – denn offensichtlich ist es ihnen ja auch möglich, die in griechischen Gewässern ankommenden Boote zu entdecken, die sie regelmäßig der griechischen Küstenwache melden.

Das heißt, Frontex deckt nicht nur systematisch griechische Menschenrechtsverletzungen, sondern ist auch direkt an Pushback-Aktivitäten in griechischen Gewässern beteiligt. Dass Frontex systematisch Pushbacks der HCG ignoriert hat, stand auch schon in dem Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (Olaf) vom Februar 2022. Deswegen musste im April 2022 ja auch der Frontex-Direktor Fa­brice Leggeri zurücktreten.4

Damals haben wir mit grundlegenden Veränderungen gerechnet. Als der neue Direktor Hans Leijtens im April 2023 sein Amt antrat, versprach er, das Vertrauen in die Agentur wiederherzustellen, deren Mitglieder laut dem Olaf-Bericht bei illegalen Pushbacks an mehreren EU-Außengrenzen weggeschaut haben.

Wie Leijtens erklärte, wolle er sicherstellen, dass sämtliche Frontex-­Mit­ar­bei­te­r:in­nen innerhalb „des gesetzlichen Rahmens“ agieren. Er wolle persönlich garantieren, „dass meine Leute sich an keinerlei Praktiken beteiligen, die man Pushbacks nennt“. Und er versprach drei Grundsätze durchzusetzen: Rechenschaftspflicht, Achtung grundlegender Rechte und Transparenz.

In allen drei Bereichen hat Hans Leijtens kläglich versagt. Er hat keinerlei größere Veränderungen durchgesetzt. Bestenfalls ist er eine Marionette an den Strippen der EU-Kommission, eine schlechte Kopie seines Vorgängers Fabrice Leggeri, vielleicht neu verpackt, aber mit demselben Inhalt. Nun stellt sich die Frage, ob der verantwortungsbewusste Leijtens auch die volle Verantwortung für die illegalen Aktionen von Frontex-Offizieren bei der „Poseidon“-Mission übernimmt und zurücktritt.

Noch wichtiger ist allerdings die Frage, wann die EU-Kommission endlich ihre Verantwortung dafür wahrnimmt, dass in Europa die rechtsstaatlichen Prinzipien und die fundamentalen Menschenrechte eingehalten werden. Die Kommission hatte damals die Publikation des Olaf-Berichts zunächst verweigert.

Dass die Öffentlichkeit überhaupt davon erfahren hat, liegt allein daran, dass der vertrauliche Bericht an die Presse durchgestochen wurde. Drei Monate bevor Der Spiegel und Le Monde am 13. Oktober 2022 den Bericht öffentlich machten, hatte sich der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas geweigert, die Frage zu beantworten, ob er den Olaf-Report gelesen hat, der ihm bereits seit Monaten vorlag.

Der griechische Politiker entstammt dem Lager der Regierungspartei Nea Dimokratia, die der HCG den Befehl für die Pushback-Aktionen der letzten vier Jahre gegeben hat. In seiner Rolle als Kommissar für „die Förderung des europäischen Lebensstils“ hat Schinas unter anderem die Praktiken von Frontex zu verantworten. Zu seinen Aufgaben gehört zuallererst, Untersuchungsberichte über eine von ihm beaufsichtigte Agentur zu lesen, wenn sie ihm von der Watchdog-Behörde der EU vorgelegt werden. Schinas hat nie bestritten, dass der Olaf-Report der Wahrheit entspricht. Was ohnehin unhaltbar gewesen wäre.

Nachdem die Kommission zu Recht Leggeri zum Rücktritt gezwungen hatte, erklärte dieser in einem später veröffentlichten Brief, er sei bei seinem Amtsantritt wie folgt instruiert worden: Frontex habe als einheitliche Grenzkontrolltruppe den Auftrag, Menschen, die sich in Sicherheit bringen wollen, den Zutritt zum EU-Territorium zu verwehren.

Doch genau das ist gerade nicht die Mission von Frontex, wie sie offiziell von der Kommission selbst definiert wurde. Und ganz gewiss ist es nicht das, was die Mitglieder des Europäischen Parlaments im Sinn haben, wenn sie das Frontex-Budget verabschieden.

In der Kommission gibt es nur drei Personen, die die Macht haben, dem Frontex-Direktor Anweisungen zu geben: Ylva Johansson, die EU-Kommissarin für Inneres, die wenigstens ab und zu den Anstand hatte, die Pushbacks einzuräumen und zu kritisieren; der schon erwähnte Margaritis Schinas, der leugnet, dass es jemals Pushbacks gegeben hat, und vor seiner EU-Funktion der Partei angehörte, die diese illegalen Aktionen praktiziert.

Und dann natürlich Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, die im März 2020 Griechenland als „Schutzschild der EU“ bezeichnet hat. Und zwar, nachdem die Athener Regierung Soldaten und Bereitschafts­polizisten an die griechisch-türkische Landgrenze geschickt hatte, die mit Gummi­geschossen und Tränengas Männer, Frauen und Kinder davon abhielt, in die Europäische Union zu gelangen.

Bislang hat es noch keinerlei Ermittlungen seitens der Kommission oder einer anderen EU-Instanz über die Vorfälle in der Ägäis gegeben, die einen absoluten Bruch europäischen Rechts darstellen würden. Und zugleich eine Irreführung gewählter EU-Abgeordneter und der europäischen Öffentlichkeit.

Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und zulassen, dass weiterhin gegen internationale Gesetze, den Frontex-Kodex und die Regeln menschlichen Anstands verstoßen wird. Die Kommission muss untersuchen, wie Frontex von dem erklärten Auftrag abweichen konnte und warum die Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Agentur nichts dabei finden, ihre eigenen Regeln zu brechen.

Und sie muss rechtliche Verfahren gegen die griechischen Instanzen eröffnen: wegen systematischer und anhaltender Verletzungen des Völkerrechts und der allgemeinen Menschenrechte. Zudem ist es endlich an der Zeit, Frontex aus Griechenland abzuziehen.

1 Nach den von ABR ermittelten Positionsdaten wurde das Boot etwa 1,5 Kilometer vor der Küste von Lesbos, also klar innerhalb der griechischen Hoheitszone abgefangen.

2 Der jüngste Bericht bezieht sich auf einen Pushback-Fall vom 7. April 2024 vor der Insel Leros, bei der 72 syrische und palästinensische Flüchtlinge, darunter 20 Kinder, in Richtung Türkei zurückgeschleppt wurden. Die laufenden Aegean Boat Reports finden sich unter aegeanboatreport.com.

3 Im Zeitraum 2015 bis 2024 ist das jährliche Frontex-Budget von 142 Millionen auf 922 Millionen Euro angewachsen.

4­ Am 9. Juni gewann Leggeri über die Liste des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) einen Sitz im Europäischen Parlament.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Tommy Olsen leitet die norwegische NGO „Aegean Boat Report“ (ABR), die sich für die Rettung von Bootsflüchtlingen in der Ägäis engagiert. Weil ABR dabei illegale Praktiken der griechischen Küstenwache dokumentiert, wird sie von den Behörden behindert und kriminalisiert.

Rory O’Keeffe ist Journalist.

Der hier abgedruckte Bericht „EU Border Agency Frontex Continues to Cover up Pushbacks From Greece“ wurde am 13. Mai auf der ABR-Webseite veröffentlicht.

© Olsen/O’Keeffe/Aegean Boat Report; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Pushbacks und griechische Justiz

Die griechische Küstenwache (HCG) hatte ihre Pushback-Praktiken, die seit Jahren von NGOs wie „Aegean Boat Report“ dokumentiert werden, seit Sommer 2023 für eine Zeit lang eingestellt. Der Grund war das internationale Medienecho auf die Katastrophe vom 14. Juni 2023, bei der mehr als 600 Bootsflüchtlinge den Tod fanden. Den Untergang des völlig überladenen ägyptischen Fischkutters „Ariadne“ im Ionischen Meer, 75 Kilometer vor der Hafenstadt Pylos an der Südwestküste der Peloponnes, überlebten nur 104 der mindestens 700 Menschen, die im libyschen Tobruk an Bord gegangen waren.

Mehrere Überlebende haben ausgesagt, die HCG habe die „Ariad­ne“ stundenlang begleitet, aber keinerlei Anstalten gemacht, die offensichtlich gefährdeten Passagiere zu retten – wozu sie verpflichtet gewesen wäre, da sich der weitgehend manövrierunfähige Kutter innerhalb der griechischen „Search and Rescue Region“ (SAR) befand. Nach der internationalen SAR-Konvention müssen die zuständigen Küstenländer gefährdete Personen an den nächsten „sicheren Ort“ an Land bringen. Das wäre im Fall der „Ariadne“ die Küste der Peloponnes gewesen.

Die Einsatzleiter der HCG haben geltend gemacht, die Bootsflüchtlinge hätten die angebotene Hilfe verweigert und darauf bestanden, nach Italien weiterzufahren. Das haben Überlebende in Interviews anders dargestellt: Die „Ariadne“ sei gekentert, nachdem das HCG-Schiff versucht habe, sie in Richtung der italienischen SAR-Zone zu schleppen. Ob diese Darstellung zutrifft, müsste eigentlich die griechische Justiz klären.

Die Regierung Mitsotakis hat die juristische Aufarbeitung der „Ariadne“-Katastrophe auf zwei Gerichte verteilt. Vor dem Strafgerichtshof in Kalamata wurden neun Ägypter angeklagt, einer „Schleuserbande“ anzugehören. Doch das Gericht erklärte sich am 21. Mai für nicht zuständig, weil der „Tatort“ außerhalb des griechischen Hoheitsgebiets liege.

Angehörige und Sympathisanten der Ägypter haben die Entscheidung als Erfolg gefeiert. Andererseits hat das Gericht damit verhindert, dass die Angeklagten unter Eid ihre eigene Darstellung der Ereignisse schildern konnten, und die griechische Küstenwache vor belastenden Aussagen geschützt.

Die Verantwortung der HCG wird in einem zweiten Prozess vor dem Griechischen Seegerichtshof untersucht. Doch der hat das Verfahren noch nicht eröffnet, obwohl der Casus für die juristischen Experten ziemlich klar ist. Selbst wenn es zuträfe, dass die Bootsflüchtlinge nicht „gerettet“ werden wollten, war die griechische Küstenwache dazu verpflichtet, sie auch gegen ihren Willen an Land zu bringen, weil sie in akuter Lebensgefahr waren. Das belegen Videos der HCG und der Frontex-­Beobachtungs­flugzeuge, die zeigen, dass die „­Ariadne“ völlig überlastet war und die Menschen an Deck keine Rettungswesten hatten.

Ob die Küstenwache zum Tod der 600 Boatpeople beigetragen hat, wird sich freilich nicht klären lassen. Der Kommandeur des HCG-Schiffs, das die „Ariadne“ stundenlang begleitet hat, teilte noch am Katastrophentag mit, dass die Aufnahmen der hochmodernen Überwachungskameras an Bord nicht gespeichert wurden. Das entspricht der allgemeinen Praxis der griechischen Küstenwache: Mögliche Beweismittel für rechtswidriges Verhalten gegenüber Bootsflüchtlingen werden unterdrückt.

⇥Niels Kadritzke

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Tommy Olsen und Rory O'Keeffe